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Ausgabe:

1931 Nr. 10

Spalte:

225-227

Autor/Hrsg.:

Boendermaker, Pieter

Titel/Untertitel:

Paulus en het orfisme 1931

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 10.

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Sünders ist sie weder an menschlich-ethische noch kultische
Notwendigkeiten gebunden; sie bleibt frei" (S.
43—44). Die Darstellung des urchristlichen Glaubens
löst stärkere Bedenken aus. Zunächt fällt der Verzicht
auf Jesus auf (s. Vorwort). Ob ein derartiger Verzicht
dem gegenwärtigen Ringen um Jesus dient, sei dahingestellt
. In Wirklichkeit erheben sich Zweifel, ob der
urchristliche Gottesglaube erfaßt werden kann, ohne den
Gottesglauben Jesu, der für seine Botschaft zentral
ist, zu untersuchen. Pr.'s Ausführungen im Einzelnen
zeigen auch, daß man immer wieder auf Jesus hingeführt
wird. Nun erhebt sich weiter die Frage, ob das
Liebesmotiv im Gottesglauben Jesu entscheidend ist.
In Wirklichkeit liegt für Jesus in Gottes Wesen aktive
Liebe und unbedingte Vergeltung zugleich, zusammengehalten
unter dem Obersatz: Niemand ist gut
denn Gott allein (Mc. 10,18). Nur so ist es verständlich
, daß der Liebesgedanke im Urchristentum nicht
zentral ist, sondern nur einen Teil der theologischen
Aussagen über Gott erklärt. Pr.'s Versuch, das Liebesmotiv
in das Zentrum der urchristlichen Verkündigung
zu rücken, mißlingt auch bei Paulus; am deutlichsten
zeigt sich dies Mißlingen in dem unglücklichen Versuch,
den Aufbau der paulinischen Hauptbriefe von der äydnrj
vov &eov aus einheitlich zu verstehen (S. 55—56).
Bei Johannes findet man endlich die entscheidende
Formulierung (1. Joh. 4,16), die aber neben anderen
ergänzenden Aussagen steht (1. Joh. 1,5; Joh. 4,24).
Im ganzen Urchristentum bleibt also das Motiv der
Liebe Gottes eine Teilwahrheit, allerdings eine wichtige;
der Satz Pr.'s: „Es ist nicht zu leugnen, daß Liebe
Gottes das Kernstück der Verkündigung des Urchristentums
ist" (S. 62), ist mißverständlich und darum abzulehnen
. Das Ringen um den Gottesglauben des Urchristentums
muß neu einsetzen. In anderen Formulierungen
hat Pr. unbedingt recht: Es ist nach ihm die Eigenart
der urchristlichen Liebe, daß sie eschatologisch ist,
daher auch radikal und universalistisch. Diese Eigenart
drückt sich aus in der Ablehnung des Begriffes egwg
und in der Übernahme des Begriffes aya^crj, der nun
zum Kampfruf des Christentums auf hellenistischem
Boden wird (S. 53). Später geht diese Eigenart des
Urchristentums verloren und die neue Religion sinkt
herab auf die Stufe ihrer Umwelt (S. 62). Pr. weist
auf den Intellektualismus, Moralismus, Sakramentalismus
als Aufnahmestationen hin (S. 62. 63). Diesen Linien
Pr.'s kann man weithin zustimmen, zumal der Versuch
gewagt wird, neben dem Entwicklungsgedanken den
Gedanken der Parallelbildung zu Worte kommen zu
lassen (v. Dob schütz). Einen Einblick in die Fragestellung
erhält man durch Pr., aber als wirkliche Durchführung
des wichtigen Themas kann man diese Studie
nicht ansehen.
Halle a. S. Otto Michel.

Boendermaker, Dr. P.: Paulus en het Orphisme. Amsterdam
: H. T. Paris 1930 (104 S.) 8°.

Diese Arbeit, wohl eine Doktordissertation, besteht
aus zwei auseinander klaffenden Studien, einem kritischen
Referat über die Hypothese von V. Macchioro
(Orfismo e Paolinismo 1922 u. a.), daß der Paulinismus
ein verchristlichter Orphismus sei (p. 1—69), und
einer Untersuchung der Beziehungen des Paulus zur
orphischen Philosophie und Terminologie (p. 70—104).
Das Wertvollere ist die erste Hälfte der Arbeit. Da die
Arbeiten des italienischen Religionshistorikers wenig bekannt
sind und das genannte Hauptwerk z. Z. vergriffen
ist, kann die sehr ausführliche Inhaltsangabe, die Dr.
B. liefert, gute Dienste leisten.

