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Ausgabe:

1930 Nr. 7

Spalte:

158

Autor/Hrsg.:

Gerhardt, Martin

Titel/Untertitel:

Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild. II. Bd 1930

Rezensent:

Schreiner, Helmuth

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157

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 7.

158

zeigen, „nach und nach" fort (S. 65): jede der christlichen „Religionen",
deren Eigentümlichkeiten ihre natürlichen Ursachen haben, aber im
göttlichen Heilsplan liegen, hat einen Teil der Wahrheit, aber kerne
die Fülle des Ganzen. Die Kinder Gottes in den Konfessionen vereinigen
sich über den Wahrheiten, die „essentiell" sind (S. 2). An diesen
liegt hinsichtlich der Wahrheitsfrage die Grenze der Einheit, auch
innerhalb der einzelnen Kirchen. In der bleibenden Mannigfaltigkeit
wird die Einheit, die Harmonie gefördert durch gegenseitige Geduld
und durch den Willen, von einander zu lernen. — Den gleichen Eindruck
der Mannigfaltigkeit erweckt die Betrachtung der K i r c h e n g e -
schichte. (3. Vortrag: „Die Geschichte und die Entwicklung).
War Z. zunächst dem üblichen Geschichtsbild des Pietismus gefolgt,
so kam er auch hier zur Würdigung der einzelnen geschichtlichen Erscheinung
als individueller Gestalt. Jede Zeit hat ihren „sensum numi-
nis" (S. 164), ihren „epochialischen Geist" (S. 162), ihren bestimmten
Auftrag, ihre Wahrheit, die sie in ihrer „Ökonomie" zu vertreten hat.
Über den Zusammenhang der einzelnen Zeiten hat sich Z. verschieden
geäußert: einmal im Sinne eines stufenweisen Fortschritts zu immer
besserem Verständnis Christi und seiner Offenbarung - vielleicht besser
mit dem Wachsen des Senfkorns zu vergleichen als mit „Entwicklung
zu bezeichnen — dann wieder im Sinn eines Auf- und -Ab, weil die
.sichtbare Kette" für unsere Augen verborgen ist und das Reich Christi
jetzt unter der „Kreuzgestalt" erscheint. So überwiegt hier durchaus
der Bndruck bewegter Fülle der nebeneinanderstehenden und aufeinander
folgenden Individualitäten als der einer strengen Zielstrebigkeit.

Zweitens ist der Aufschluß wichtig, den uns U.
über die Psychologie Z.'s selbst und über seine psychologische
Theorie gibt (4. Vortrag: „Das
Seelenleben").

Er zerstört die Legende, die in Z. den gefühlsseligen, sentimentalen
Atenschen sieht. Vielmehr war Z. abstrakt, dachte nicht bildhaft und
wußte nach seinen eigenen Worten wenig vom Gefühl. Denn „das
Gefühl selbst ist etwas Zweifelhaftes" und „Christus ist es wert, daß
wir ihm . . . ohne sehen glauben, ja auch ohne Zweifeln trauen, wenn's
wider alles Fühlen geht." (S. 193). Doch unterschied Z. zwischen dem
„Gläuben" und dem „wahren Gefühl", einer Gewißheit des „Herzens",
die auf einem „es ist mir so", einem „je ne sais quoi" beruht, worin
eine unmittelbare Verbindung mit Christus erfahren wird, ohne die der
Mensch zu einem skeptischen Wesen wird. Aus diesem Christusverhältnis
folgen „Warnung, Ahndung, Trieb" (S. 212), vergleichbar dem Gottesauftrag
der Profeten und Seher, nicht irgendwelchen seelischen Erregungszuständen
, Stimmungen oder Affekten. Denn diese Inspiration muß mit

Anwendung des Individualitätsgedankens auf die Geschichte
finden wir ähnliche Gedanken, wie sie später
von Herder vertreten wurden. Vielleicht führt die Anschauung
von der Mannigfaltigkeit der Individualitäten
und der zwischen ihnen bestehenden Harmonie auf
Leibniz, mit dem sich Z. nachweislich beschäftigt hat
(z. B. S. 322 Erwähnung der „Monades" allerdings in
einem eigentümlichen Sinn, und wenn Z. es für keinen
unklugen Gedanken hält „daß man das ganze Systema
mundi ansiehet als eine musikalische, vom Schöpfer
aller Dinge eingerichtete Harmonie, die sich als ein
Glockenspiel selbst spielt" S. 349). So könnte man Z.'s
geschichtlichen Standort hinsichtlich seiner Weltbetrachtung
zwischen Leibniz und Herder sehen. Freilich dienen
solche Fragen gerade zur Erkenntnis des Besonderen
. Denn z. B. ist Z. in den Einigungsbemühungen
einen anderen Weg als Leibniz gegangen. Er kennt
einen Austausch der Individuen, ein Sich-verlieren des
einen in den anderen (S. 311) — deutlich anders als
Leibniz, und endlich vertritt dieser doch die wesentliche
Gleichheit des Geschehens. In Herders Geschichtsfilo-
sofie sind die Gesichtspunkte äußerst mannigfaltig, während
für Z. das Bild des durch die Geschichte mit seinem
Leuchter wandelnden Heilands und der Glaube
an die Wiederkunft Christi in seinem Reich maßgebend
sind.

So regt U.'s Buch mit seinem außerordentlich reichen
Material die wertvollsten Fragestellungen für die
Erforschung Z.'s und der Brüdergemeine an. Darüber
hinaus ist aber wichtig, was an lebendigen Gedanken
zu den Themata Einheit, Christus und der Einzelne,
Christus und die Gemeinde darin enthalten ist.

