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Ausgabe:

1930

Spalte:

169-171

Autor/Hrsg.:

Jaeger, Werner

Titel/Untertitel:

Die geistige Gegenwart der Antike 1930

Rezensent:

Bultmann, Rudolf

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung

Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack
Herausgegeben von Professor D. Emaniiel Hirsch unter Mitwirkung von
Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Hans Lietztnann, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin

Mit Bibliographischem Beiblatt in Vierteljahrsheften, unter Mithilfe von Prof. Lic. K. D. Schmidt, Kiel,
bearb. v. Lic. H. Kittel u. Lic. Dr. Reich, beide in Göttingen.
Jährlich 26 Nrn. — Bezugspreis: halbjährlich RM 22.50. — Verlag: J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung, Leipzig.

cc l„U-~ M. 0 Manuskriote und gelehrte Mitteilungen sind ausschließlich an Professor D. Hirsch in Döttingen, 17 Anril 1Q3H

55. Jahrg. INT. 0. H^nholzweg 62, zu senden, Rezensionsexemplare ausschließlich an den Verlag. ll" zApril IVOU

Spalte

Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike
(Bultmann).................169

Erman: Mein Werden und mein Wirken
(Wiedemann)................171

Meyer: Gottesstaat, Militärherrschaft und
Ständewesen in Ägypten (Ders.)......172

Spiegelberg: Drei demotische Schreiben
aus der Korrespondenz des Pherendates,
des Satrapen Darius' L, mit den Chnum-
priestern von Elephantine (Ders.).....173

Spalte

Schmidt: Die Alkoholfrage Im Alten Testament
(Bertholet)..............173

Meyenberg: Leben Jesu-Werk (Dibeliiis). 174
Pniram: De genuino Apocalypsis Petri textu

(Hennecke).................175

Bring: Dualismen hos Luther (Hirsch) . . 177
Werdermann: pfarrerstand und Pfarramt
im Zeitalter der Orthodoxie in der Mark

Brandenburg (Laag)............182

Böhme: Die Krisis der englischen Staatskirche
(Hirsch)...............182

Spalte

Sören Kierkegaards Papirer (Hirsch) .... 183
Brunncr: Die Mystik und das Wort

(Wobbermin)................185

Kaufmann: Die Philosophie des Grafen

Paul Yorck von Wartenburg (Koepp). . . 188
Tonnesen u. Iversen: Die religiöse

Erziehungsaufgabe im heutigen Bauerntum

(Heckel)...................189

H e i t in a n n : Krisis und Neugestaltung im

Erziehungswerk (Ders.)...........190

Rendtorff: Getrostes Wandern (Hauck) . 191

Jaeger, Wemer: Die geistige Gegenwart der Antike. Berlin
W. de Gruyter & Co. 1929. (40 S.) gr. 8°. RM 2.50

In diesem Sinne wird auch für die Theologie und
speziell für den Neutestamentier der Ruf des Verf.s zum
Studium der Antike Antwort finden müssen. Ist es für
„Die vorliegende Rede ist in der Festsitzung der die Theologie heute ein konkretes und drückendes Pro-
ersten öffentlichen Tagung der Gesellschaft für antike , bjeiri) das christliche Daseinsverständnis in seinem VerKultur
am 23. April 1929 zu Berlin gehalten worden." j hältnis zum idealistischen zu bestimmen und für die
Sie will zeigen, wie die Antike als xif;«a ig c.ec auch Explikation des christlichen Daseinsverständnisses die
im Leben unserer Gegenwart zur Wirkung bestimmt ist. I rechten Begriffe zu finden, so ist es allerdings eine drin-
Wir haben freilich kein Genüge mehr an der realisti- gende Aufgabe, dem Ursprung unserer traditionellen Be

sehen Geschichtsbetrachtung, die, für die „Zeitge
schichte" interessiert, das Gewesene als Vergangenes rekonstruierte
, wir fragen nicht nach den Anfängen,
sondern nach den Prinzipien unserer Kultur, wir
fragen deshalb nach den die Zeit überdauernden Werken
der Antike. Und wiederum nicht wie einst der
Klassizismus, als seien sie zeitlose Musterbilder und absolute
Nonnen für Kunst und Gedanke; auch nicht wie

grifflichkeit bis in die Antike nachzugehen und klar zu
stellen, welches Seinsverständnis sie impliziert. Es ist
dem Verf. zu danken, daß er auch diese Aufgabe von
ferne gesehen hat. Er bezeichnet den Protestantismus
als die Wiederentdeckung des ursprünglichen Gegensatzes
zwischen dem natürlichen Menschentum der Griechen
und dem überweltlichen Gottesreich; und er meint,
der Protestantismus habe die ideale Aufgabe, die beiden

