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Ausgabe:

1931 Nr. 8

Spalte:

184-187

Autor/Hrsg.:

Müller, Hans Michael

Titel/Untertitel:

Erfahrung und Glaube bei Luther 1931

Rezensent:

Vogelsang, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 8.

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aber von diesem als solches gekennzeichnet ist a. a. O. fach in anderen Religionen auftrete. Natürlich meint S.

S. 45) unbedacht übernommen. S. 102 wird eine Stelle eine sehr bestimmte, spezifisch christliche Auffassung

als W. L. III, S. 17 stehend angeführt, die sich in Wahr- davon, wie Gott in der Welt wirklich wird. Höchstens

heit W. L. I, S. 155 befindet, usw. wenn er einmal auch die dingliche Verwirklichung Got-

S. 1 heißt es „auf Kosten der Schönheit . . ." statt tes im katholischen Sakrament zu dieser Inkarnations-

„zugunsten von Schönheit . . ."; S. 25 ist von der Un- idee in Beziehung bringt, läuft der Begriff Gefahr, er-

kenntnis B.s in der Philosophie seiner Zeit die Rede, wo weitert und erweicht zu werden (S. 2).

offenbar seine Unbekanntheit gemeint ist (sollte Im Sinne des Evangeliums und seiner durch Luther

F.s Muttersprache nicht das Deutsche sein?). wieder entdeckten neuen Gestalt besteht die Inkarnation

Schlimmer sind sachliche Irrtümer. Von Ihnen ist darin, daß Gott, der das All als Lebenskraft Erfüllende,

einer so grob, daß man bei allen Vorzügen der Schrift aber Unfaßbare, für uns greifbar, „konkret" wird in der

sich nicht getrauen möchte, sie zur Einführung rück- Offenbarung, d. h. zunächst in Christus, in Christi Le-

haltlos zu empfehlen: S. 58 wird Urteil und bloße Aus- ben, Sterben, Auferstehen, und danach auf dieselbe para-

sage unterschieden; als Beispiel der Aussage dient der doxe Art im menschlichen Leid, in der Sünde, die, wenn

Satz: „ich schreibe ein Buch", als Beispiel für ein Ur- sie als Gottestrennung gefühlt werden, schon Gott in

teil der andere: „mein Buch ist schön". Nach Bolza- sich tragen und ihn in der Rechtfertigung bringen —

nos unzweideutiger Lehre besteht aber zwischen diesen freilich wieder als „verborgenen", aber Heil schaffenden

Sätzen nicht der mindeste logische Unter- Gott. So muß das Ewige in dauernder Inkarnation und

schied — sie sind zunächst beide Aussagen, sie ohne sich zu depotenzieren, zeitlich, endlich, Wort,

können aber auch beide zu Urteilen werden, wenn sie Fleisch, kurz: Geschichte werden (S. 14 f.), denn es ist

nämlich, was man ihnen nicht ohne weiteres ansehen nach christlichem Glauben nie „an sich", sondern nur im

kann, zugleich ausdrücken, daß der Aussagende den In- Endlichen wirksam und heilsam, als die Dynamis, die

halt seiner Aussage für wahr hält (oder von ihm über- Welt und Kultur gestaltet.

zeugt ist). Wertbezogenheit hat B. mit Recht von der Dieser Inkarnationsgedanke, in bewußten Gegensatz

Charakterisierung der Urteile ferngehalten. gegen neueste theologische Abwege gestellt, macht

Unzulänglich und darum irrig ist es auch, Erkennt- Ernst mit der Wirklichkeit Gottes in, nicht über seiner

nis im Sinne Bolzanos als das zu betrachten, „was Schöpfung, und zwar im „Gegensatz" der scheinbaren

durch einen psychischen Akt, der auf eine Wahrheit an Lebenshemmungen. Und doch wird die Gleichsetzung

sich gerichtet ist, im Bewußtsein hervorgebracht wird"; des Absoluten mit seinen begrenzten Erscheinungsfor-

denn das würde auch für die bloß vorgestellte Wahrheit men vermieden. Auf jeden Fall handelt es sich hier

gelten. Erkenntnis ist vielmehr, wie Bolzano wiederholt um einen bedeutenden geschichtsphilosophischen Ansatz,

hervorhebt (z. B. W. L. III, S. 207) das aktuelle oder von Luthers Gedankengut aus über jede Art geschichts-

dispositionelle richtige d. h. wahrheitsgemäße Urteil. loser Weltanschauung hinauszuführen. Wichtigste Fra-

Als Verehrer einer auf Piaton und Aristo- gen werden dadurch aufgeworfen: wie verhält sich die
teles gegründeten Philosophie bringt Fels (wie dies grundlegende Inkarnation in Christus zu der dauernden
übrigens auch sonst üblich ist) B. in eine unnötig große in den religiösen Schicksalen des Einzelnen? Ist bei der
Nähe zu Piaton und übersieht die realistischen Elemente letzteren Inkarnation die Kategorie der Persönlichkeit in
seiner Philosophie. Sein „Ansich" bedeutet primär ge- gleicher Weise anwendbar oder bleibt es bei der dyna-
nominen keineswegs die bewußte Betonung der Idee mistischen Fassung Gottes? Weiter: wie verhält sich
der Dinge, sondern die Unabhängigkeit von deren geisti- jener Gott als Lebenskraft zu dem Gott, der sich —
gern Haben oder Erfassen: Antipsychologismus ! gar nicht panentheistisch — in der Heilsgeschichte offenist
rein als solcher noch durchaus kein platonischer bart und der, freilich in noch veränderter Fassung, bei
Idealismus. '■ Luther jm unüberbrückbaren Gegensatz zu jenem steht?