Herrnhut. Heinz Renkewitz.

Gerhardt, Martin: Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild.
II. Bd. Höhe des Schaffens 1846- 1857. Hamburg: Agentur d.
Rauhen Hauses 1928. (438 S. m. 2 Tiefdr.-Beil.) 8°.

geb. RM 10—; Hldr. 13.50.
Dieser zweite Band der groß angelegten Biographie
dem Wort übereinstimmen, sonst ist sie Phantasie und eigener Geist. I Wicherns hebt sich ebenso wie der erste von der Dar-

Sie muß aber auch zum Wort hinzukommen (das Testimonium Spiritus Stellung Oldenburgs durch die exakte Verwertung des

sancti internum), sonst bleibt es bei einem selbstgemachten Glauben.
„Man muß warten, bis man Gnade zu einer Sache hat, und darf immer
nur soweit gehen, als man vor sich sehen kann. So ist Z. allem gezwungenen
und affektierten Wesen, auch bei der Sinnesänderung, feind.
Er verneint allen Moralismus und vergleicht das Leben des Christen am
liebsten dem organischen Wachstum des natürlichen Lebens. Denn es
werden charismatische Gaben und Kräfte geschenkt, die sich auswirken.
Da es Gaben sind, werden die Menschen unablässig daran geinahnt,
daß sie gerechtfertigte Sünder sind. Solche „originale Menschen" wirken
in einer Gemeine zusammen (5. Vortrag: „Der Gemeindiener und der
Gemeingeist"), stets korrigiert durch den Geist der Gemeine. Alle haben
ihre Quelle in Christus „wie alle Strahlen um die Sonne herum aus ihr
heraus und wieder in sie hineingehen" (S. 312 Anm. 640), eine Menge
von Instrumenten, die so zusammen gestimmt sind, daß man denken
kann, es sei ein Instrument. Es ist nur folgerichtig, wenn Z. bestrebt
ist, in religiöser Sprache, Einrichtungen und Kultus in den Gemeinen
alles im Fluß zu erhalten, damit nicht erstarrte Formen das Leben
hindern.

Der Historiker wird fragen, wo er zu diesen Gedanken
Z.'s — der spezifisch theologische Gedankenkreis
, z. B. die Rechtfertigung, das Einzelne der Christusauffassung
, auch das Verhältnis zur Theologie Luthers
ist nicht ausdrücklicher Gegenstand dieser Vorträge
— Voraussetzungen, Anknüpfungen und Analogien
findet. U. deutet an, daß alle Momente der späteren
romantischen Filosofie bei Z. zu finden seien, und daß
Z. und das Brüdertum an der Wende von Pietismus und
Aufklärung einerseits und der Romantik andrerseits
stünden (S. 344). Ein endgiltiges Urteil darüber wird
erst nach einer Betrachtung der Gemeingeschichte unter
diesem Gesichtspunkt möglich sein. Denn Z. und sein
Werk gehören zusammen. Hinsichtlich des Brüdertums
erscheint diese These fraglich, obwohl es im 18. Jahrhundert
auch in den Kreisen der deutschen Bildung sehr
beachtet woirde. Was Z. selbst angeht, so liegt die
Analogie zu Sturm und Drang näher, besonders in der
Hervorhebung des Intuitiven, Unmittelbaren. Bei der

geschichtlichen Materials erfreulich ab. Die Quellennachweise
(S. 411—38) sind übersichtlich geordnet und
erschließen für weitere Untersuchungen die Möglichkeit
ausgiebiger Auswertung. Der vorliegende Band enthält
im wesentlichen die Darstellung des Eintritts Wicherns
in die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Kapitell:
Die Ausbreitung der Arbeit bis zur Märzrevolution 1S48
(S. 11—71), IL die Revolution und der Wittenberger
Kirchentag (S. 71—119), III. Die Begründung des Centraiausschusses
für Innere Mission (S. 119—167) IV.—V.
Der Herold der Inneren Mission (S. 167—410). Durch
Gerhardts eindringliche Untersuchungen wird uns viel
stärker, als es bei Oldenberg der Fall sein konnte, ein
umfassendes Bild von den innerkirchlichen Schwierigkeiten
, mit denen Wichern zu kämpfen hatte, und seiner
ungeheuren Arbeitsleistung vermittelt. Eine ganze Fülle
wichtiger Einzelfragen, die bisher von der Wichern-
forschung kaum beachtet wurden, werden angegriffen.
Ich nenne nur zwei von ihnen, deren Verständnis für die
gegenwärtige Problematik unserer kirchlichen Lage von
großer Bedeutung ist: Wicherns Auseinandersetzung mit
Huber und seine Stellung zu den Selbsthilfeorganisationen
der Arbeiterschaft auf der einen Seite, und der
Gegensatz zu Fliedner inbezug auf die Auffassung des
Wesens der Diakonie auf der anderen. Es ist das Verdienst
Gerhardts, auch in dieser Frage nicht nur die
Bedeutung, sondern auch die Grenze Wicherns herausgestellt
zu haben. Freilich erliegt er ebenso wie im
ersten Bande dem Fehler, die Fülle der biographischen
Einzelheiten derartig in den Vordergrund zu stellen, daß
das Gesamtbild der Persönlichkeit nach seinem psychologischen
und geistesgeschichtlichen Hintergrunde dabei
zu kurz kommt. Auch das Tragische in Wicherns Lebensgang
wäre dann noch stärker erkennbar geworden.
Berlin-Spandau. _ Helmuth Schreiner.