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Ausgabe:

1931 Nr. 21

Spalte:

495-498

Autor/Hrsg.:

Boor, Werner de

Titel/Untertitel:

Herders Erkenntnislehre in ihrer Bedeutung für seinen religiösen Realismus 1931

Rezensent:

Kohlschmidt, Walter

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496

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 21.

496

de Boor, Pfr. W.: Herders Erkenntnislehre in ihrer Bedeutung
für seinen religiösen Realismus. Gütersloh: C. Bertelsmann
1929. (120 S.) 8°. = Beiträge zur Förderg. christl. Theologie,
Bd. 32, H. 6. RM 3.50.

Bei der Herausarbeitung des neueren Herderbildes
hat die Theologie nicht so viele Worte mitgesprochen,
wie ihr der Lage der Sache nach zugestanden hätten.
„Die alte Ehrenschuld", die das erste heute nur in Einzelheiten
noch wichtige Buch über Herder als Theologen
(A. Werner) „von der Theologie abzuwälzen"
versuchte, besteht noch heute. Die Aufarbeitung von
Einzelgebieten, wie sie etwa von Baumgarten und Stephan
geleistet ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen,
wenn man sie an einer Gesamtdarstellung großen Stils wie
der Hayns mißt.

Es soll damit nicht gesagt sein, daß die theologische
Forschung sich selbst vielleicht nicht richtig verstanden
hätte, wenn sie Herders vieldeutig schimmernde
Gestalt mehr den Literarhistorikern (und den Philosophen
) überließ. Denn in der Tat gehörte Herder im
Herzen eher der Literatur und der Kunst und einem den
Menschen bedenkenden Humanismus als einer pauli-
nisch-lutherischen Theologie. Aber, unabhängig von der
Frage unmittelbarer theologischer Auswertbarkeit, besteht
als geistesgeschichtliche Aufgabe, daß die mit ihrer
und der Folgezeit so entscheidend verbundene Gestalt
gerade in ihrem religiösen Ausgang deutlicher und von
möglichst vielen Stellen her begriffen werden sollte.
Ihre Lösung kann nicht ohne die Theologie geschehen.
So kann das vorliegende Buch seiner Fragestellung wie
seinem Ergebnis nach nur begrüßt werden.

Es ist gewiß ein kluger Gedanke, die religiöse
Grundhaltung einer so schwebend biegsamen und so
vielseitig beteiligten Persönlichkeit wie der Herders in
den erkenntnistheoretischen Äußerungen aufspüren zu
wollen. Denn ebenso klar und vielleicht unwillkürlicher
sich verratend wird man hier die Grenzen des Menschenbildes
sich ausprägen sehen als im vielfach bedingten
und oft abgeleiteten theologischen Sachzusammenhang.
In dieser Einsicht will de B. nichts mehr und nichts
weniger als die Bestimmung des Nervs der Herderschen
Welthaltung von der Erkenntnislehre aus, ja darüber
hinaus die Gewinnung des Begriffs einer Lebensform,
der er den an Herder bestimmten Namen Realismus
beilegt.

Dieser Realismusbegriff wird freilich nicht durch
systematische Darlegung sofort klar. Er wird vielmehr
an Herders Einzelstellungnahmen gleichsam auf herderische
Weise nach und nach induziert. Es bedarf infolgedessen
erst des Einlesens, ehe man Absicht und
Meinung des Verfassers klar durchschaut: mit der realistischen
Stellung Herders seine Gegnerschaft zu Kant
als eine zutiefst religiöse, im Gegensatz zwischen metaphysisch
-kritischer Spekulation und gläubiger Hinnahme
der gegebenen Wirklichkeiten begründete, zu treffen.

De B. gliedert seine Arbeit in vier Teile. Im ersten
versucht er die methodische Einstellung Herders zur
Möglichkeit und Aufgabe einer Erkenntnislehre überhaupt
klarzulegen. Das Kernstück der Arbeit sodann ist
der Darstellung von Herders Erkenntnisanschauung gewidmet
. Jedoch bleibt es hier bei der Art- und Grenzbestimmung
des Herderschen Erkenntnisbegriffs. Die
Frage der Erkenntnisstruktur kommt erst im dritten
Teile zur Sprache. Folgerichtig führt sein metahistorisches
Bedürfnis den Verfasser dann zu dem letzten
Kapitel, das die Herdersche Auffassung des Verhältnisses
von Erkenntnis, Glaube, Gefühl und Gotteser-
kennen darstellt.