Noch viel weniger aber ist er Idealismus des „rei- Endlich: wie verhält sich überhaupt das Ewige in der

nen Bewußtseins". Wenn F. die Apriori-Sphäre des Geschichte zu dem Ewigen in der Heilsgeschichte? Die

Bolzanoschen , Ansich" als , reines Bewußtsein" bezeich- Formel „Geist als Geschichte" (S. 3) müßte sich ver-

net, so deutet er in höchst unzulässiger Weise Husserl- wandeln in die andere: „Geist als Heilsgeschichte", wie

sehe Gedanken in Bolzanos Lehre hinein (S. 34). es 111 der Intention des Verf. zweifellos hegt (S. 14).

Den alten Irrtum, Husserl habe das große Ver- Von diesen tief gelegten Fundamenten aus bietet die
dienst, das Werk Bolzanos von neuem erweckt zu haben, Betrachtung weiterhin noch mancherlei neue Betrachteilt
auch Fels (S. 23): in Wahrheit hat, wie ich schon tungen, indem sie Luthers Glauben in seinen religiösen
in meinen Grundfragen der Wahrn.-Lehre hervorge- unQ ethischen Grundanschauungen knapp und scharf
hoben habe (S. 21), K. Twardowski dieses Ver- umreißt und geistesgeschichtheh abgrenzt und daran die
dienst. Husserl hatte nur das Glück, daß sein Hin- an die Reformation anschließenden Entwicklungslinien
weis in eine spätere und für die Aufnahme Bolzanoscher lni Calvinismus, Spiritualismus, Humanismus zieht. Daß
Gedanken günstigere Zeit fiel die 'deen der französischen Revolution ihre letzten

Durch "nichts gerechtfertigt ist auch die sonderbare Wurzeln im Spiritualismus haben (S. 8), gilt natürlich

Behauptung des Verfassers, Bolzano habe die Ein- nur für einen Bruchteil, vielleicht den am tiefsten ge-

steinsche Relativitätstheorie inauguriert wurzelten, ihrer Vorkampfer. Bei der Beleuchtung der

jca. p. F. Linke. ! noch ungeklärten Nachkriegsprobleme wird nicht jeder

----—7—n.„ . n ., _ "G7:m „ jedem Urteil des Verf. zustimmen, wohl aber aus jedem

Seeberg , Erich: Uber da Problem des Protestantismus. j { t wie yi , gich . fe J

Vortrag geh. am 13. Januar 1929 anlalil. d. Gr indungstages. Halle _ , J". , „2V ,„• j 1 ■ •_ ■ .. 1 ■ r

a.s.: m. Niemeyer 1929. (ii, 15 s.) gr. 8". = Schriften d. Königs- : ™™ darbieten laßt und wie dabei eine in die Tiefe

berger Gelehrten Gescllsch., 6. Jahr, ii. 1. rm 1.8o. - gehende Beleuchtung von hohem Wert (denn eine sol-

Das Problem des Protestantismus liegt darin, daß , .he l«gt in der so gefeßten Inkarnationsidee und ihrem

er nicht identisch mit dem Urchristentum, ja nicht ein- ' dynamistischen Gottesgedanken) gegeben sein kann.

mal etwas in sich Abgeschlossenes wie der Katholizis- Ha"e-_____E. Kohlmeyer.

mus, sondern eine sich immer neu erzeugende, dyna- Müller, Priv.-Doz. Dr. Hans .Michael: Erfahrung und Glaube
mische Große ist, die gleichwohl beansprucht das 1 bei Luther. Leipzig: J. C Hinrichs 1929. (viii, 199 s.) gr. 8°.
„ewige Evangelium" zu bringen. Und die einheitliche rm 9.75.
systematische Anschauung von der Grundidee des Chri- M.s Buch behandelt eine Fülle von Problemen. In
stentums, welche die Fülle stofflicher und gedanklicher Kürze darüber zu referieren schiene mir unmöglich,
Beziehungen dieses Vortrags zusammenhält, ist der Be- wenn nicht das Ganze von einem einheitlichen Grundgriff
der Inkarnation. Was S. darunter versteht, ist nicht gedanken beherrscht wäre, welcher, mannigfach
damit abzuweisen, daß diese Idee längst vorher und viel- ' variiert, alle Fragen in bestimmter Weise beleuchtet.