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Ausgabe:

1930 Nr. 3

Spalte:

53-55

Autor/Hrsg.:

Schneider, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Passionsmystik des Paulus. Ihr Wesen, ihr Hintergrund und ihre Nachwirkungen 1930

Rezensent:

Dibelius, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 3.

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sehen. Vielleicht gelingt es ihm auch, ein vollständiges
Exemplar der ersten zensurfreien Bomberg'schen Tal-
mudausgabe für Reproduktionszwecke zu erwerben. Er
würde sich dadurch ein sehr großes Verdienst erwerben, j

Leipzig. M. Woskin - N ahartab i.

Schneider, Lic. Dr. Johannes: Die Passionsmystik des Paulus.

Ha Wesen, ihr Hintergrund und ihre Nachwirkungen. Leipzig: J.
C. Hinrichs 1929. (VIII, 192 S.) gr. 8°. = Unters, zum Neuen j
Testament, H. 15. RM 12.50; geb. 15-.

Die neuere Diskussion über die Mystik des Paulus i
ist bisher in der Form von Thesis und Antithesis ge- |
führt worden; paulinische Mystik wurde behauptet und
wurde verneint. Es ist an der Zeit, das Thema neu zu
behandeln auf Grund eines abgegrenzten Begriffes von
Mystik und auf Grund bestimmter religionsgeschichtlicher
Einsichten. Das unbezweifelbare Verdienst des i
vorliegenden Buches ist die Wiederaufnahme des Themas
und die Entfaltung eines großen Materials. Daß
dagegen die von S. gegebene Deutung dieses Materials
weit über das erste Stadium jener Debatte hinausführe,
wird man nicht behaupten können.

Es will mir scheinen, als ob schon die Anlage des
Buches eine neue und neuartige Beweisführung erschwere
, wenn nicht unmöglich mache. Der Verf. behandelt
in der üblichen Weise erst die Stellen der
Paulusbriefe und dann den „religionsgeschichthchen
Hintergrund"; und in jenem speziell-exegetischen Teil
zunächst die allgemeinen Fragen — leidender Paulus,
Leib Christi, Kreuz Christi, Blut Christi — und erst
dann die eigentliche Terminologie des Christusleidens.
Das entspricht nicht der wissenschaftlichen Lage. Denn
es ist bekanntlich bestritten worden, daß sich bei Paulus
überhaupt Mystik finde. Man darf also in einer neuen
Untersuchung nicht nur von einer Bestimmung des Be-
griffes Mystik ausgehen — was S. selbstverständlich
tut —, sondern man hätte auch zu zeigen, was Leidensmystik
sein kann und irgendwo in der Welt wirklich
gewesen ist. Man hätte das zu zeigen an möglichst eindeutigen
Beispielen, die belegen würden, in welchen
Mysterien etwa und wie der Myste das Leiden seines
Kultgottes an sich erfahren oder vollzogen hat. Der
„religionsgeschichtliche Hintergrund" müßte also zunächst
einmal zum Vordergrund der Untersuchung werden
; denn auch hier gäbe es nicht nur Anerkanntes
darzustellen, sondern auch Zweifelhaftes zu klären, wie
z. B. die Frage der Umbildung griechischer Mysterien,
etwa der von Eleusis, im orientalisch-mystischen Sinn
oder die Frage nach der Einwirkung in umgekehrter
Richtung, also der hellenisierenden Umbildung orientalischer
Mvsterien etwa der Isis (nach dem Zeugnis des
Apuleius)] Dazu müßten dann aber die Quellen gründlich
herangezogen, nicht nur die Darstellungen verwertet
werden, wie es bei S. in weitgehendem Maße geschieht
.

Und erst nachdem hier einiges Sichere und einiges
Wahrscheinliche über das mystische Nacherleben eines
Gottesleidens festgestellt wäre, könnte eine Verbindungslinie
zu Paulus gezogen werden. Die gegebene
Verbindung wäre die Terminologie. Dabei hätten die
von S. zuletzt behandelten Stellen vom Christusleiden
im Vordergrund zu stehen; denn daß Paulus, wenn er
vom Mitgekreuzigt- und Mitbegraben-werden redet, sich
innerhalb der mystischen Terminologie bewegt, das
sollte nicht bezweifelt werden. Nun erst käme die
andere Frage zur Sprache: ob diese Terminologie bei
Paulus mystische Temperatur und mystischen Inhalt
hat — und die weitere, ob Paulus in irgend einem Sinn
als Mystiker angesprochen werden kann.

