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Ausgabe:

1930 Nr. 3

Spalte:

62-64

Autor/Hrsg.:

Kröss, P. Alois

Titel/Untertitel:

Geschichte der Böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu. II 1930

Rezensent:

Wolf, Gustav

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 3.

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lied vereinzelt mit erotischer Färbung. Auch hier übt ; analysierten Phänomene verwandt empfinden; es war
das'alte Weckmotiv noch seine Nachwirkung. Ein be- J dekadenter Synkretismus, der mit den Ausgängen die-
sonderer Abschnitt ist Hans Sachs gewidmet, er ver- ser Entwicklungen (dem scharf dualistisch gesehenen)
leugnet auch hier nicht seine Dichtematur. Neben der | Luther gegenüberstand. Außer Thomas von Kempen,
Steifheit des Meistersangs, die auch ihm eignet, zeigt der „das Erbauungsbuch der Enttäuschten aller Jahrsich
seine Überlegenheit und Selbständigkeit in der Art, hunderte" geschrieben hat, hat auch keiner dieser Leute
wie er die überkommenen Tageliedelemente verwertet eine weltgeschichtliche Wirkung gehabt. — Das unter
und miteinander verknüpft. Das Bußlied „Es ruft ein j reichster Quellen- und Literaturkenntnis gearbeitete Buch
Wächter faste" kann als treffendes Beispiel dienen, j vermittelt eine Fülle der interessantesten Sichten. Ich
nicht minder die Wittenbergisch Nachtigall, die, bei- I denke nur etwa an die eigenartige Beleuchtung auch des
läufig bemerkt, auch in Meisterliedform in Zwickau ; Cusaners. Aber die Gesamtsicht, so eindrücklich sie ist,
vorhanden ist. Es ist gewiß kein Zufall, daß H. ist doch von einer vielleicht über den Willen des VerSachsens
Beziehungen zum Tagelied aus den Anfängen fassers hinausgehenden Einseitigkeit. Besonders in der
seiner Poeterei stammen. — Ein Schlußkapitel schildert , rationalen und individualistischen Linie scheinen dem
die Auflösung der alten Formen im Kirchenliede des Anzeigenden die angeführten Erscheinungen ganz un-
Reformationsjahrhunderts. — Zu den Hosen des Joseph j mittelbar auch und vorwiegend einen Aufstiegcharakter
als Windeln des Christuskindes (S. 105) s. meine Anm. I zu tragen. In so großen Wenden, wie es die vom 15. zum

zu Marg. Ebner 100, 7, Nachtrag S. 404. — S. 115, 5
lies 6, 368—386.

Halle a. S. Philipp Strauch.

Stadelmann, Rudolf: Vom Geist des ausgehenden Mittelalters
. Stud. zur Gesch. d. Weltanschaug. von Nicolaus Cusanus
bis Seb. Franck. Halle a. S.: M. Niemeyer 1929. (VIII, 294 S.)
gr. 8°. = Deutsche Vierteljahrsschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgesch.
Buchreihe, Bd. 15. RM 14—; geb. 16-.

Das Buch ist ein bedeutender und selbständiger
Wurf, grade in seiner Beschränkung. Der Autor wollte
ursprünglich ein Gesamtbild der spätmittelalterlichen
Kultur zeichnen. Das Erscheinen von Huizingas
„Herbst des Mittelalters" veranlaßte ihn, auf Stil- und
Geistesgeschichte sich verengend, lediglich diese Studien
zur Weltanschauungsgeschichte zu bieten. Seine
These ist, daß das 15. Jahrhundert nie zu seinem Eigenrecht
kommt, wenn man es, sei es im protestantischen,
sei es im katholischen Sinn, als das aufsteigende Jahrhundert
der Vorbereitung faßt; auch kunstgeschichtlich
ist das verfehlt. Vom Hochmittelalter her erscheint
diese Zeit vielmehr sehr scharf als ein Ende, als eine

Zersetzung. Der heutige Begriffsrelativismus läßt unsere -e.ns unsere Augen besonders offen für diese Zuge seeh

16. Jahrh. war, sind die einzelnen Erscheinungen in sich
selber oft mehrseitiger, als daß sie überhaupt einseitig
gesehen werden könnten! Auch scheint mir der
Autor zu stark zu verwechseln eine allgemeine Gesichtspunkts
- und Maßstablosigkeit des Urteils und die Notwendigkeit
, bei so großen Wendezeiten immer zwei
Gesichter der Zeit zu sehen, eines aus der Vergangenheit
und eines in die Zukunft, beide gleichmäßig, und beide
nur zusammen in einem! In Windichkeit sieht er allein
das Vergangenheitsgesicht des 15. Jahrhunderts und
dies, weil das Gegenspiel der andern Betrachtung fast
bewußt ausgeschaltet wird, doch lebhaft verschieft. Die
Wahrheit ist erst in beide m. — Aber das ist doch aus
dem schönen und wertvollen Buch zu lernen, daß eine
ganze Reihe von Erscheinungen vor und neben Luther
noch in einem andern Lichte ihm gegenübersteht als nur
etwa in dem der Vorbereitung oder der Deformation zur
Reformation, vielmehr als ein von ihm sich ganz besonders
abhebender Verfall und morbider Herbst des
Mittelalters. Grade in der Gegenwart mit ihren verwandten
Erscheinungen beim Verfall des Individualismus
und der Aufklärung von 1600—1900 sind ja übri-

