Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1931 Nr. 21

Spalte:

499-502

Titel/Untertitel:

Kirche und Wirklichkeit 1931

Rezensent:

Haun, Fritz

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

499

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 21.

500

wirklich vollzog, war Fichte". Es war freilich nur eine
Linie, die aus dem Sturm und Drang aufgegriffen
wurde; die historischen Tendenzen Herders blieben zunächst
ebenso ungenützt wie sein und Goethes Naturgefühl
. Hier sieht H. M. die Impulse, die dann, sei es
von Sendling, sei es von Hegel aufgegriffen sind. —
Zum Verständnis gerade des deduktiv-spekulativen Zuges
dieser großen Bewegung müßte wohl außerdem auf
die mindestens durch das Tübinger Stift hereinwirkenden
Hintergründe des kirchlich-deduktiven Denkens
(Trinitätslehre usw.) hingewiesen werden. Endlich
scheint mir, daß auch die meist von der Philosophiegeschichte
allein verfolgte Linie Fichte-Schelling-Hegel
nicht völlig aufgehellt werden kann ohne die Würdigung
der Stellung Schleiermachers, ohne den Fichtes Wendung
zur theozentrischen Mystik ein Rätsel bleibt, dessen
Hinweis auf den Riß zwischen endlicher und unendlicher
Welt (in der 5. Rede) die Reflexion Sendlings
auf das Böse, überhaupt das Hervortreten transzendent-
dualistischer Momente im deutschen Idealismus mitbestimmt
haben dürfte. Doch das geht schon über die
Anfänge jener Bewegung hinaus, wenngleich es in sie
zurückreicht.

Tübingen. O. Wehrung.

R u s t, Prof. D. Dr. Hans: Der lebendige Christus. Nach dem Zeugnis
des Petrus der Gegenwart gepredigt. Königsberg i. Pr.: Ostpr. Pro-
vinzialverband f. Inn. Mission 1931. (135 S.) 8°. RM 2.50; Lw. 3.20.
Es sind Predigten über Worte des Petrus aus seinen Reden in der
Apostelgeschichte, „welche eine eigentümliche Prägung der urapostolischen
Predigt darstellen und angesichts der Verkündigung des Paulus besondere
Beachtung verdienen". Sie führen tief in den Gehalt der Schrift ein
und schöpfen den Text aus. Es wird, auch im Thema, auf alle Effekthascherei
verzichtet, Thema und Teile sind fast immer angegeben, eine
meist ganz kurze Einleitung führt zum Thema, in sehr klarer Gedankenführung
wird dies dann behandelt. Die Predigten haben den Vorzug,
daß sie dem Gebildeten etwas geben und auch dem schlichten Christen
verständlich sind. Ich weil! nicht, ob D. Rust über praktische Theologie
liest; aber das weiß ich, daß junge Theologen von diesen Predigten
lernen können, wie man predigt, und daß im Amt stehende hier wertvolle
Anregungen empfangen können.

Pouch bei Bitterfeld. Wilhelm Usener.

Kirche und Wirklichkeit. Festgabe, Herrn Praeses D. Wolff zum
60. Geburtstag gewidmet. Im Auftr. der Mitarbeiter hrsg. von Prof.
Lic. D. J. W. Schmidt-Japing. Düsseldorf: Lesch u. Irmer
1930. (158 S., 1 Titelb.) gr. 8°. RM 3.50; Lw. 4.80.

Zum 60. Geburtstag des rheinischen Praeses erschien
eine kleine Sammlung von Aufsätzen unter dem
Titel Kirche und Wirklichkeit. Die sie schrieben, bilden
abgesehen von Professor D. Weber den „Stab" des
rheinischen Kirchenführers. Freilich auch dieser ist verengt
. Äußere Gründe zwangen zum Verzicht und verlangten
eine kleine Auslese. Schade. Denn man hätte
gewußt, was die großen Verbände der rheinischen
Kirche zu dem Thema: Kirche und Wirklichkeit zu
sagen haben. So spricht in diesem Band nur die Innere
Mission, der soziale Fachausschuß und die evang. Akademiker
. Aber was sie sagen, ist fein und ernst und
gibt dem Band Bedeutung über die Stunde hinaus.

Dem Band ist vorgeheftet ein gutes Bild von
Praeses D. Wolff, von ihm mit einem seiner starken
Worte unterschrieben: „Der Protestantismus wird Kirche
sein oder er wird nicht sein." Dieses Leitmotiv alles
Handelns des rheinischen Praeses ist das Thema, das
in diesem Buch abgehandelt wird. Es geht immer wieder
um die Kirche. Um ihre Arbeit in dieser Welt, grade
weil sie die Kirche des Wortes ist, um ihr Schaffen in
der Gegenwart, grade weil sie ihren Dienst „im Lichte
der Eschatologie" tut. Emil Weber führt das in seinem
Aufsatz über „Die lebendige Kirche des Wortes" klar
und überzeugend aus. Wer Wort sagt, sagt Sakrament
und Gebet, sagt Dienst und Liebe, sagt Seelsorge und
Zucht. Gegenüber moderner Strömung, die das Wort
rein auf die Verkündigung von Gericht und Gnade beschränken
will, weist Weber nach, wie die Reforma-

i toreu und die ersten ev. Kirchenordnungen, als sie die
Kirche des Wortes wollten, die Kirche des Sakraments,

