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Ausgabe:

1931 Nr. 12

Spalte:

268-270

Autor/Hrsg.:

Altheim, Franz

Titel/Untertitel:

Terra mater 1931

Rezensent:

Pfister, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 12.

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wenn Eltern ihren Kindern etwas untersagen oder einzelne
Personen hinsichtlich ihres Besitzes anderen etwas
verbieten. Meidungen sind dagegen solche Prohibi-
tive, die nur ein mehr .vorsichtiges Verhalten' wegen gefährlich
gedachter Zusammenhänge darstellen, wie wir
sie besonders bei den Tabus der körperlichen Zustände
antrafen. Diese Meidungen tragen den Charakter von
.Enthaltungen', wenn die Sitte gebietet, seinem
Körper bestimmte natürliche Betätigungen zu versagen"
(S. 285f.). Oder noch deutlicher: „Die Mißachtung j
der Verbote zieht öffentliche und private Strafen
nach sich. Meidungen und Enthaltungen aber sind die- j
sen öffentlichen obrigkeitlichen Verboten gegenüber lediglich
von der überlieferten Sitte geboten, deswegen
zwar nicht minder kategorisch, aber es folgt diesen i
Unterlassungen, wenn sie mißachtet werden, keine
öffentliche Strafe, wohl aber aus magischen oder übernatürlichen
Quellen Schäden aller Art" (S. 287). Die |
Auffassung, daß „das Tabu" eine grundsätzlich religiöse
Erscheinung sei, wie sie Frazer, Marett, Visscher,
Hauer, Vierkandt vertreten, lehnt L. ebenso wie Rieh.
Armstrong und Raymond Firth ab — O. W. Brierly gehört
wohl eigentlich nicht hierher und J. C. Johnstone
geht L. selbst zu weit. Vielmehr sagt der letztere zusammenfassend
: „In der gegenüber den Standespersonen
zu beobachtenden Etikette, die sich zum nicht geringen I
Teil in Tabus auswirkte, kann man die Ansätze zu einer
Erziehung des Volkes zur Achtung vor den Führern
und verantwortlichen Persönlichkeiten des gesellschaftlichen
Lebens erblicken, mochten auch hier leicht die I
Gebräuche, gefördert von der religiösen und magischen !
Weltanschauung, das nach unserer Anschauung gebotene j
Maß überschreiten. Die Tabus, die bei bestimmten körperlichen
Zuständen zu beachten waren, und diejenigen,
die sich auf einzelne Körperteile bezogen, stellten praktisch
einen Schutz für den Menschen dar, indem sie ihn |
in diesen Fällen vor schädlichen Einflüssen zu schützen
suchten. Auch die Tabus, durch die Kranke und Tote
von der übrigen Gesellschaft isoliert wurden, haben in
dem Trieb, sich vor dem Ausbreiten der Todessphäre
zu schützen, eine starke Wurzel, wenn auch gerade hier-
bei das magisch-religiöse Denken des Polynesien die
merkwürdigsten Übertreibungen erzeugte, die auf den I
Erkrankten als Härte zurückwirkten. Schließlich darf j
auch gesagt werden, daß einzelne Tabus, die sich auf
das sexuelle Leben bezogen, Versuche zu einer Regelung
des sittlichen Lebens darstellten; doch wiesen die
einzelnen Inselgebiete in dieser Hinsicht sehr verschiedene
Verhältnisse vor ihrer Christianisierung auf. !
Gegenüber diesen sozial wertvollen Tabus darf man j
selbstverständlich die große Menge der andern nicht
vergessen, die der ganzen Volksgemeinschaft wie dem !
einzelnen schädlich waren und die das größte Aufsehen j
bei den Berichterstattern erregten. Das liegt aber daran, j
daß die Tabus das gesamte Kulturleben mit seinen fort- 1
schrittlichen und mangelhaften Seiten widerspiegeln. In |
letzterer Hinsicht wäre darauf hinzuweisen, daß die j
Befehls- und Verbotsgewalt der Häuptlinge und Priester
auch sehr oft mißbraucht wurde. Aber in welcher
Kultur wären die Machthaber dieser Gefahr jemals
ganz entronnen! Die Privilegien der Standespersonen j
konnten zu Schädigungen des Volkes führen, zum min- |
desten wertvolle Güter oder Kräfte dem Wirtschaftsleben
des Volkes entziehen. Der fürstliche wie priester- I
liehe Despotismus, der sich in Tabus mannigfachster
Art auswirkte und besonders im Todesopfer des Men- i
sehen seine zureichende Sühne für Mißachtung suchte, i
ist aber wesentlich bedingt durch die Weltanschauung j
der Polynesier und diese neigte zu Extremen" (S. j
296 f.). Darf ich mir einem Sachkenner wie L. gegen- j
über einen Zweifel erlauben, so weiß ich doch nicht, |
ob damit diese letzteren oder auch nur die zuerst genannten
Tabus erklärt sind. Es wird doch auch beim
Genuß von Speisen der Häuptlinge oder von Fischen,
die den Priestern und Göttern reserviert sind, durch ]