Maßstablosigkeit jeden Augenblick zu einer andern
psychologischen Einstellung kommen, so ist ein perspektivisch
einheitliches Bild sowieso unmöglich; deutlich
kann immer nur eine einzige Ansicht werden. Die
Renaissance bringt etwas umstürzend Neues, aber das
Alte, das verlassen wird, muß einen Ausklang haben.
Während man politisch längst seit Haller diese Zeit als
eine Verfallsepoche zu sehen gewöhnt ist, haben wir
erst durch Gothein und Friedrich von Bezold einen
tieferen Eindruck auch „von der morbiden Psyche des
ausgehenden Mittelalters" empfangen. Doch sehen auch
diese beiden mehr auf das allgemeine Volksleben, als
auf die Bewußtseinseinstellung der ausschlaggebenden
Kulturschicht. Bei dieser ist das Gleiche an einer Reihe
repräsentativer Männer noch nachzuweisen. Unter dem
T'tel „Skepsis" werden in diesem Sinne dann behandelt
der Nominalismus, ausführlicher Nie. Cusanus mit Nachweis
einer skeptischen Wurzel in seinem Transrationalismus
, die devotio moderna, Agrippa von Nettesheim und
Sebastian Frank. Unter dem Titel „Resignation" die
uw/ i SPätmittelalters, zumal Thomas von Kempen
und Wessel Gansfoort. Unter dem Titel „Emanzipation"
die mit Vernunftapriorismus und Toleranzidee verbundenen
Aufklarungstendenzen dieser Zeit; der Angelpunkt
der Weltanschauung wiTd verlegt, heißt nicht mehr
Gott, sondern ratio; zumal Wessel und Seb. Frank werden
hier erneut besprochen. Die Untersuchung endet

scher Zersetzung in Übergangszeiten (vgl. z. B. die Forschungen
von E. Seeberg). Man wird sich freilich
auch hüten müssen, nun diese Züge im 15. und 16.
Jahrhundert etwa als reine und direkte Vorläufer und
Vorwegnähme unserer Tage sehen zu wollen. Vielmehr
sind die Sichten Stadelmanns, wenn auch bewußt einseitig
für den Gesamtaspekt jener Zeit, so doch sicherlich
im großen Zuge richtig und auch für den theologischen
Geistes- und Ideengeschichtler äußerst dankenswert
.

Aufmerksam machen möchte ich bei dieser Gelegenheit auf den
auch von Stadeiniann übersehenen, aber ganz in der Richtung seines
Buches auswertbaren Aufsatz des Roetheschülers Paul Hagen „Das
Buch von der Nachfolge Christi undThomas a Kempis",
in der Zeitschrift für deutsches Altertum, 1922, S. 23 35. Danach ist
das Buch eine Kompilation aus einer ganzen Reihe älterer Traktate, von
denen einige neuerdings aufgefunden sind. Die Urschriften können nur
von Niederländern verfaßt sein und aus den beiden auf Gerhard Groote
zurückgehenden Gemeinschaften stammen.

Greifswald. v. Koepp.

Kröss, P. Alois, S. J.: Geschichte der böhmischen Provinz
der Gesellschaft Jesu. II. 1. Abteilung: Beginn der Provinz,
des Universitätsstreites und der katholischen Generalreformation bis
zum Frieden von Prag 1635. Wien: Mayer 8t Co. 1927. (XXIV,
384 S.) gr. 8°. = Quellen u. Forschungen z. Geschichte Österreichs
u. d. angrenzenden Gebiete, 13. RM 15-.

Den ersten Band des vorliegenden Werkes, welcher
unter dem Titel „Pessimismus" mit Analysen zum histo- ! sich aber tatsächlich nicht mit der Geschichte der böhmi-

nschen Selbstbewußtsein und zu Geschichtsphilosophie ! sehen Ordensprovinz, sondern mit dem Wirken der

und Paradoxie jener Tage; Verfallsauffassung und Kri- 1 Jesuiten in Böhmen und dessen Nebenländern vor Er-

sengefuhl werden beleuchtet; wieder steht Sebastian I richtung der Provinz beschäftigt, hat Graf Hoensbroech

Frank im Mittelpunkt, auch der Paradoxist Denck. Das ! in Theol. Litztg. 37, 691 angezeigt und anerkannt, daß

Gesamtergebnis dieser Analysen kann sich mit Luthers i der Verfasser trotz seiner Zugehörigkeit zum Orden

treiben übersteigerter Meinung von der besonderen Ge- dessen schwerwiegende Mängel nicht beschönigt hat, ja,

ranrhchkeit des Epikurischwerdens der Welt durch die | daß sich aus der Lektüre des Buches keineswegs ein