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Ausgabe:

1930 Nr. 3

Spalte:

67-70

Autor/Hrsg.:

Steffen, Bernhard

Titel/Untertitel:

Kreuz und Gewißheit. Eine historisch-dogmatische Untersuchung 1930

Rezensent:

Wehrung, Georg

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 3.

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große Zentraldenker, ist der Janus, der schon nach dem
neuen Jahrhundert weist. Er bringt neue Objektivität,
indem er über die Zergliederung hinaus zu neuer Synthese
, indem er über den Menschen hinaus wieder in
die Welt führt und die Vernunft aus einem „Messer" zu
einem neuen „Bande" macht. So faßt er die Weltharmonie
des Barock als Geistesharmonie, indem der Mensch
durch die Newton'sche Welt hindurchbricht. So eröffnet
er, ohne es selbst zu betreten, das Neuland des
19. Jahrhunderts, eine Wendung, die J. mit einigen
schönen kleinen Anekdoten vom Hof zu Weimar zu
kennzeichnen weiß.

Nun schlägt wieder alles pünktlich ins Gegenteil
um. Der Revolution folgt Organisation, der Zerstreuung
Sammlung, der Enge Weite, dem Humanismus
Humanität, der Eigenheit Einheit und Masse; auf den
Menschen folgt die Menschheit, auf die Zergliederung
der Seele ein neues Zusammenrauschen: bei Fichte in
der Moral, bei Schleiermacher in der Religion, bei Hegel
in der Philosophie, bei Schnelling in der Kunst. Statt
des befreienden Naturkultus tritt ein bindender Kulturzug
die Herrschaft an. —

Mit diesen Ausführungen möge eine Ahnung von
der unglaublichen Fülle des Werkes erweckt werden.
Zugleich aber wird wieder die Frage nach dem Recht
der Grundthese wach. J. sagt zwar, offenbar im Gegensatz
zu mißverstehender Kritik, die Jahrhunderte seien
keine „Schachteln", sondern organische Funktionen des
Lebens, das sich in ihnen ausschwingt und immer
wieder ausgleicht. Es soll aber einer abschließenden
Betrachtung nach dem Abschluß des Werkes vorbehalten
bleiben, zu fragen, ob überhaupt eine solche
philosophische Betrachtung der Geschichte und ob die
hier geübte zu Recht besteht.
Marburg a. L. F. Nieberg all.

Steffen, Lic. Bernhard: Kreuz und Gewißheit. Eine histor.-
dogmat. Untersuchg. Gütersloh: C. Bertelsmann 1929. (VIII, 166 S.)
gr. 8°. = Hefte d. Sydower Bruderschaft, 3. RM 5.50; Lwd. 7—.

In diesem Buch liegt der bedeutsame Versuch vor,
die beiden Begriffe „Kreuz" und „Gewißheit" zu einander
in Beziehung zu bringen. Tatsächlich bekommt die Gewißheit
dadurch eigene Züge. Im Kreuz sehen wir Gott
gegen menschlichen Widerspruch seine Gnade aufrichten
. Die Tatsache überwundenen Widerspruchs — das
eigentliche Geheimnis des Kreuzes — stellt gerade das
Offenbarwerden der höchsten Gewißheit dar. „Wenn ich
einer Sache so gewiß bin, daß der Widerspruch gegen
sie (auch mein eigener Widerspruch!) mich nicht mehr
irre macht, sondern in meiner Gewißheit bestärkt, dann
habe ich den höchsten Grad von Gewißheit erreicht"
(S. 150).

Dieser Gesichtspunkt, der Zielgedanke des Buches,
sonst wohl in derselben Weise nicht ausgeführt, erscheint
im voraus aller Beachtung wert.

Der Aufbau des Ganzen ist durchsichtig und wohlgegliedert
. Eine „Voruntersuchung" geht der Frage
nach, was sich „mit rein historischen Mitteln", d. h. mit
dem technischen Werkzeug des Historikers, ganz objektiv
-neutral feststellen lasse. Verf. bemüht sich zu zeigen
, daß der Ruf aus der Verlassenheit — „für die
älteste Überlieferung überhaupt d as einzige Kreuzeswort
" (S. 6) — bei Mc. und Mtth. auf verschiedene
Quellen zurückgehe, also „außerordentlich zuverlässig"
feststehe, zumal er allem messianischen Denken des
Judentums ins Gesicht schlage. Ob jene Behauptung einer
zwiefachen Überlieferung hieb- und stichfest ist,
weiß ich nicht; das Ergebnis wäre trotzdem das gleiche.
Die Kreuzestatsache „kann rein historisch erfaßt werden,
unabhängig von jeder Weltanschauung" (S. 13). Die
Sorgfalt der Untersuchung erweist sich auch durch einen
Anhang über sonstige in Betracht kommende Zeugnisse
(z. B. jüdische und heidnische). Es ist richtig: die
Verwandlung des Christentums in Mythologie läßt sich
rein wissenschaftlich unter Ausschaltung der Glaubensfragen
widerlegen (S. 37). Was ist also erreicht? Eine
Tatsächlichkeit ist festgestellt, ja. Ist aber Feststellung
i auch „Erkenntnis" (S. 44)? Müßte Erkenntnis, wirklich
historische Erkenntnis, nicht auch den keineswegs
sofort eindeutigen Sinn dieses Todes aussprechen? Und
ist eine solche „Erkenntnis" ohne Glaube und religiöse
i Bestimmtheit möglich? Kann also der Glaube bloß eine
j „Wertung" (S. 49) dessen sein, was eine profan-histo-
; rische Betrachtung zu ermitteln vermag?

