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Ausgabe:

1931 Nr. 23

Spalte:

539-540

Autor/Hrsg.:

Wendland, Walter

Titel/Untertitel:

Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins 1931

Rezensent:

Gerhardt, Martin

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539

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 23.

540

ein „Verfasser"? Der Herausgeber hat sich bemüht,
für größere Literaturgebiete bewährte und berufene Bearbeiter
heranzuziehen, aber nur in einzelnen Fällen ist
ihm dies gelungen: so etwa beim Mittellatein, bei der
Novellendichtung, bei der Lyrik — und hier erfährt der
Leser auch gelegentlich einmal etwas Neues. Andere
Autoren haben nur einzelne und dann wohl auch besonders
sorgsam behandelte Artikel beigesteuert. Nicht
selten aber war die Redaktion auf Mitarbeiter angewiesen
, die sich kaum die ersten Sporen verdient hatten, und
die denn auch weder im Urteil fest stehn noch Eigenes
zu bieten haben. Und wenn ein nicht unbeträchtlicher
Teil der mittelhochdeutschen Literatur einem holländischen
, ein anderer einem dänischen Fachgenossen anvertraut
wurde, so erblicke ich darin nur ein weiteres Zeugnis
dafür, daß die mittelalterlichen Studien bei uns im
Ganzen zur Zeit nicht auf der Höhe stehn, die zu einem
Unternehmen wie dem vorliegenden hindrängte.

Namen zu nennen und gar einzelne Mitarbeiter zu
kritisieren ist hier nicht der Ort. Im weiteren Fortgang
(über den gelegentlich kurz berichtet werden soll) wird
der Herausgeber darauf hinwirken müssen, daß der
Charakter des „Lexikons" überall gewahrt wird: einige
Herren neigen zum lässigen Räsonnement, ja zu einem
gemütlichen Plaudertone.

Göttingen. Edward Schröder.

Wendland, Walter: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte
Berlins. Berlin : W. de Gruyter & Co. 1930. (VII, 397 S.) gr. 8°.
= Berlinische Forschgn. Texte u. Untersuchgn. im Auftr. d. Ges.
d. Freunde der Dtsch. Akademie hrsg. v. F. Behrend, Bd. 3. RM 18 —.

Mit diesem Werk legt W. eine reife Frucht seiner
langjährigen verdienstvollen Forschungsarbeit auf dem
Gebiete der brandenburgischen Kirchengeschichte vor.
Ein z. T. bisher noch unerschlossenes reiches Quellenmaterial
, vor allem aus dem Berliner Stadtarchiv, dem
Preußischen Geheimen Staatsarchiv und der Magistratsbibliothek
ist herangezogen. Mittelalter und Reformationszeit
v/erden in der Einleitung nur in ganz großen
Zügen behandelt. Erst mit der Epoche des Großen
Kurfürsten beginnt die eigentliche Darstellung, wobei
fast die Hälfte auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts
fällt, deren Linien im 12. Kapitel (1870—1930) bis zur
Gegenwart fortgeführt werden. Besonders wertvolle
Eigenarbeit steckt in den Kapiteln 7 („Neue sittliche
Probleme") und 11 („Kirchliches Leben 1830—1870").
W. gibt damit ein Musterbeispiel für die im Forschungsund
Lehrbetrieb der neueren Kirchengeschichte immer
noch zu sehr vernachlässigte Behandlung der Beziehungen
zwischen der Kirche und dem allgemeinen
Kulturleben. Namentlich zu dem Kapitel Kirche und
soziale Frage wird im Hinblick auf die Berliner Verhältnisse
in ruhiger Objektivität und gewissenhafter Abwägung
des Urteils, ohne die schweren Versäumnisse
der Kirche zu verschweigen (z. B. S. 278 u. 283), viel
neues Material in lebendiger und anschaulicher Darstellung
herbeigetragen.

Die Fülle der von W. behandelten Einzelfragen
macht es begreiflich, daß man ihm nicht überall wird
zustimmen können. Paul Gerhardt z. B. wird gewiß
feinsinnig gewürdigt (S. 79), aber seine überragende
Gestalt hätte doch den Zeitgenossen gegenüber getrost
noch stärker hervorgehoben werden können, und der von
W. versuchte Nachweis, daß die reformierten Berliner
Theologen bedeutender gewesen seien als ihre lutherischen
Kollegen (S. 83 ff.) hat mich nicht ganz überzeugt
. Noch weniger vermag ich dem Urteil über die
Union zuzustimmen (S. 169). Mit Recht betont W.,
daß sie aus der Gedankenwelt der Aufklärung hervorgegangen
ist. Aber war sie wirklich eine „dankenswerte
Gabe"? Hat sie nicht vielmehr dem deutschen Luthertum
fast unheilbaren Schaden zugefügt? Bei der Darstellung
der Erweckungsbewegung (S. 215 ff.) scheint
mir Kottwitz in seiner Führerrolle, die er zweifellos
unter den Berliner Erweckten gehabt hat, nicht hinreichend
gewürdigt zu sein. Ein weiterer nicht unwichtiger
Gesichtspunkt, den ich hier vermisse, ist der, daß
die Führer der erweckten Kreise gegenüber der Aufklärung
und dem Idealismus nachweislich bewußt von
Luther gelernt haben. W. hebt richtig hervor, wie verhältnismäßig
gering die durchschnittliche Lutherkenntnis
der Berliner Theologen noch beim Reformationsjubiläum
des Jahres 1817 gewesen ist (S. 171). Das wird anders
in der Erweckungsbewegung, und darin liegt ein
Grund ihrer Kraft.