Erkenntnislehre kann für Herder nicht Erkenntnis-
k r i t i k und nicht Erkenntnis erklärung sein. Denn
der Realist kann nur Gegebenheiten konstatieren, beschreiben
, sich klarmachen in ihrer Art, aber er kann sie
nicht erklären. Er hat kein Interesse daran, das Warum
und Woher zu erfragen, wie der spekulative Systematiker
, da ihm die Dinge selbst genug zu tun geben. So-

! mit ist der Erkenntnisbegriff des Realisten von vorn-
| herein begrenzt auf die Erfassung uns wahrnehmbarer
Gegebenheit. Die Erkenntnisfrage ist die Frage nach
I dem Was- und dem Wiesein des Faktums. De B. sieht
! in dieser spontanen Selbstbegrenzung einen Akt der Herders
Realismus zutiefst begründenden religiösen Ehrfurcht
(die in den Dingen auch den Schöpfer mitmeint).

So ist der Erkenntnislehre keine andere Aufgabe
gestellt als Erkenntniskunde zu geben.

Dem entspricht, daß auch Herders Vernunftbegriff
j Begriff konkret vorliegender Geschichte ist, die nur
; gleichsam physiologisch betrachtet werden darf. Diesen
geschichtlichen Begriff von Vernunft als so und so
daseiender Kraft deutet der Verfasser als Ausdruck der
Herderschen Anschauung vom organischen Bezüge zwischen
Leib und Seele.

Das Verhältnis von Sein und Erkennen ist bei Herder
ein mehrfach umgesetztes. Der Weg führt vom Sein
über den sinnlichen Eindruck, den es hervorruft, zum
geistigen Erkenntnisbild und darüber hinaus zum „Begriff
" (dem Klangbild). Wäre dieser Weg nicht unbe-
1 weisbare Gegebenheit, so müßte seine Länge zur Er-
j kenntnisskepsis überhaupt herausfordern. So führt aber
| das Erkennen als faktischer menschlicher Besitz seinen
eigenen „ewigen Selbstbeweis".

Herders Gegensatz zur theoretischen Kritik darf
aber nun nicht als bloßer Sensualismus interpretiert
| werden. Herders Sinnenlehre entbehrt des Mechanisti-
j sehen, das den historischen Sensualismus begründet.

Seine Stufenfolge der Umsetzungen zeigt vielmehr eine
I Anschauung vom Erkennen als von etwas Wunderbar-
■ Geistigem. Aber die Aktivität des Lebens ist für ihn
freilich immer ein Aneignen durch Organe, und die gei-
j stige Aktivität nur der feinste Akt solchen organischen
Aneignens.

Damit stehen wir bei der heiklen Frage von Her-
, ders Monismus. Herders ganz unmechanistische Be-
; seelung des Daseienden ergänzt da das eben vom Menschen
her gewonnene Bild. Die Gemeinsamkeit des
' Als-Kraft-Da-Seins gestattet nicht (wie im Idealismus
und im Sensualismus) Denken und Sein auseinander abzuleiten
. Aber in dieser Gemeinsamkeit besteht der Herdersche
Analogiebegriff. Subjekt und Objekt sind da als
Kraft — daher all ihre Beziehung aufeinander — und
zwar als Kraft Gottes.

Das so aufgefaßte Leben ist unbegreifliches Wunder
. Der enthusiastisch-optimistische Beschauer der
„ewigen Zier" sieht eben alles „in Gott". So leitet die
Anschauung von der Analogie der Kräfte Herder auch
unmittelbar immer wieder zum Gottesgedanken. An der
Möglichkeit des Erkennens, dieser geistigen Kräfteord-
j nung, die zugleich den „Eindrang" in die Dinge und in
j uns selbst gestattet, haben wir den zwingendsten Beweis
I Gottes.

Von hier aus erklärt de B. nun auch Herders
j innere Beteiligung an der Sprachphilosophie. Sprache
ist eben darum so wichtig, weil sie Wiederverleibung der
im Erkennen Geist gewordenen Wirklichkeit bedeutet.

So muß Herder Erkenntnis und Wissenschaft letztlich
als Liebe begreifen. (De B. bedauert von diesem
Standpunkt aus den von Kant ausgehenden unbeteiligten
Wissenschaftsbegriff.) Die unskeptische, auf die Freude
an der Wirklichkeit sich einschränkende Art des Realismus
bestimmt auch Herders Stellung zur Wahrheits-
i frage. Wahrheit und Gewißheit sind einfach als Ge-
I gebenheit da, und deshalb nicht durch den Zweifel in
j Frage zu stellen. Die Gleichung: Erkennen ist Anerkennen
gibt den ganzen Tatbestand. In dem Anerkennen
der Dinge und der eigenen dingbewußten Existenz liegt
die uns zugängliche Wahrheit beschlossen. Optimistischer
Zu-stand, nicht kritischer Ab-stand bezeichnet auch
j hier wieder den Realisten Herder.

Natürlich lehnt Herder den Begriff des Apriori
ab. Aber de B. meint doch einen solchen feststellen zu
I können in der einander homologen Lage von Seele und