I die Kirche der Zucht, die „verfaßte" Kirche ohne weiteres
damit setzten und wollten. Das Wort ist eben nicht

i nur Verkündigung, sondern Ruf Gottes an diese Wirklichkeit
. Webers Aufsatz wird unsern jungen Theologen
in seiner Schlichtheit und Klarheit Vieles zu sagen
haben. Wie sein Aufsatz den Band eröffnet, so schließt

| ihn der Herausgeber Schmidt-Japing mit einer Untersuchung
über „Kirche und Wirklichkeit". Kirche
und Reich Gottes stellt er in Gegensatz. „Was immer
auch die Wirklichkeit der Kirche sei, sie ist schlechthin
und absolut etwas anderes als das Reich Gottes". Reich
Gottes ist ihm eine transzendente und eschatologische
Größe. Kirche aus der Aussonderung der Jünger herauswachsend
, durch Paulus theologisch gegründet ist
eine „metaphysische" Größe durch die Realität des Christus
in ihrer Mitte. Sie richtet sich „auf das Ende hin"
und lebt von dem Pneuma, das der Christus ist. Sakramente
und Christusmystik sind daher in ihr lebendige
Kräfte. Diese Kirche ist nun in Raum und Zeit hineingestellt
, empfindet und leidet immer wieder an der
Kreatürlichkeit alles Seins und wartet auf das Kommen
des Reiches Gottes. Weil sie in diesem Dasein steht,
braucht sie ihre Verfassung und ihr eigenes Recht, ihr
Bekenntnis und ihre Zucht. Schmidt-Japing hat endlich
einmal wieder die Frage nach der Kirche von der
Theologie aus gesehen. Nicht nur, wie es zu oft geschieht
von der Soziologie oder von der Historie. Er
zerstört auch den immer noch in Predigt und Unterricht
laufenden Irrtum von sichtbarer und unsichtbarer
Kirche als zweier selbständiger Größen. Ob es ihm aber
gelungen ist, aus seinem Darstellen der Kirche als
einer heils-metaphysischen Größe nachzuweisen, daß sie
nun unbedingt zu ihrem Dasein in dieser Kreatürlichkeit
Verfassung und Zucht gebraucht, daß beides zum Leib
Christi in dieser Wirklichkeit unbedingt von Gott aus
angesehen notwendig ist, erscheint mir zweifelhaft. Ich
vermag Schmidt-Japing da nicht zu folgen. Mag sein,
daß die gedrängte Form der Darstellung, zu der er gezwungen
war, ihn trieb, allzu scharf zu formulieren.
Mir scheint das theologische Problem Kirche und Verfassung
, Kirche und Zucht nicht so einfach aus dem
Dasein in der Kreatürlichkeit zu lösen. Schmidt-Japings
Arbeit fordert zum Nachdenken auf und wird hoffentlich
viel Anlaß zu theologischer Erörterung werden. Sie ist
ein neuer, sehr wertvoller Beitrag zur Kirchenfrage.

Die anderen Aufsätze des Bandes gehen teilweise
auf rheinische Verhältnisse ein. D. Ohl, der Direktor

| der Inneren Mission Rheinlands, erzählt aus alten Akten
, wie im Rheinland die I. M. von vornherein eine
kirchliche Angelegenheit war, wie sie nie neben der
Kirche, sondern in ihr und mit ihr ihr Werk treiben
wollte. D. Düsse, der Leiter des Düsseldorfer Predigerseminars
, der jahrelang den Provinzialausschuß für
Volksmission leitete, schreibt über „Volkskirche
und Volksmissio n". Kirche ist ihm nach Gottes
Willen Volkskirche und Volksmission der „General-

I wille zu volkskirchlicher Arbeit". Weil Kirche auf die

I Einzelgemeinde sich aufbaut, muß die Volksmission an
die Arbeit gehen, aus Getauften eine lebendige Gemeinde
zu schaffen, weil die Einzelgemeinde von der Volkskirche
lebt, muß die Volksmission den Drang in sich
tragen, einen Öffentlichkeitswillen der Kirche zu formen
und durchzusetzen. Daraus ergeben sich tausendundeins
Einzelarbeiten für die Volksmission, auf die Düsse hinweist
und für deren Durchführung er mit warmem
Wort wirbt. Wenn Düsse mit all seinen Forderungen

{ Recht hat — und er hat m. E. Recht — sollte man dann
nicht für all diese Arbeit und all dieses Werben einen
andern Ausdruck als „Volksmission" prägen? Er klingt

i zu sehr nach „Bekehren" und „Einzelne Seelen aus der
Masse heraus gewinnen", was D. mit aller Entschiedenheit
ablehnt. Aber dem Wort hängt nun einmal ein

I „Geschmäckle" an. Wer schafft ein Neues, das durch-