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Ausgabe:

1930 Nr. 7

Spalte:

164-165

Autor/Hrsg.:

Piper, Otto

Titel/Untertitel:

Vom Machtwillen der Kirche 1930

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 7.

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nicht auf Gestalt und Leben der Kirche Bezug hätte,
findet sich im ganzen Jahrgang nicht.

Wenn es so die erste Absicht der Herausgeber ist
zu unterrichten — sich selbst wie andre, wie sie im Geleitwort
bescheiden bemerken —, so steht doch dahinter
noch etwas andres: sie wollen sich auf diesem Wege
eine Wegweisung für die Erneuerung des kirchlichen
Bewußtseins, für den Kirchengedanken der Zukunft erarbeiten
. Einen einzigen Punkt legen sie darum im Geleitwort
fest: der religiöse Individualismus muß begrenzt
werden. Der Christ weiß sich durch eine successio
apostoüca im weiteren freien Sinne, durch einen Strom
unabgebrochenen geistlichen Lebens mit der christlichen
Kirche der Urzeit verbunden. Der aufbauende neue Kirchengedanke
kann nicht gefunden werden ohne einen
Blick zurück in alte und älteste Zeit. Soweit in den
Denkmälern und den Menschen und Geschehnissen der
Vergangenheit das Werk des lebendigen Gottes an
seiner Kirche in früheren Tagen sich ausdrückt, soll
auch in der Zeitschrift davon geredet werden.

Hierhin gehören etwa folgende Stücke: Scharling, Gedanken über
die Kirche in der ersten christlichen Gemeinde; Nojgaard, Wollte
Luther einen Kirchenbruch ? — Übersetzungen aus Thomas a Kempis
und nach Gerhard Tersteegen.

Einige Aufsätze suchen schließlich von den Andeutungen
des Geleitworts her Näheres über den Kirchengedanken
zu sagen. Scharling und Bang erheben
Einspruch gegen die Redewendung vom Bankrott der
Kirche. Höchstens von einzelnen kirchlichen Richtungen
und Erscheinungen könne man sagen, daß sie Bankrott
gemacht haben, niemals von der Kirche als ganzer.
Nur wenn man die eigentümliche Aufgabe der Kirche,
die unberührt ist von den mit Not belasteten Verhältnissen
der Gegenwart, verkenne und ihr gegen ihre Art
zumute, wirtschaftliche und politische Gegenwartsfragen
zu lösen, könne man zu einem so irrigen Urteil kommen.
Ich zitiere einige Sätze von Bang (S. 353):

„Daraus folgt: wenn man sagt, die Kirche habe Bankrott gemacht
oder ihre Ohnmacht erwiesen, so sagt man eben damit, der Herr der
Kirche habe Bankrott gemacht und seine Ohnmacht erwiesen. Darum
ist diese Behauptung ein todbringender Stoß wider den Glauben; räumt
man ihre Richtigkeit ein, so ist der christliche Glaube untergraben, in
seinen Grundfesten erschüttert. Nur weil man den Kirchenbegriff verflacht
hat, ihn mit weltlichen Einrichtungen gleichgesetzt hat, ist es
möglich gewesen, eine so fürchterliche Behauptung aufzustellen. Der
Herr der Kirche macht nicht Bankrott."

Bang nennt bei seiner Polemik keinen Namen.
Scharling sagt offen, daß seine Verteidigung der Kirche
sich außer gegen die dänischen Barthianer vor allem
auch gegen Geismar's Schrift „Kristendommen og vor
Tids Kultur" (Das Christentum und die Kultur unsrer
Zeit) wende. Wahrscheinlich würden dann beide Verfasser
auch mit einigen Urteilen im letzten Kapitel meiner
Schrift „Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert
" in Widerstreit kommen. Ich darf darum vielleicht
bemerken, daß mir hier bei Scharling wie bei
Bang verkannt zu sein scheint, aus was für einer Liebe
zur eignen Kirche gerade die scharfe Kritik hervorgehen
kann; daß außerdem aber bei beiden eine dialektische
Gleichsetzung vollzogen scheint, über deren Recht man
verschiedner Meinung sein kann, die nämlich zwischen der
wahren geistlichen Kirche und unsern verfassungsmäßig,
gottesdienstlich usw. organisierten, von bestimmten
Glaubens- und Sittenlehren bedingten Kirchen. Es ist
eine durch den vorliegenden ersten Jahrgang noch nicht
völlig geklärte Frage, ob und in welchem Umfange und
welchem Sinne diese Gleichsetzung von dem die Zeitschrift
tragenden Kreise beabsichtigt ist. (Der übliche
Hieb gegen die unsichtbare Kirche ist allerdings gelegentlich
schon geführt). Über diese Frage wird die
Zeitschrift sich klar werden müssen. Von der Antwort,
die man hier gibt, hangt ja schließlich das Verhältnis
zum reformatorischen Evangelium ab.