Der Verf. stellt zunächst den Forscher M. und
seine These in die Entwicklung der Jesus-Paulus-Forschung
ein. Bestimmte mystische und mythische Elemente
im Paulinismus, das Nacherleben des Sterbens
und Auferstehens Jesu im Sakrament, sind weder bei
Jesus zu finden, noch aus dem Judentum abzuleiten; da-

j gegen in aller Deutlichkeit im Orphismus gegeben, so
, wie er schon in vorchristlicher Zeit bestand und auch in
i der Nähe von Judäa verbreitet war. Der Nachweis hat
I den besonderen Zweck, den drei Bedingungen für religionsgeschichtliche
Abhängigkeitserklärung zu genügen,
die C. Giemen in seinem Buch „Der Einfluß der Mysterienreligionen
" (1913) aufgestellt hat (Hoofdstuk I).

In einem zweiten „Hauptstück" skizziert B. dann
die „Quellen für den Orphismus", d. h. er stellt die
wichtigsten Gedanken aus der Überlieferung zusammen,
wobei er die zwei Strömungen unterscheidet, die primitiv
| ekstatische, magisch-realistische, und die mehr spekulative
, die zu einer Art Theogonie geführt hat. Es folgt
(h. III) die Zagreusmythe und ihre Deutung bei
Macchioro als fantastische Darstellung eines reellen Be-
j wußtseinszustandes (das subjektive Erleben primär
gegenüber dem objektiven Mythos); Hauptbeleg ist für
M. die sogenannte orphische Liturgie, der Bilderzyklus
der Pittura Item in Pompeii. B. entwickelt die mit Recht
sehr bestrittene Interpretation der Bilder, wie sie M.
versucht hat; eine schöne Wiedergabe der Bilder ist dem
Buche beigegeben.

Und nun Paulus (h. IV und V). Macchioro betont
bei Paulus sehr stark das Sakramental-magische. Paulus
ist der Schöpfer des Abendmahlritus — die Texte in
den Evgl. sind Interpolationen. Auch Act. 20,9 ff. und
27,33 ff. soll das sakramentale Mahl die wunderbare
! Rettung bewirken. Die Wiedergeburt des orphischen
I Mysten und ihre mythischen Voraussetzungen, der An-
' teil an der titanischen Natur, die Befreiung davon, die
I Befreiung der Seele aus dem Körper, soll Paulus in die
j christliche Religion hinübergenommen haben. B. zeigt
I die großen Bedenken, die dieser These entgegenstehen,
i die Verschiedenheit der Sündenlehre des Paulus gegenüber
! der orphischen Lehre von der tetanischen Natur, die
! verschieden geartete Lehre vom Körper in beiden Reli-
j gionen. Daß die sakramentale Erlösung auch bei Pau-
j lus ganz realistisch ist, hätte er stärker betonen sollen.
I Aber daß Paulus sich, wie Macchioro meint, speziell in
| die Sprache und Gedankenwelt der orphischen Mysterien
völlig hinein gedacht haben sollte, ist in der Tat un-
erweisbar, ja unwahrscheinlich.

Trotzdem kann es natürlich einige Gedanken bei
Paulus geben, die den orphischen Überlieferungen verwandt
erscheinen. Ich möchte dazu rechnen den
Mythus von den aQynvzeg tov aiwvog rovrov, die den
Titanen vergleichbar sind: wie diese den Zagreus getötet
haben, so jene den Herrn der Herrlichkeit; die
stellvertretende Initiation vgl. I. Cor. 15, 29, die auch
auf der Grundlage des paulinischen Taufsakraments
möglich ist, überhaupt den ganzen Realismus des sakramentalen
Geschehens, der auch für das Abendmahl
! nachweisbar ist, wenn auch Macchioro dessen Bedeutung
i bei Paulus überschätzen mag, vgl. auch die Kulthandlung
1. Cor. 5,3 ff. Weiteres bei H. Leisegang Der
Apostel Paulus als Denker 1923, eine Schrift, die dem
Verf. unbekannt geblieben ist.

Die der Kritik an Macchioro angehängte Studienfolge
beschäftigt sich zunächst (c. VI) mit dem Einfluß
i des Orphismus auf die Philosophie. Positives ist hier
j eigentlich nur über Pythagoras und Plato zu sagen,
j Die platonischen Dialoge sind ja das Musterbeispiel einer
Literatur, für die der Einfluß bestimmter Mysterien
direkt überliefert ist. Der Verf. führt hier das Wichtigste
an. Für die nachplatonische Philosophie beschränkt er
| sich leider nur auf allgemein gehaltene Ausführungen:
hier wären aber die positiven Nachweise, gerade im
Blick auf die Frage der Beeinflussung des Paulus durch
die Orphica, außerordentlich wichtig gewesen. Philo
wird ganz übergangen. Dabei ist noch die Frage, ob die
„orphischen" Lehren der späteren Philosophen nicht
vielmehr durch Pythagoras und den Neopythagoraeismus
j bestimmt sind, vgl. Isidore Levy La legende de Pytha-
! gore de Grece en Palestine 1927. Dr. B. schätzt" den
[ Einfluß der Orphik auf die spätere Zeit sehr hoch ein