Die Untersuchung würde bei solcher Anlage, wie
mir scheint, überzeugendere Kraft haben; so aber zieht
sich der Verf. bei der Exegese meist auf Deißmanns
iu1Cmen zuruck und verwirft die anderen Erklärungen
als befangen; oft, wie mir scheint, mit großem Recht,
aber nicht eigentlich mit der Kraft, die Andersdenkende

überzeugen könnte. Bei der Todestaufe, bei dem „Anziehen
Christi" vermißt man in besonderem Maße eine
solche Begründung, die der Lage der Forschung entspräche
. Auch das wichtige Problem, das in dem Nebeneinander
von Indikativen und Imperativen in der Ethik
des Paulus liegt, kann nicht mit dem ganz allgemeinen
Satz gelöst werden (S. 44): „Und doch ist die Mystik
des Paulus so nüchtern, daß er der Aussage: „ihr seid
der Sünde abgestorben" sogleich die andere hinzufügt:
„darum sterbet der Sünde ab". Und wenn Phil. 3 in der
Tat, wie der Verf. mit Recht bemerkt, eine rhythmische
Parallelität zwischen V. 10 und V. 21 (aber auch innerhalb
des V. 10, wie mir scheint) zu beobachten ist, so
darf diese für die Auslegung wichtige Erkenntnis nicht
nur in einem Anmerkungssatz S. 45 zum Ausdruck gelangen
. Über das Stadium der bloßen Anregung auf
solchen Gebieten ist die Forschung hinaus; wer etwas
dazu sagen will, muß untersuchen!

Von den Ergebnissen dieses Teiles möchte ich noch anmerken:
S. sagt zu Oaj. 6,17 (S. 51, 2): „Es ist kaum anzunehmen, daß Paulus
eine wirkliche Stigmatisation .... meint, obwohl seine ekstatischen
Erlebnisse die Möglichkeit derselben nicht ausschließen". — Col. 1,24
wird S. 56 von vornherein auf die Gemeinde bezogen: sie hat das ihr
zugedachte Maß an Leiden noch nicht erfüllt. Würde Paulus aber,
wenn er das hätte ausdrücken wollen, nicht tu. noriirnjuaTU nuröv geschrieben
haben ? Und verlangt nicht diese Stelle, an der Paulus sich
gerade mit der ihm fremden Gemeinde erst einmal in Beziehung setzen
will, eine andere Deutung, die zunächst von den Leiden der Gemeinde
absieht?

Alle diese Untersuchungen sind, wie es nicht anders
zu erwarten ist, eingeleitet durch eine Begriffsbestimmung
von Mystik. Sie hält sich im wesentlichen an die
Deißmannsche Unterscheidung von agierender und reagierender
Mystik, von unio und communio. Nicht ganz
glücklich scheint mir die Bezeichnung der unio als des
„weiteren" Begriffes; gerade eine Untersuchung, die
auf die Abgrenzung der neutestamentlichen Mystik von
anderer Mystik Wert legt, sollte betonen, daß Mystik
ein Begriff ist, dessen Geltungsbereich über die neuplatonische
Mystik weit hinausgeht. Aber vor allem
handelt es sich um jene Abgrenzung. Mir scheint, daß
eine befriedigende Verständigung über das, was man im
Neuen Testament Mystik nennt, nicht erreicht werden
kann, wenn man nicht die der Mystik widerstrebenden
Begriffe des Neuen Testaments, vor allem Glaube und
Endhoffnung, in die Untersuchung hineinzieht. Man
sollte darum auch Verbindungen, die nicht determinieren
, sondern verundeutlichen, wie „Glaubensmystik",
besser aus dem Spiel lassen. S. hält das Wort Glaubensmystik
S. 8. 155 für richtig, und nur seine Verwendung
durch Emil Weber für unrichtig (S. 72). Ich
würde wünschen, daß er selbst versucht hätte, dem im
Ganzen nichtmystischen Charakter der Religion des
Neuen Testaments unter Anerkennung zweifellos mystischer
Terminologie und gewisser Spuren von echter
Mystik gerecht zu werden.

Zu begrüßen ist es, daß S. zum ersten Mal den
Versuch gemacht hat, von Paulus aus in die Geschichte
der christlichen Frömmigkeit vorzustoßen, und in drei
Abschnitten altchristliche, katholische und evangelische
Passionsfrömmigkeit darzustellen. Nur bedaure ich es,
daß auch hier mehr Andeutungen und Anregungen als
wirkliche Untersuchungen gegeben sind: vor allem entsteht
in der Übersicht des Verf.s leicht der Schein, als ob
alle christliche Mystik unmittelbar von Paulus beeinflußt
wäre. Ich kann das weder für das Johannesevangelium
noch für die Ignatiusbriefe anerkennen.
Denn in beiden Texten sind mystische Motive zu finden,
deren Ursprung auf ganz andere, wahrscheinlich außerchristliche
Gebiete weist, und der Satz „Ignatius lebt
ganz in paulinischen Gedanken" erscheint mir darum als
sehr anfechtbar. Die Verkirchlichung der Mystik bei
Ignatius kommt ebensowenig zu ihrem Recht wie die
Vulgarisierung mystischer Motive im l. Petrusbrief.
Wenn S. gelegentlich, bei der Behandlung von Ign. Eph.
i 18, 2, den Ausdruck „kultisch-mystisch" gebraucht, so