Im ganzen macht die Zeitschrift nicht nur einen
sehr ernsten und vornehmen, sondern auch einen stillen

und ruhigen Eindruck. Ihr letztes Ziel ist jedenfalls die
! Sammlung aller der jüngeren Geistlichen und Gemeinde-
! glieder, welche in keiner der hergebrachten drei Rich-
| tungen der dänischen Kirche eine Heimat finden kön-
I nen, ebensowenig aber den Weg Geismars oder gar den
! der dänischen Barthianer mit zu Ende gehen wollen,
i Daß die eigene Entwicklung nach manchen Seiten noch

völlig offen scheint, ist unter diesen Umständen in ihren

Augen wohl eine Stärke.
Göttingen.___ E. Hirsch.

Piper, Otto: Vom Machtwillen der Kirche. Tübingen: J. C.
B. Mohr 1929. (41 S.) gr. 8°. = Sammlung gemeinverständl. Vorträge
u. Schriften aus d. Gebiet d. Theolog. u. Religionsgesch., 138.

RM 1.80; in Subskr. 1.50.

Im Juni 1929 fanden sich jüngere Theologen in
[ Marburg zu einer „jungevangelischen Tagung für Kirchenpolitik
" zusammen. P. hielt dort den Hauptvortrag,
aus dem die vorliegende Schrift geworden ist. Daß die
Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Art der Kirchen-
politik weit verbreitet ist, ist richtig (übrigens war die
junge Generation immer mit dem Werk der älteren
unzufrieden!); nur fehlten bisher nähere Vorschläge
über andere Methoden. Man liest daher mit Spannung,
wie ein Wortführer der Jungen (sicherlich übrigens nur
eines Teils von ihnen) die Sache ansieht. Erfreulich ist,
daß P. die Notwendigkeit der äußeren Gemeinschaft der
Kirche mit Entschiedenheit bejaht; seine Absicht ist gerade
, an die Umgestaltung der rechtlichen Organisation
der Kirche zu gehen. Grundthese ist: Kirchenpolitik aus
Glauben. Das Hauptübel des heutigen Kirchentums, der
Machtwille, soll ersetzt werden durch einen „gläubigen
Gestaltungswillen". Im einzelnen gibt P., namentlich in
der Grundlegung, viele recht gute Ausführungen; seinen
Sätzen über die Doppelnatur der Kirche kann ich durchaus
zustimmen. Auch darin hat er unbedingt Recht,
daß die Kirche ihre äußere Existenz nie als Selbstzweck
habe, sondern damit Gottes Herrschaft auf Erden wirklich
werde. Nur ist dieser Satz nicht neu; ich habe genau
dasselbe gesagt (Grundriß der Prakt. Theol. 2. A.
S. 13), und es ist Grund anzunehmen, daß es überhaupt
keinen evangelischen Kirchenpolitiker gibt, der
nicht der gleichen Meinung wäre. P. durchmustert nun
die konkreten Formen des kirchlichen Lebens daraufhin,
wieweit sich heut in ihnen ein falscher Machtwille
äußert. Hier liegt die Schwäche seiner Ausführungen;
er bringt an keiner einzigen Stelle einen Beweis für das
Dasein dieses Machtwillens; er behauptet ihn nur. Dazu
darf man sagen, daß, wenn die Kirche „aus Glauben
" Wege geht, wie P. selbst sie rät (Pflege und
Schaffung religiöser Sitte, pädagogische Kirchenzucht
u. a.), ihr die Anklage auf „falschen Machtwillen" sehr
kräftig entgegengeschleudert werden wird; nichts hat ja
dieser Anklage so viel scheinbares Recht gegeben als
die Kirchenzucht. Die Schulpolitik der Kirche soll vom
falschen Machtwillen inspiriert gewesen sein. Das ist
ein Irrtum; die Kirche will dabei nichts, als ihrer Aufgabe
dienen. Nun versucht P. auch positiv an einigen
Punkten zu zeigen, wie die Kirchenpolitik aus Glauben
vorgehen muß. Die Kirche muß Gewähr dafür haben,
daß der Religionsunterricht in ihrem Sinn erteilt wird.
Dazu soll sie aber nicht Leitung oder Kontrolle erstreben
, sondern sie wird vor allem versuchen müssen,
die Lehrpersonen zu gläubigen Christen zu machen. Die
Kirche darf keine kirchliche oder religiöse Minderheit
von maßgeblicher verantwortlicher Mitarbeit ausschließen
. Aber maßgebend kann doch nur Mehrheit
oder Minderheit sein? Nun, dem Wesen der Kirche
widerspricht es, grundsätzliche Fragen durch Mehrheitsbeschlüsse
zu erledigen. Die Verfassung muß „dafür
sorgen, daß die Gruppen auf einander hören"; man
muß solange bei einander bleiben und einander zu verstehen
suchen, bis schließlich ein einheitlicher Beschluß
zustandekommt. Für die Gemeindevertretung sollen die
Kandidaten durch eine Gemeindeversammlung nominiert
werden u. a. m. Es sei noch einmal gesagt, daß die