Immerhin, das rein historisch-wissenschaftliche Resultat
und das Wissen der Christenheit kommen einander
entgegen. Mehr will Verf. nicht beweisen. Stark
| betont er, daß der Glaube vom Kreuz nicht erst aus der
I Geschichtswissenschaft Kunde bekommt, sondern aus
! der christlichen Gemeinde; daß er also hierin nicht ab-
| hängig ist von jener. Die wissenschaftliche Feststellung
| hat eine andere Bedeutung für den Glauben: sie zeigt
| uns, daß der Glaube bei seiner Ablehnung des Kreuzes
j unter keinem Zwang, auch nicht dem Zwang wissen-
I schaftlicher Gründe, steht, daß er immer Glaube, per-
I sönliche Entscheidung, ist und bleibt. — So sollte also
im Hauptteil die Erinnerung an die rein historische
Feststellung ganz zurückbleiben; das Kreuz, wie es
der Glaube erkennt, nicht bloß wertet, kann allein noch
in Betracht kommen: wohl, das geschieht, aber gelegentlich
möchte Verf., so scheint es, doch jene rein historische
Feststellung irgendwie zur Stütze herbeiziehen, sie
auch für den Glauben als Anhaltspunkt in Anspruch
nehmen (z.B. S. 66, 133 u.). Das wäre nur eine kleine
Unstimmigkeit, die die große Linie nicht verdunkelt, sie
nur leise beschattet. Dahinter steckt aber vielleicht eine
andere Unklarheit. — Wie kommt es zum Verständnis
; des Kreuzes, das zunächst als schwerer Anstoß vor den
Menschen steht? Nun, daß wir das Kreuz als Hereinbrechen
des Gerichts ansehen, das ist selbst schon kein
geringes Verständnis. Warum Hereinbrechen des Gerichts
? Weil hier die angebotene Vergebung abgelehnt,
der Vergeber getötet wird. Also, es kommt darauf an^
wer gekreuzigt wird; den muß man kennen! Verf.
möchte das Verständnis des Kreuzes dagegen ganz von
der Auferstehung her gewinnen; gewiß ist den Jüngern
erst von dieser her jenes sinnvoll geworden: aber es
waren die Jünger, nicht beliebige andere, sondern solche,
die mit ihrem Herrn gezogen waren, die schon an ihn
geglaubt hatten. Nicht das bloße Kreuz und die Aufer-
I stehung, sondern der gekreuzigte Herr und die Auferstehung
machen der Heilstatsache des Kreuzes gewiß.
Wer wird heute zum Verstehen des Kreuzes führen
; wollen bloß von der Auferstehung, nicht zugleich vom
Heilswillen und Heilandsleben Jesu her? Ohne dies
kämen wir zu einein merkwürdigen Formalismus (und
Supranaturalismus). Aber trefflich gezeigt ist die straffe
Beziehung der Auferstehung auf das Kreuz (S. 62); in
der Tat verkündeten die Jünger keine Theophanie, sondern
den Gekreuzigten als den, der von Gott auferweckt
ist. Ebenso wertvoll ist die enge Verknüpfung von Geschichtlichem
und Übergeschichtlichem, die unter der
! Rubrik „Glaube und Geschichte" geboten wird. Damit
; macht der Schüler Kählers vielleicht noch mehr ernst als
I der Meister (vgl. S. 4 f.). Übrigens, wenn hier Verf.
| mit Gogarten Geschichte als Wissenschaft von jeder
weltanschaulichen Voraussetzung frei haben will, wie
stimmt das zur späteren Behauptung (S. 160), daß erst
diejenige Untersuchung der Bibel „im vollen Sinne
wissenschaftlich" sei, „welche den Glauben zur Voraussetzung
macht und aus der naturwissenschaftlich-technischen
Verklammerung heraus zur eigentlichen Geistes-
I Wissenschaft kommt"? Aber was Gogarten — W. Herr-
j mann nachgesagt ist, ist schief; was selbständig gesagt,
richtig! — Alsbald wird die Glaubenstatsache des Kreuzes
noch in einen weiteren grundsätzlichen Zusammenhang
gestellt. Wir haben in ihr das Zentrum der Glaubenswirklichkeit
, also auch das Zentrum der Schrift
selbst. Die Verbalinspiration ist dahin; auch die sog.
Personalinspiration bietet in sich kein Maß. Verf. da-