Nietzsche oder Bachofen, um ein irrationales, neudiony- Mächte wieder zu versöhnen. Aber dabei geht der Verf.
sisches Menschentum zu entdecken; — sondern warum ? on der Voraussetzung aus, daß das Wesen des Prote-
Dem modernen Subjektivismus, der immer weitergehen- ; stantismus jene Steigerung der Individualität und jener
den Steigerung und Bewußtwerdung der Individualität ! Subjektivismus sei, und er meint die „Innerlichkeit"
gegenüber liegt die Bedeutung der Griechen in ihrer Ob- | Kierkegaards in diesem Sinne interpretieren zu dürfen,
jektivität. Das Ringen um ein Selbstverstand nis und j Nun ist aber Kierkegaards „Innerlichkeit" freilich „Sub-
um den Selbstaufbau des geistigen Menschen, um feste > jektivität", aber kein Subjektivismus, sondern die „subFormen
des Lebens in Wissenschaft, Kunst und Staat jektive" Aneignung des „Objektiven", der Ernst
zwingt uns zur Auseinandersetzung mit der Antike, in und die Gewißheit, mit der sich das individuelle
der der Ursprung unserer abendländischen Kultur liegt, 1 Leben als einzelnes in seiner konkreten zeit-
und in solcher Auseinandersetzung müssen Wurzeln und j liehen Existenz unter das „Objektive" stellt, wie denn

Wesen dieser Kultur deutlich werden. So „wird die Be
gegnung mit den Griechen uns von neuem ein Weg zur
Selbstgestaltung".

Im Rahmen einer Rede konnte wohl nicht eigentlich

für Kierkegaard schon Sokrates ein Vertreter dieser
„Innerlichkeit" ist (vergl. z. B. in der Diederichschen
Ausg. Bd. 5 S. 137—153; Bd. 6 S. 248—300). Das Geschichtsbild
des Verf.s dürfte reichlich vereinfacht sein.

deutlich werden, wie sich der Verf.die Auseinandersetzung j Freilich, die Übertreibung, „daß unser gesamtes geisti
mit der Antike denkt. Wohl ist es richtig, daß in den Wer- j ges Denken seinen Maßstab und sein inneres Zentrum

ken der Antike die Möglichkeiten des Menschlichen,
die auch die unsern sind, klassische Gestalt gewonnen
haben, und daß uns die antike Welt deshalb nicht ein
schönes Schauspiel, sondern Frage und Gabe bedeutet.
Mir scheint aber, daß die Begriffe Objektivität, Gestaltung
und verwandte zu formalistisch sind, um die Be-

durch die Antike erhalten hat" (S. 10), wird von ihm
selbst insofern zurückgenommen, als das Christentum ja
auch in Rechnung gestellt wird. Aber nicht berücksichtigt
ist jene große geistige Bewegung, in der der moderne
Individualismus und Subjektivismus seinen Ursprung
haben dürfte, jene Bewegung, die im Nominalis-

deutung der Antike positiv zum Ausdruck zu bringen, | mus (und in der deutschen Mystik) entsprungen ist,
und ich glaube, man wird diese Bedeutung nur dann | deren Verhältnis zur Antike freilich ein komplizierter ist,

wirklich deutlich machen, wenn man zeigen kann, wie
konkrete Notwendigkeiten der Gegenwart durch das
Studium der Antike ihre Klärung empfangen. Das
schwebt dem Verf. auch wohl vor, wie seine Erinnerung
an Piatons Staat zeigt.

und die z. B. H. Heimsoeth (die sechs großen Themen
der abendländischen Metaphysik) zu Unrecht auf christliche
Motive zurückführt. Diese Bewegung, in der Naturphilosophie
der Renaissance erstarkend, ist auf dem
Wege über Leibniz und Shaftesbury, Hamann und Her-

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