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Ausgabe:

1930 Nr. 7

Spalte:

156-158

Autor/Hrsg.:

Uttendörfer, Otto

Titel/Untertitel:

Zinzendorfs Weltbetrachtung 1930

Rezensent:

Renkewitz, Heinz

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155

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 7.

156

Ziesemer, Walther: Studien zur mittelalterlichen Bibelübersetzung
. Halle a. S.: M. Niemeyer 1928. (V, S. 367—384
u. V, 8 S.) 4°. = Schriften d. Königsberger Gelehrten Gesellsch.
Geisteswiss. Kl., 5. Jahr, H. 5. RM 2 — .

Von neuem sehen wir Ziesemer auf die Frage der
ostd. Literatur und ihres Verhältnisses zur Luthersprache
eingehen. Schon bei seiner Ausgabe der Königsberger
Apostelgeschichte hatte er sie ja berührt, in der Absicht
, wieder zu betonen, daß Luther sich bei seiner
Bibelsprache einer Bewegung anschloß, „die schon lange
vor ihm im besten Fluß war". Neues Material in dieser
Sache vorzulegen, ist die Bemühung dieser Schrift.

Sie geht zunächst auf das Verhältnis der Mentel-
schen (M) zur Zainerschen (Z) Bibel ein und verweist
auf das Verschwinden veralteter Wörter, die M. noch besitzt
, bei Z. Als zweite Tendenz neben der Modernisierung
glaubt Ziesemer einen Ein-Fluß des Mitteldeutschen
in den Wortschatz wahrnehmen zu können.
Der Vergleich der Unterschiede zwischen M. und Z.
führt einmal zur Feststellung von Gemeinsamkeiten
zwischen der Königsb. Apg. (K) und Luther, von denen
beiden sich M. absetzt, dann aber auch zu Gemeinsamkeiten
zwischen Z. und K. Diese zeigen sich auch im
Satzbau.

Aber auch die mit K. in derselben Handschrift befindliche
Prophetenübersetzung des Claus Crank, ein
Deutschordenswerk aus der ersten Hälfte des 14. Jahrh.s,
weist die gleiche Auffälligkeit in der Berührung mit
Luther M. gegenüber auf. Es erhebt sich nun die Frage,
wie das zu erklären ist.

Das ostd. Sprachgebiet, als Kultur- und Spracheinheit
von Ziesemer noch einmal sorgfältig umzirkelt,
hatte, dank seiner politischen und geistigen Blüte im 14.
Jahrh. bereits seit dieser Zeit an einzelnen Stellen auch
jenseits seiner Grenzen Einfluß auf die deutsche Schriftsprache
. Einmal greifbar ist uns dieses Hinüberwirken
an den Änderungen, die Z. an M. vornimmt — später ja
deutlich genug an Luther, dessen Rolle somit fördernd,
aber nicht in Bewegung setzend war.

Als Anhang bietet Ziesemer weiteres Belegmaterial, —
aus dem Beheimschen Evangelienbuch, aus dem Cod.
Mon. 746 (mit M. gegen Beheim), aus der Wenzelbibel
und aus ostd. Übersetzungsfragmenten — das überhaupt
zu „Vergleichen anregen" soll.

Stellen wir die Frage nach Ergebnis und Eignung
der Methode der Arbeit, so muß gesagt werden, daß
die „Anregung zu Vergleichen" zweifelsohne dankbar zu
begrüßen ist. Da es sich zudem bei dem von Ziesemer
Gegebenen um Vergleiche zu dritt handelt, um Abgrenzung
einer dritten von zwei übereinstimmenden Urkunden
, so werden auch in der Tat Feststellungen gemacht
. Es ist aber noch zu fragen, ob diese Feststellungen
nicht mehr Bestätigung und Ausbau bereits
gewonnener Erkenntnisse sind, als daß sie uns wirklich
weiterbringen, ob wir also über diese Methode nicht
hinaus müssen.

Wenn Methode nicht nur Stoffuntersuchung sondern
auch Stoffauswahl ist, dann kann die Glücklichkeit
der Wahl des hier verglichenen Materials z. T. in
Zweifel gezogen werden. M. drückte ja, wie Ziesemer
selbst ausführt, eine durchaus rückständige, sehr gebundene
Übersetzung. Wenn Z. später revidiert hat,
so mußte mit dem neuen Übersetzungscharakter von
vornherein eine Sprachform gegeben sein, die dem allgemeinen
Schriftsprachstand sich annäherte, indem sie
die Rückständigkeit beseitigte. Dieser Sprachstand aber
war eben durch den seit einem Jahrhundert wirksamen
omd. Kanzleieinfluß bedingt. Gemeinsamkeiten zwischen
Z. und K. feststellen, heißt also nur dieser natürlichen
Entwicklung Rechnung tragen (wie sie von Ziesemer
selbst ja ausführlich gezeichnet ist). Eine besondere
Aufmerksamkeit könnte man dem md. Element bei Z.
erst bei breiterem Beweismaterial schenken, als hier geboten
wird. Die Fortschrittlichkeit von K. und Cr.
gegenüber M. wird auch gedämpft durch die geringe
Qualität dieser Übersetzung.

