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Ausgabe:

1931 Nr. 8

Spalte:

187-189

Titel/Untertitel:

Hegel 1931

Rezensent:

Adolph, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 8.

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kenntnis ist durchaus erkennbar: die sehr reichlichen
Zitate sind zu ca. einem Drittel aus W. 40, ca. ein
zweites Drittel ist aus W. 18; 31 II und 39 I; daneben
sind häufig Zitate aus zweiter Hand verwertet (vgl. die j
Notiz S. 5 A. 2), Luthers Schriften bis 1524 sind kaum
herangezogen, jedenfalls keine Problemstellungen daraus I
gewonnen. Gerade bis 1524 sind aber Luthers Anfechtungen
und Fragestellungen weit mannigfaltiger als in
späteren Jahren, in denen er manches aus pädagogischen
und polemischen Rücksichten einfacher, problemloser
dargestellt hat.

Daß trotz aller Einwände des Historikers für den j
Systematiker eine Reihe von geistreichen Beobachtungen j
und tiefertreibenden Anregungen gegeben sind, soll nicht
verschwiegen werden.

Königsberg i. Pr.__E. Vogelsang.

Hartmann, Nicolai: Die Philosophie des deutschen Idealis- j
mus. II. Tl.: Hegel. Berlin: W. de Gruyter & Co. 1929. (IX, !
392 S.) gr. 8°. = Geschichte d. Philosophie, Bd. 8. RM 16 — ; geb. IS .
N. Hartmann will seiner eigenen Angabe nach „dem I
Lernenden eine brauchbare Handhabe zur Einführung
in das Studium Hegels bieten". Diese Ankündigung j
klingt sehr bescheiden. Aber was setzt sie nicht alles j
voraus! Zum mindesten eine genaue Kenntnis und gei- i
stige Durchdringung des gewaltigen Stoffs, mit dem j
der Verf. seiner eigenen Aussage nach zwanzig Jahre
lang gerungen hat. Fernerhin aber auch ein persönliches
Verhältnis zur Hegeischen Philosophie, eine eigene !
Deutung dieser seltsamen Gedankenwelt und schließlich j
die Kunst, das Wesentliche zu erfassen und lebendig [
an den Mann zu bringen. Alle diese Erfordernisse sind j
in dem vorliegenden Werke verwirklicht. Deshalb ge- i
bührt ihm ein erster Platz unter der gewiß nicht ge- j
ringen Hegelliteratur unserer Tage.

Im ersten Abschnitt gibt Hartmann eine zusammen- I
fassende Übersicht über „Hegels Begriff der Philo- |
sophie". Er zeigt, wie wir ihn lesen und verstehen |
müssen, hebt die bleibenden und gerade heute wieder
aktuellen Bestandteile der genialen Schöpfung hervor,
sucht sie aus der geistigen Lage ihrer Zeit heraus zu
begreifen, stellt sie in den Strom der philosophischen
Gesamtgeschichte und läßt im Hintergrund die geistige
Gestalt ihres Urhebers selbst sinnkräftig emporwachsen.
In diesen ersten, höchst instruktiven Abschnitten, die |
ihren Gegenstand mit souveräner Meisterschaft behandeln
, werden alle Hauptmotive für die folgende Darstellung
angeschlagen. Hartmann stellt die Gesichtspunkte
heraus, unter denen er Hegel betrachtet, und gibt
die entscheidenden methodischen Handhaben, mittels j
derer er das Hegeische System nachschaffend gestalten i
will. Vor allem weist er den Leser immer wieder darauf |
hin, daß ein wirklich kongeniales Verstehen Hegels !
nicht möglich ist ohne die „Anstrengung des Begriffes", j
ohne jene hingebungsvolle Mitarbeit, die, von allen Vor- j
urteilen und eingerosteten Mißverständnissen absehend,
in den Hegeischen Denkstrom wirklich eintaucht und j
sich von seiner Dynamik erfassen läßt. . I

In den drei weiteren Abschnitten erfolgt dann die
Darstellung des Systems selbst, wie es sich aus innerer j
sachlicher Notwendigkeit in organischem Wachstum ent- j
faltet. Das Kapitel, das von der Phänomenologie des
Geistes handelt, befaßt sich mit den Grundzügen des j
in einer allmählichen Stufenfolge zu sich selbst kommenden
Bewußtseins und mit der Methode, die zu |
ihrer Erfassung führt. Es handelt sich hier wirklich J
um eine Wesensschau von Sinnformen, die der moder-
nen Phänomenologie verwandt ist und für diese neue
„Wissenschaft" eine ungeheuere Vorarbeit geleistet hat. i
Vor allem hebt Hartmann den rein deskriptiven Charakter
des Hegeischen Denkens hervor, das, weit ent- i
fernt, abstrakt zu deduzieren, die Erfahrung zu Rate
zieht und sie schauend beschreibt. Freilich steht die
Identitätsphilosophie im Hintergrund: dieselben Wesens-
zÜge und Gestaltformen, die die Beobachtung des sub-
jektiven Bewußtseins zu Tage fördert, zeigen sich auch

im Bereich des objektiven Seins. So wechseln geistige
Aktanalyse und geschichts-philosophische Interpretation
miteinander ab — eine Stilmischung, die dem modernen
Empfinden doch fremd geworden ist.

