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Ausgabe:

1930

Spalte:

136-138

Autor/Hrsg.:

Boissevain, W. Th.

Titel/Untertitel:

Evangelisch Katholiek 1930

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 6.

Mit Notwendigkeit kommt nun die Frage des Kirchen
re c ht s prob lems an die Reihe. Auch hier steht
die Auseinandersetzung mit Sohm voran. H. formuliert:
Harnack unterschätzt die Zusammenhänge des Rechtlichen
in der Urgemeinde mit dem eigentümlichen, nur
ihr eigenen religiösen Inhalt; Sohm unterschätzt die
Ansätze zumindestens embryonaler Rechtsbildungen in
der Urgemeinde (S. 57). Sohms bekannte Hauptthese
bedarf scharfer Begrenzung: das Wesen der Ekklesia
schließt jede Verfassung nach Art sonstiger Vereinsverfassung
, jede Gesetzgebung und Verwaltung nach
Art sonstiger Gesetzgebung und Verwaltung aus (S.
59). Wohl aber gibt es entsprechende Ordnung und
Ämter anderer religiös bestimmter Formung. Der
Kirchenbegriff der Urkirche verschlingt Geistkirche und
Rechtskirche unlösbar untereinander (S. 67). — Die
Untersuchung führt dann mit raschem Schritt zum Kirchengedanken
der deutschen Reformation hinüber (S.
72ff.). Es ist staunenswert, wie genau der Jurist H.
auch in die theologische Literatur dieses Gebiets eingedrungen
ist, wie er mit Holl und R. Seeberg so gut wie
mit K. Müller und Kattenbusch arbeitet; natürlich auch
mit Sohm und Rieker. Man kann durchaus nicht sagen,
daß er einem einzelnen Forscher folge; vielmehr bahnt
er sich im Gewirr der Meinungen mit sicherem Blick
einen eigenen Weg. Er lehnt die Meinung ab, daß es
im Luthertum auf den völligen Dualismus des religiösautoritären
corpus mysticum und der in ihrer rechtlichen
Struktur völlig frei organisierbaren Masse der
Bekenner hinauskomme. Gewiß, Luther kat keinen
Abriß eines eigenen Verfassungsneubaus gegeben; er
hat nicht einmal das Bedürfnis empfunden, seine verstreuten
Gedanken zu diesem Thema zu systematischer
Einheit zusammenzufassen. Aber es handelt sich bei ihm
um „innerlich einheitliche Gedanken, die, nach den verschiedensten
Seiten ausgreifend, doch um einen festen
Kern, den Gedanken der Kirche des Worts, gruppiert
sind" (S. 101). Jene Einheitlichkeit liegt in einem dreifachen
: in der Betonung des Rechts der neuen Glaubensgemeinschaft
zur Selbstorganisation; in der Festigkeit
, mit der die Linie des für die weltliche Obrigkeit
vom christlichen Standpunkt aus organisatorisch Möglichen
gezogen wird; in der Sicherheit, mit der aus den
Voraussetzungen der Geisteskirche eine bestimmte Forderung
an die sich darum sammelnden Gläubigen abgeleitet
wird. Ich bekenne, daß gerade die an diese letzteren
Gedanken anknüpfenden Darlegungen mir besonders
wichtige Gesichtspunkte zu bieten scheinen; wir
werden uns mit diesen Thesen kräftig beschäftigen
müssen. Dennoch scheint mir H. das Gewicht der
Sätze, wie sie R. Seeberg u. a. vertreten („Luther hat
das Problem der Rechtsordnung der evangelischen Kirche
nicht gelöst") nicht ausreichend zu würdigen. Die
von H. bei Luther aufgewiesenen Linien lösen dies
Problem eben doch bei weitem nicht; sie bieten wirklich
lediglich Ansätze („keimhaft angelegt", sagt H.
selbst S. 101).

Es ist nun nicht möglich, in gleicher Weise die
übrigen Kapitel des Buchs durchzugehen. Das 2. Buch
bringt die Ideengeschichte der deutschen Kirchenverfassungen
im 19. und 20. Jahrhundert und vollendet
damit den geschichtlichen Unterbau. Dann aber geht
H. zum eigenen Aufbau über, indem er „die Dreiteilung
der kirchlichen Gewalten und das Svstem des evangelischen
Kirchenrechts" darlegt. Er greift dabei auf seine
biblischen Erörterungen zurück, tut einen abermaligen
Waffengang mit Sohm und gelangt so zu eigener Bestimmung
des Verhältnisses von Kirche und Recht und
zu eigener Begriffsbestimmung der Kirche. Das Wesentliche
ist, daß stets ein Doppeltes zu unterscheiden
ist: einmal die Geist- und Wesenskirche, die im Wort
wirkt, sodann die Kirche als geschichtlich-soziale Erscheinung
, die in Recht und Ordnung erscheint. „Die
in der Hauptschaft Christi herrschaftlich verwurzelte
Gefolgschaftsgemeinschaft des mystischen awf.ia Xgioiav

