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Ausgabe:

1931 Nr. 18

Spalte:

411-414

Autor/Hrsg.:

Noth, Martin

Titel/Untertitel:

Das System der zwölf Stämme Israels 1931

Rezensent:

Meinhold, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 18.

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den ÖEim8ai|iü>v ausmacht. Es ist speziell eine rituelle
Betriebsamkeit; Sorge wegen möglicher oder eingetretener
Befleckung spielt die Hauptrolle. Wenn B. den
SeimSai'ncov einen „religiösen Angstpeter" nennt, so
könnte man die ÖEiaiöamovta vielleicht noch genauer
als eine Art Befleckungspsychose definieren. Und hier
wird dann der wesentliche Unterschied vom Evtreßiig
sichtbar: was dieser aus frommem Pflichtgefühl heraus
tut, übt der Seiaiöaüioyv in der nervösen Angst, immer
und überall der rituellen Befleckungsgefahr ausgesetzt
zu sein.

Dabei erhebt sich dann freilich die Frage, auf die
B. nicht eingegangen ist, inwieweit die Einzelschilderungen
dieses /aocooriP als wahrheitsgetreue Beschreibung
, inwieweit sie als karrikierende Übertreibung anzusehen
sind. Mir stellt sich diese Frage besonders bei
der Schilderung des Ganges zu den Orpheuspriestern.
B., der hier die überlieferte Satzfolge gegen Immischs
Umstellung beibehält, sieht einen besonders hübschen
Zug von „Gemütlichkeit und einfacher Frömmigkeit"
darin, daß der 8£iaiöaüiwv „mit seiner ganzen Familie,
Kindern, Weib und Gesinde dem monatlichen Gottesdienst
beiwohnt". Es heißt aber: „und monatlich geht
er, um sich reinigen zu lassen" (so übersetzt B. teäeo-
■ch)o6nEvog; es muß in der Tat nicht unbedingt auf Einweihungen
gehen), „zu den Orpheuspriestern, mitsamt
der Frau, und wenn die keine Zeit hat, mit der Amme
und den Kindern". Soll nicht durch die Erwähnung des
Gefolges, das der öeutiöcuhmv unter Umständen mitnimmt
, die Sache ins Lächerliche gezogen werden? Und
warnt nicht diese Beobachtung vor allzu prägnanter
historisierender Interpretation der Einzelheiten?

Ich notiere noch eine Anzahl besonders bemerkenswerter Erklärungen.
Die Erwähnung der orphischen Reinigungen gibt B. den Anlaß, den
8Eiai§aiu*yv, der auch noch den Sabazios oder Hausgötter oder noch
andere Gottheiten angeht, als ältestes Beispiel des antiken Synkretismus
hinzustellen. Aber der Synkretismus, den wir aus dem Isigebet bei
Apuleius oder aus dem Attislied der Naassener oder aus der Isislitanei
des bekannten Oxyrhynchos-Papyrus kennen, beruht nicht auf Angstmeierei
, sondern auf der Erkenntnis, daß die Vielheit der partikularen
Götter im Grunde die menschlich bedingte Form der Verehrung eines
übernationalen Pantheons darstellt. — Im Zusammenhang damit äußert
sich B. skeptisch über die Existenz von Orpheusgemeinden ; der Christ,
der sich einer Gemeinde angeschlossen habe, verweigere sich damit jedem
anderen Kult; wer aber an orphischen Reinigungen teilnehme, brauche
sich anderen Religionsübungen nicht zu entziehen. Ausschließlichkeit
des Kultes und Gemeindezugehörigkeit entsprechen einander aber nicht
immer: schon zur Zeit des Paulus ließen sich Glieder der Christengemeinde
zu Kolossai in andere Mysterien einweihen, ohne damit ihre
Zugehörigkeit zu der christlichen Gemeinde aufzugeben. — In einer
langen Auseinandersetzung über itoooxuveiv weist B. nach, daß das
Knien nicht so ungriechisch gewesen sei, wie man gewöhnlich annimmt.

— Die Hermaphroditen, von denen in § 10 die Rede ist, hält B. für
doppelgeschlechtige Hausgötter. — Bei der Erklärung des sinnlosen
Ertiy.pcovriv der Überlieferung in § 2 lehnt B. die üblichen Konjekturen
Eni x°ü>v, EHixpmoifeLc, aiiraxi u. a. ab. Er postuliert die Erwähnung
eines ganz besonderen Umstandes, durch den sich der Angstliche zu
Entsühnungsmaßregeln getrieben fühlt, und rät auf die Begegnung mit
einem Leichenzug. Daß aber seine so erschlossene Konjektur ItutuxuVv
excpoQcu paläographisch wahrscheinlich sei, wird man nicht behaupten
können. Es scheint vermessen, einen Gegenvorschlag zu machen. Trotzdem
möchte ich, mit aller gebotenen Reserve, die Kundigen fragen, ob
nicht doch ein Ausdruck mit xoovoc, das Wahrscheinliche sei. Ich komme
zu dieser Frage mittels der Erwägung, daß am Anfang der Schilderung
eine Definition oder ein ganz charakteristisches Beispiel stehen muß:
6 öe ÖEioiöaiircov toioOtög Tic,, olog . . . Diese Bedingung würde erfüllt
, wenn z. B. gesagt wäre, daß der SeioTÖcupcov „auf einmal" (Sva
XQÖvov? hü xoövov??) Waschung, Besprengung, und Lorbeer-Ritus
vornehme; das Bezeichnende läge auch hier in der anlaßlosen Häufung
von Reinigungszeremonien; daß ein besonderer Umstand nicht genannt
wäre, würde sich aus dem Streben erklären, hier am Anfang gleich eine

— karrikierende, aber auch definierende — Gesamtschilderung zu geben.
Heidelberg.__Martin Di bei jus.