Eine methodische Folgerung aber haben wir allen
Anlaß zu ziehen, wenn wir aus Ziesemers Vergleichen
die ändernde Hand Z.'s nunmehr schärfer zu sehen in
der Lage sind: Luthers Verhältnis zur Zainer-Bibel
kompliziert sich mit der Bemerkung ihrer md.-schrift-
sprachlichen Tendenz. Die Übereinstimmungen zwischen
Luther und Z. sind methodisch als Beweis einer Ab-
I hängigkeit von hier aus in ihrer Überzeugungskraft wesentlich
eingeschränkt. Immer hätten wir in Zukunft
nach der verneuhochdeutschenden Richtung Z.'s zuerst
zu sehen.

Die Tatsache, daß schon vor Luther der Prozeß
zum Neuhochdeutschen von Ostdeutschland eingesetzt
hat, wird heute im Ernste von niemand mehr bezweifelt,
j Daß Luther dem Sprachraum, dem er entwächst, entscheidend
verhaftet ist, bedürfte eines Beweises letztlich auch
nicht. Es kann ja im Grunde nicht auf die Sprachzugehörigkeit
Luthers ankommen und auf deren Bewegung,
von der er natürlich getragen ist. Aber wichtig und
noch immer nicht genügend bestimmt, teils unbeachtet,
teils zu hoch eingeschätzt in seinem schöpferischen
Werte, ist ja das Neue, das Luther eigentlich bringt
und bedeutet. Nicht also auf die Einordnung Luthers in
seinen Sprachraum sollte man ausgehen, sondern auf die
Herausarbeitung der Stufenfolge, die vom mittelalterlichen
dialektischen Sprachstand über die unverbrauchte,
frisch sich Geltung schaffende Kolonialsprache des
deutschen Ostens weg zu (um J. Grimms und Burdachs
alte Formel aufzunehmen) Luthers „Fülle" aufsteigt.
Göttingen. Werner Kohlschmidt.

Uttendörfer, Otto: Zinzendorfs Weltbetrachtung. Eine
systemat. Darstellg. d. Gedankenwelt d. Begründers d. Brüdergemeine
. Fünf Vorträge. Berlin: Furche-Verlag 1929. (352 S.)
gr. 8°. = Bücher d. Brüder, Bd. 6. RM 9—; Lwd. 10—.

Neben den Büchern zur Theologie Z.'s von H.
Plitt und B. Becker und den Arbeiten von G. Reichel

j zur Biographie Z.'s nimmt dieses Buch seinen eigenen

I Platz ein, da U. als erster in umfassender Weise das

i ganze Material der ca. 10 000 nachgeschriebenen Reden
verwendet und hauptsächlich Z. selbst reden läßt. Er
befolgt dabei die Methode, zu einzelnen Themata charakteristische
Aussprüche Z.'s zu sammeln und aus ihnen
Grundzüge der Weltbetrachtung Z.'s herzuleiten. Die
einzelnen Aussprüche werden im ganzen auf einer Ebene
gesehen, was deshalb berechtigt ist, weil Z.'s Anschauungen
sich im Lauf der Zeit nicht sehr gewandelt haben
, sondern z. B. schon im „Deutschen Sokrates" 1726
und 32 in ihren Grundzügen festliegen. Trotzdem gibt
es in der Ausbildung der Grundgedanken bestimmte
Wendepunkte, deren Zeitpunkt und Veranlassung man

I manchmal schärfer angedeutet sehen möchte, als es bei
U. geschieht. Aber U. gibt selbst durch genaue Datierung
der einzelnen Reden die Handhabe zu weiterer

, Forschung. Man wird dabei manchmal (z. B. S. 2941,
311 oben, 288, 349) auf das Original zurückgehen

j müssen, um den genauen Wortlaut und den Zusammenhang
der Aussprüche Z.'s, die U. in Umschreibung

! gibt, festzustellen.

Vielleicht wird später von diesem Buch an eine
neue Auffassung Z.'s gerechnet werden, die früher gelegentlich
schon geäußert worden ist, aber erst von U.
aus seiner umfassenden Quellenkenntnis in einzelnen
Stücken hinreichend begründet wird. Grundlegend ist
erstens der Individualitätsgedanke (1. Vor-

; trag: „Das Leben und seine Mannigfaltigkeit").

Jeder Mensch ist im Natürlichen und Geistigen eine Individualität
und hat sich selbständig zu entwickeln. Die daraus sich ergebende
Mannigfaltigkeit wird aber durch eine innere Harmonie vor dem Auseinanderfallen
bewahrt. Für Erziehung und Seelsorge lehnt Z. den
methodistischen Pietismus ab, für die Mission erhebt er die Warnung,
nicht nach der Herrnhuter Elle zu messen, sondern sich nach dem
„Genium des Landes" zu richten. Dieselbe Achtung vor der Individualität
liegt seiner Tropenidee zugrunde (2. Vortrag: „Die Vielheit

j der Kirchen und die Einheit der Kinder Gottes. Z'.s Tropenidee").
Hier schritt Z. von indifferentistischer Geringschätzung zur positiven
Würdigung der Verschiedenheiten, die die einzelnen kirchlichen Gruppen