Hat es die Phänomenologie mit den Grundzügen
des Wissens zu tun, das „erscheint" und somit rein erfahrungsgemäß
zu beobachten ist, so die Logik mit dem
realen Wissen, das der Erscheinung zugrunde liegt. Zu
diesem kommt die Vernunft nicht, indem sie das Reich
der Phänomene beschreibend durchwandert, sondern,
indem sie in ihre eigene Tiefe steigt und die logischen
Grundgesetzlichkeiten erkennt. Sie erfaßt damit das
Absolute. Denn wenn die absolute Vernunft auch unendlich
weiter reicht als die subjektive, so kommt sie in
dieser doch zu unmittelbarem Ausdruck. Die Logik Ist
daher stets wesenhafte Ontotogie, Metaphysik oder
Theologie. Hegel macht durchaus ernst damit, daß die
Erfassung der logischen Grundkategorien und ihres
eigentümlichen „Lebens" identisch ist mit der Sichtbarmachung
des Absoluten, und gerade in Hartmanns
Darstellung springt diese Tatsache deutlich heraus. In
dein Abschnitt, der von der Wissenschaft der Logik handelt
, werden zunächst die tragenden Grundbegriffe erörtert
, auf denen Hegels Geistesbau beruht. Wir werden
in ziemlich schwierige und abstrakt anmutende Erörterungen
über die Kategorie des Absoluten, über den
Sinn, das Problem und das formale Gesetz der Dialektik
, über Endlichkeit und Unendlichkeit, Reflexion und
Wesen, Begriff und Subjektivität usw. eingeführt. Es
scheint zunächst, als verlöre sich die Darstellung in formalistischen
Begriffsspaltereien und inhaltslosen Denkbeziehungen
. Aber allmählich beginnen diese Partien
doch zu sprechen, und man erkennt, daß in ihnen wirklich
das eigentümliche Leben der Hegeischen Philosophie
wohnt, und daß nur der in die Grundlagen des
Ganzen eindringt, der sich diesen höchst scharfsinnigen
und energischen Reflexionen unterzieht. Für diese
Mühe belohnt der letzte Abschnitt, der „das System auf
Grund der Logik" vor uns aufbaut und die ganze Anschauungsfülle
und den ungeheueren Sinnreichtum der
konkreten Hegeischen Philosophie lebendig werden
läßt. Besonders die Welt des objektiven Geistes, wie
er sich im Bereich der „Kultur" vielgestaltig entfaltet,
wird ausgiebig und plastisch erörtert.

Wir können uns hier natürlich nicht in eine Erörterung
von Einzelheiten einlassen. Rein technisch sei
bemerkt, daß man bei Hartmann immer das Gefühl hat,
auf unbedingt sicherem Boden zu wandeln, und daß er
ein sachkundiger Führer ist, auf den man sich vollkommen
verlassen kann. Wo es nötig ist, leistet er subtilste
analytische Feinarbeit; doch geht der Zusammenhang
mit dem Ganzen und die große Perspektive nie verloren
. Wer Hartmanns Darlegungen mit den Quellen
in der Hand nachschaffend folgt, wird einen wirklichen
Gewinn haben und Hegel — wenn überhaupt — begreifen
lernen.

Zum Inhaltlichen nur so viel, daß Hartmann an
Hegel gerade das besonders unterstreicht, was ihm
übergeschichtlich und somit auch zeitgemäß zu sein
scheint. Drei Punkte kommen hier vor allem in Betracht
. Zunächst der schon betonte deskriptive Zug des
Hegeischen Denkens, das nicht formalistisch konstruiert
, sondern aus der Schau der Wirklichkeit heraus
arbeitet. Auch die Dialektik ist in Hartmanns Augen
kein öder Begriffsschematismus, sondern eine höchst
wesensnahe, sich dem wirklichen Leben anschmiegende
und deshalb außerordentlich leistungsfähige Methode.
Durch die von Hegel bewiesene Ehrfurcht vor dem
Sein wird die formalistisch-subjektivistische Haltung des
die Wirklichkeit „erzeugenden", d. h. abstrakt aus dem
Ich herausspinnenden Idealismus überwunden und die
Wendung zum Ontologischen hin bewußt eingeschlagen.
Wegen dieser Umbiegung ist Hegel für Hartmann ganz
besonders „modern". Schließlich wehrt sich Hartmann
gegen das Mißverständnis eines bei Hegel vorliegenden