Noth, Martin: Das System der zwölf Stämme Israels. Stuttgart:
W. Kohlhammer 1930. (IV, 174 S.) gr. 8°. = Staatl. Forschungsinst.
an d. Univ. Leipzig. Forschungsinst. f. Religionsgesch. Israelit.-jüd.
Abt. H. 6 = Beitr. z. Wiss. v. Alten u. Neuen Testament. F. 4,
H. 1 (= der ganz. Sammig. H. 52). RM 8.40.

Das Buch bietet 2 Teile: I. Analyse und Erklärung

der Quellen. S. 3—60 und zwar Kap. 1. Die Überlieferung
von den zwölf Stämmen Israels, Kap. 2. Die Entstehungszeit
des Zwölfstämmesystems, Kap. 3. Die historische
Grundlage des Zwölfstämmesystems und: II.
Folgerungen [die altisraelitische Amphiktyonie] Kap. 1.
Allgemeine historische Einordnung der altisraelitischen

i Amphiktyonie, Kap. 2. Die Entstehung der altisraelitischen
Amphiktyonie, Kap. 3. Das Leben der altisraelitischen
Amphiktyonie, Kap. 4. Die Bedeutung der alt-
israelitischen Amphiktyonie. Der Anhang bringt 4 Exkurse
. Der erste behandelt die Liste Num. 26, 5—51.
Der zweite gibt eine literarische Analyse von Jos. 24
und Deut. 11, 29. 30; 27, 1—13, Jos. 8, 30—35. Der
dritte redet von Gebrauch und Bedeutung des Wortes
^"9; und der vierte enthält eine literarische Analyse
von Ri. 19—21.

Die Überlieferung von den 12 Stämmen, deren
Väter als schattenlose heroes eponymi zu fassen sind,
die kaum jemals einzeln und unabhängig von einander

I als Personifikation entstanden sind und nie in der Überlieferung
eine Rolle gespielt haben, ist ein völlig selbständiges
Traditionselement, das mit den Patriarchen
Abraham, Isaak und Jakob nichts zu tun hat, mit ihnen
nur sekundär durch die Gleichsetzung Israels mit Jakob
verknüpft ist. Innerhalb des Rahmens der Zwölf zahlen
weisen die Quellen nun Verschiedenheiten auf in der
Reihenfolge und Auswahl der Namen. Das System, das

j im Jakobsegen (Gen. 49) und Gen. 29, 31 ff. entgegentritt
, in dem zuerst 6 Leasöhne (mit Levi), am Schluß
die 2 Rahelsöhne und dazwischen, wenn auch in verschiedener
Reihenfolge, die 4 Adoptivsöhne gegeben
werden, ist das älteste. Dies System läßt sich bis in
die späte nachexilische Zeit verfolgen. Daneben steht
ein anderes, in dem Levi fehlt und die Zwölfzahl durch
die Spaltung von Joseph in Ephraim und Manasse aufrecht
erhalten wird. Das tritt zuerst in der alten Liste

j aus der Richterzeit Num. 26, 5—51 entgegen, in der

! für Levi in die erste Sechszahl Gad eingesetzt ist, was
beweist, daß die Sechszahl schon feststand, dagegen die
Gruppe der Vierstämme noch nicht so geschlossen war,
daß man nicht einen hätte herausnehmen und an andrer
Stelle versetzen können, wie denn auch geschah. Neben
Gen. 49 und Num. 26, 5 ff. haben wir noch in der Liste
israelitischer Stammeshäupter Num. 1, 5—15 ein Zeugnis
selbständiger Tradition über die Einteilung des Gesamtvolkes
in 12 Stämme. Die zeitliche Ordnung dieser
3 Listen wäre: Gen. 49; Num. 26, 5 ff.; Num. 1. Auf
sie und nicht auf die Erzählungen Gen. 29, 31 ff. (J u.
E) von der Geburt der Söhne Jakobs muß die weitere
Untersuchung sich gründen. Gen. 29, 31 ff. ist dagegen
ein Produkt literarischer Arbeit (S. 10) — das Zwölfstämmesystem
lag wohl dem Sammler der Jakobsprüche
(aus der Zeit des David oder Salomo) schon vor. Die
Liste Num. 26 ist — wie Exkurs I zu erhärten sucht —
der Richterzeit zuzuweisen. Das Interesse, das man
noch an den Einzelstämmen hatte, zeigt, daß die Zeit
der Staatenbildung unter David der terminus ad quem
ist. Die beiden Formen (Gen. 49 u. Num. 26) verteilen
sich so auf die Richterzeit, daß die erste (mit Levi)
aus der frühesten Richterperiode stammt, während die
2. (ohne Levi, dafür mit Spaltung von Joseph in
Ephraim und Manasse) der Zeit nach dem Deboraliede
entstammt, in dem neben Ephraim noch Machir genannt
wird, aus dem sich Manasse erst entwickelte.

Wie aber ists zur Zwölfzahl der Stämme gekommen
? Daß nicht 12 Stämme zu gleicher Zeit Kanaan
eroberten, wie es das A. T. darstellt, vielmehr die Landnahme
in verschiedenen, zu verschiedener Zeit von verschiedenen
Ausgangspunkten her unternommenen Zügen
vor sich gegangen ist, darf als sicher angenommen werden
. So haben die Leastämme, deren 6-Zahl ängstlich
festgehalten wird, was ein älteres — historisch begründetes
— Element in der Zwölfzahl der Stämme darstellt,
sich vor Joseph im Lande festgesetzt. Auch Benjamin,
von dessen Zug Jos. 1—11 (in seiner ursprünglichen Gestalt
) berichtet, hat sich vor ihm sein Gebiet erobert.