Aber diese kritischen Randbemerkungen vermögen
in nichts den Dank zu verringern, den wir dem Ver-
' fasser für seine reiche Gabe schuldig sind. Man darf ge-
| spannt sein auf die angekündigte Ergänzung des Wer-
i kes, welche „die praktische Arbeit der Berliner Kirche"
behandeln soll.

Düsseldorf-Kaiserswerth. Martin Gerhardt.

Thomas Murners Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der
Erstdrucke. Hrsg. unter Mitarb. v. anderen v. Franz Schultz.
Bd. I, Tl. 1: Von den fier ketzeren. Hrsij. v. Eduard Fuchs.
(CXXIV, 286 S). Bd. V: Die Geuchmat. Hrsg. vi Eduard Fuchs.
(CII, 527 S.) gr. 8°. Berlin: W. de Grnvter & Co. 1929 u. 1931.

Bd. I, 1 RM 25-; Bd. V RM 40—.
Die Schrift „Von den vier Ketzern" ist die erste
Arbeit Murners in deutschen Reimen und hat insofern
zunächst in gewissem Sinne biographische Bedeutung. Sie
zeugt bereits von dem hohen Mute des Mannes, der
unter ziemlich durchsichtiger Anonymität einen unerhört
| dreisten Marienschwindel aufdeckte, wie er nach allge-
[ meinem Glauben von Standesgenossen, von Geistlichen
' eines gegnerischen Ordens verübt worden war; sie zeugt
ferner von Murners raschem Zugreifen nach einer deutschen
volkstümlichen Reimform, die bei aller Breite und
formalen Unbeholfenheit ihrer Wirkung auf die Massen
; sicher sein durfte. Die katholische Forschung neuester
I Zeit hat freilich nachgewiesen, daß die unerhörten Be-
i schuldigungen des Laienbruders Hans Jetzer gegen vier
j angesehene Dominikaner zu Bern erlogen waren und
die Hinrichtung der vier „Ketzer und Hexenmeister"
I auf dem Scheiterhaufen (1509) zu Unrecht erfolgte.
Zur Verbreitung der Anklage, die uns tief in den Aberglauben
des Reformationsjahrhunderts hineinblicken
läßt, hat Murner das meiste beigetragen. Ihm schrieb
man schon in den „Dunkelmännerbriefen" die lateinische
I Prosa De quatuor heresiarchis zu und von ihm rührt,
! wie Eduard Fuchs als gründlicher Kenner von Murners
i Sprache und Verskunst in seiner Einleitung und seinem
Kommentar erhärtet, das Reimgedicht „Fon den fier
ketzeren" her, das noch 1509 erschien. Der Herausgeber
des vorliegenden ersten Neudruckes konnte sich
bei seiner Arbeit auf die Vorarbeiten des im Weltkriege
gefallenen jungen Murnerforschers W. B. Berbig stützen,
i ist aber selbständig vorgegangen. Über die Verfasser-
| schaft der lateinischen Prosa scheint mir das letzte
. Wort noch nicht gesprochen, so genau die ganze Auf-
| fassung und die Darstellung im einzelnen zwischen ihr
j und dem Reimgedicht sein mag. Warum sollte sich
| Murner nicht an einer fast sklavisch treuen Bearbeitung
| einer fremden Vorlage zuerst versucht haben? Um ein
Urteil abzugeben, brauchten wir sehr ausgiebige Proben
■ des schwer zugänglichen lateinischen Textes, welche
auch die eindringliche Analyse von Fuchs nicht ersetzen
kann; zudem müßte eine genauere Vergleichung der
Tendenz und der inneren Form der lateinischen Prosa
mit Murners sonstigen Schriften durchgeführt werden.
Daß Murners Autorschaft freilich in hohem Grade
wahrscheinlich ist, geben wir Fuchs ohne weiteres
zu.

Längst bekannt als eine der glänzendsten satirischen
Leistungen Murners ist die „Geuchmat", mit deren
Ausgabe, die wiederum E. Fuchs mit höchster philologischer
Treue besorgte, die große Murnerausgabe ihren
würdigen Abschluß gefunden hat. Das Werk nimmt
unter Murners Schriften, ja in der satirischen Literatur
des Jahrhunderts nach Gegenstand, Auffassung und