als einer überweltlichen Größe dort, — die in der
Gleichberechtigung der Kirchenglieder unter einander
begründete genossenschaftliche Grundordnung hier: das
sind die beiden Grundpole, das ist die Spannung und
Antithese, in der die ganze Tiefe, aber auch die ganze
Problemfülle der evangelischen Kirchenrechtsauffassung
liegt" (S. 228). Diese Gedanken werden alsdann an
der Problemgruppe Schrift, Bekenntnis und Dogma,.
Union u. a. durchgeführt. In diesem Abschnitt werden
! — immer von den dargelegten großen Gesichtspunkten
aus, aber vielfach in konkretem Eingehen — die Fragen
der Gemeinde, des Amts der Wortverwaltung, des Lehrverfahrens
, die Organe der Gemeinde, das Recht des
Kirchenkreises, der Kirchenprovinz, die Organisation der
Landeskirche besprochen. Schon aus diesen Thematen
; ersieht man, daß hier mehrfach auf die evangelische
Kirche der altpreußischen Union Bezug genommen ist.
; Ein Abschnitt gilt dem bischöflichen Amt; es ist beacht-
! lieh, wie H. hier, unter strenger Festhaltung der evan-
j gelischen Linie und ohne jeden Überschwang nach der
I einen oder anderen Seite hin, die Befürchtungen wider-
I legt, die etwa an die Schaffung eines evangelischen
| bischöflichen Amts unter den Verhältnissen der alt-
j preußischen Kirche geknüpft worden sind.

H. widmet ein 4. Buch den Zukunftsproblemen des
j evangelischen Kirchenrechts. Natürlich konstruiert er
1 nicht in die Wol.cen hinein. Er geht vom Gegebenen
| aus und sucht Wege zu weisen. Ich nenne einige Ka-
I pitelüberschriften, um zu zeigen, welche brennenden
Fragen hier vorkommen: die freien Verbände und die
Landeskirchen; die Eingliederung der Gemeinschaften;,
die kirchlichen Gruppen und Parteien; Kirche und
! Staat; das ökumenische Problem; der Evangelische Kir-
j chenbund; das Werk von Stockholm; die Verhandlungen
I von Lausanne. Höchst interessante Darlegungen! Es ist
j kein Wunder, wenn die Zustimmung dazu — handelt es
sich doch um sehr akute Gegenwartsfragen! — nicht
! allgemein sein kann; z. B. das über Lausanne Ge-
I sagte vermag ich nur sehr z. T. zu unterschreiben;
! es entspricht auch in der Wertung der dort geprägten
I Thesen nicht den Festsetzungen der Konferenz selbst,
die ausdrücklich keine Formeln zu Beschlüssen erhoben
hat. Aber überall ist, was H. sagt, auch in diesem
Buch gedankenreich und fördersam.

Es sei wiederholt: seit Sohms Kirchenrecht I haben
j wir kein Werk von derart umfassenden Fragestellungen,
so scharfem Eindringen, so gründlicher Kraft der Ab-
j wägung und so offenem Gegenwartssinn erhalten wie
dies H.'sche Buch. Es auszuwerten ist die Aufgabe der
nächsten Zeit.

Breslau. M. Schi an.

Boissevain, Dr. W. Th.: Evangelisch Katholiek. Leiden: E.
J. Brill 1929. (94 S.) gr. 8°.

Dies Buch, Dissertation eines Leidener Pfarrers,
der mit ihr bei der Theologischen Fakultät der städti-
i sehen Universität zu Amsterdam zum D. theol. promovierte
, ist von dem großen Ideal der evangelischen
Katholizität inspiriert, wie es Erzbischof Söder-
blom und Fr. Heiler aufgestellt haben. Der Verf. sucht
ihm eine tiefere theologische Begründung durch bib-
| lisch-theologische und geschichtlich-dogmatische Konstruktionen
zu geben.

Im 1. Kapilel definiert der Verf. die „evangelische
Katholizität" als eine Katholizität, die in dem Evange-
! lium mit seinen zwei Brennpunkten (dem Reich Gottes
: und der Vergebung der Sünden) beschlossen liegt, oder
als universelle Katholizität, die sowohl die synoptische
i als auch die reformatorische Evangelizität einschließt.
[ Die von A. Ritsehl via Heiler übernommene Definition
I des ursprünglichen Evangeliums von Jesus Christus in
| ihrer Beziehung zu dem Idealwert der evangelischen
Katholizität näher zu entwickeln, ist die Aufgabe des
I 2. Kapitels.