andere erwartet, daß diese anschwellen und sogar sterben
, und das versteht sich wenigstens ursprünglich
vielleicht noch nicht aus dem sonstigen „magisch-religiösen
Denken des Polynesiers", sondern zeigt, daß der
Ursprung des Tabus selbst ein anderer war. Dasselbe
ergibt sich aus den nicht nur für andre, sondern auch
für diejenigen, die sie angeordnet haben sollen, lästigen
Tabus, die m. M. n. nicht aus einem Mißbrauch der
Befehls- und Verbotsgewalt erklärt werden können. Auf
eine andre Möglichkeit macht ja auch L. selbst gewissermaßen
dadurch aufmerksam, daß er auf der letzten Seite
seines Werkes daran erinnert, daß die polynesische Kultur
keine Urkultur ist. Mögen die Verbotsvorschriften
also immerhin zu den Fundamenten alles menschlichen
Lebens gehören, so könnten sie doch zuerst einen andern
Sinn als später vielfach gehabt haben.

Bonn. Carl Clemen.

Alt he im, Franz: Terra Mater. Untersuchungen zur altitalischen
Religionsgeschichte. Giellen : A. Töpelmann 1931. (VIII, 160 S.) gr.8°.
= Religionsgeschiehtl. Versuche und Vorarbeiten begr. v. A. Dieterich
u. R. Wünsch in Verbdg. mit L. Deubner hrsg. v. L. Malten u. O.
Weinreich, XXII. Bd., 2. H. RM 9.60.

Die Grundlagen für die neuere Erforschung der
altrömischen Religion haben Mo mm sen und Wissowa
gelegt. Aber in doppelter Hinsicht hat die weiterarbeitende
Wissenschaft auf diesem Fundament, es verbreiternd
, den Bau um- und weiterbauen können. Einmal
war es die vergleichende Religionswissenschaft,
die durch Beiziehung von volks- und völkerkundlichem
Material manche Erscheinung der römischen Religion
in besseres Licht zu setzen vermocht hat, dann war es
die intensivere, durch neue Funde befruchtete Erforschung
der Frühgeschichte Italiens und insbesondere
auch der Etrusker, die mit neuem Material auch neue
Gesichtspunkte eröffnet und zu neuen Ergebnissen geführt
hat. So steht heute wohl fest, daß das, was wir
als altrömische Religion bezeichnen, religiöse Elemente
ganz verschiedener Herkunft enthält: Latinisches, ferner
Bestandteile aus der Religion der nichtindogermanischen
„mediterranen" Urbevölkerung Italiens, dazu, etwa von
700 v. Chr. eindringend, Etruskisches und Griechisches,
daneben noch Einflüsse seitens anderer italischer
Stämme. Und ein Hauptproblem ist es nun, nach Möglichkeit
diese Elemente zu scheiden und die Einflüsse
nachzuweisen, die bei der Ausbildung der altrömischen
Religion gewirkt haben.

Dies kann nur durch Einzeluntersuchungen geschehen
, und durch solche hat sich in jüngster Zeit ein
Schüler W. F. Ottos, Franz Altheim, besonders
verdient gemacht, der in seinem Buch „Griechische
Götter im alten Rom" (RGW XXII 1, 1930) es unternommen
hat, „das Alter und die Art der griechischen
und etruskischen Einwirkungen auf bedeutende Götterkulte
des alten Latium und Rom unter möglichst vollständiger
Berücksichtigung der archäologischen Funde
und mit neuer Prüfung der historischen Zeugnisse zu
untersuchen". Und in der Tat weist er griechischen und
etruskischen Einfluß auf die römische Religion bereits
für das 7. Jahrh. nach und zeigt, daß die griechischen
Gottheiten auch häufig durch die Vermittlung der
Etrusker nach Rom kamen. Freilich wird man in vielen
Einzelausführungen dem Verf. nicht folgen können;
das Material reicht bei weitem nicht aus, um die
Schlüsse zu begründen die der Verf. zieht, und insbesondere
scheint das Fundament, soweit er es mit Etymologien
unterkellert, nicht ganz fest zu sein. Aber
sein Grundgedanke ist richtig.

Eine Fortsetzung des älteren Buches liefert das
vorliegende, dem die gleichen Vorzüge, aber freilich auch
in noch stärkerem Maße die Mängel des ersten Werkes
anhaften. Auch im neuen Buch finden sich zahlreiche
Einzeluntersuchungen, über die alle zu referieren hier
unmöglich ist; noch unmöglicher, hier in eine Einzeldiskussion
einzutreten, zu der das Buch allenthalben