Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1930 Nr. 25

Spalte:

595-597

Autor/Hrsg.:

Siegfried, Theodor

Titel/Untertitel:

Das Wort und die Existenz. Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. I. Bd 1930

Rezensent:

Koepp, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

595

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 25.

596

Menschen und der Vererbung wie der wesensmäßigen
Zusammengehörigkeit aller Menschen besser Rechnung
trage. Sie erlaube ferner die Seele als „offen" anzusehen
, d. h. den Ablauf des Lebens nicht als eine notwendige
Entfaltung von Gegebenheiten, sondern als
spontane Ausbildung von Möglichkeiten, die auch Fehlentwicklungen
nicht ausschließe. Da alles in der Welt
Ausdruck der ewig-kontinuierlichen Schöpfung Gottes
sei, habe der Mensch kein Recht, sein Ich oder eine
seiner Seiten zu vernachlässigen. Gott erwarte vielmehr
von ihm, daß er sich nach der leiblichen wie nach
der geistigen Seite im Hinblick auf die ewigen Werte
harmonisch entwickele. Daher sei Sorge für das Leibliche
, wie Hygiene, Sport, Vergnügungen eine religiöse
Forderung. Und da das Ich sich nur im Zusammenleben
voll entfalten könne, so werde auch die Teilnahme am
Gemeinschaftsleben göttliches Gebot. Die Frage, ob
die Seele eine natürliche oder nur eine konditionale, bzw.
geschenkte Unsterblichkeit habe, bleibt unentschieden;
ebenso das Wie der Auferstehung. An ihr selbst wird
jedoch mit Entschiedenheit festgehalten, weil sie allein
der Totalität des Ich entspreche.

Man wird auch gegen die systematischen Ausführungen
des Verfassers mancherlei einwenden müssen,
z. B. gegen seine naturalistische Sünden- und Freiheitslehre
, die mehr thomistisch als evangelisch ist, oder
gegen seinen Versuch, die Ethik vom Ich her zu begründen
, der ihn ungewollt zum Utilitarismus führt. Das
Verhältnis von Ursprung, aktuellem Zustand und Bestimmung
des Menschen ist gleichfalls komplizierter als
es nach Ls. Ausführungen erscheint. Gleichwohl wird
man L. danken müssen für die wichtigen neuen Gesichtspunkte
, die er gibt: daß er in der christlichen
Anthropologie von der Inkarnation und nicht von dem
Ich seinen Ausgang nimmt, daß er nicht von der abstrakten
Idee eines „konkreten Menschen", sondern vom
Menschen in seiner Konkretheit redet, und daß er um
der Geschaffenheit des Menschen willen nicht nur das
göttliche Nein, sondern auch das Ja zu dem irdischen
Leben hört. Man wird zum Schluß nur sein Bedauern
aussprechen können — aber das trifft uns alle in der
gleichen Weise — daß die gleichgerichteten Bemühungen
der verschiedenen Länder um eine neue
Anthropologie bisher fast völlig ohne gegenseitige
Kenntnis erfolgt sind.
Münster/W. Otto Piper.

Siegfried, Prof. Lic. Dr. Theodor: Das Wort und die Existenz.
Eine Auseinandersetzung m. d. dialektischen Theologie. I. Die Theologie
d. Worts b. K. Barth. Eine Prüfung v. K. Barths Prolegomena
z. Dogmatik. Gotha: L Klotz 1930. (VII, 301 S.) 8°. RM 10 — .
Der Ankläger des Anklägers. Seine Position ist
von vornherein ungünstig. Nur wenn die Anklage ganz
auf Trugsand und Unbilligkeit gebaut ist, kann auch der
Gegenkläger zu wirklich großen Maßen emporwachsen.
Aber das ist gegenüber Barth unmöglich. Bleibt nur
die Möglichkeit zuhöchst des sehr klugen Advokaten.

Selten kommt demgemäß das Ganze der Absicht
Barths wirklich in den Blick. These für These wird
mehr einzeln vorgenommen. Scheinbar völlig objektiv
setzen allgemeine Wahrheiten ein, von denen man meint,
daß sie weder Barth noch sonst irgend einem je verborgen
geblieben seien. Das erste Verständnis Barths
wird hiermit in radikalem oder verdecktem Gegensatz
befunden. Durch Konsequenzzieherei wird ihm dabei
gern auch zugeschoben, wovon er selber herzlich wenig
wird wissen mögen. Allerdings, objektiv wird dann auch
die Möglichkeit einer freundlicheren Auslegung erwogen.
Doch dann ergeben sich gern nur noch schlimmer unerträgliche
Widersprüche. Schließlich wird mit advoka-
torischer Schärfe das unentrinnbare Ergebnis gezogen:
Barths Position kann nur Verkrampfung sein, nur Verdrängungssymptom
; sein Glaube wird zu einer ratio
neben der ratio; aber es ist nur ein Windmühlenkampf,
ein Maskenball theologischer Begriffe; er erlaubt sich

dabei grobe Erschleichungen, gröblichen Problemabweis,
nicht nur ein halsbrecherisches, sondern auch ein unredliches
Wagnis. Selbst vor Profezeihung schrickt die
advokatorische Sicherheit nicht zurück: B.s Dogmatik ist

I schon in der Prolegomena vollendet; und die noch zu
erwartenden Zusätze sind nicht Dogmatik, sondern Predigt
. Natürlich wird dazwischen auch anerkannt; doch

: wird dann (besonders im letzten Drittel des Buchs) als-
bald gezeigt, wie es noch viel richtiger hätte gemacht
werden sollen. — Das alles wird nur auf gleichgesinnte

I Geister erfreulich wirken. Galt einmal die gestellte

I Aufgabe, ließ sie es allerdings schwerlich anders zu.
Soll sich auch der Gesamtertrag erst übersehen

j lassen, wenn der zweite Teil die Theologie der Existenz
bei Gogarten und Bultmann behandelt hat, sind Geist
und Stil des Buchs doch schon aus dem ersten Teil
völlig deutlich. Näher untersuchen in der ersten Hälfte
des vorliegenden Buchs „Kritische Analysen" 1. die
dogmatische Aufgabenstellung, 2. das Dogma (nämlich
der Trinität), 3. den Begriff der Religion, 4. die Kirche
bei Barth. Die zweite Hälfte behandelt „Das dialektische
Grundproblem" 1. im Begriff der Offenbarung, 2. im
Problem der Christologie, 3. in der Auffassung vom

I theologischen Denken, 4. in der Kritik der Bewußtseinstheologie
. Die besonders wichtige Abhandlung über das

j theologische Denken bespricht näher das Problem der
Logik, das transzendental-methodische Element, das
Problem der Allgemeingültigkeit, das dialektische und
schließlich das existenzielle Moment bei Barth.

Im einzelnen führt grade der advokatorische Scharfsinn
den Verfasser oft genug und immer wieder irre.
Hält er dann mit Hartnäckigkeit auch noch seinen Fund
I fest, gehen ganze große Erörterungen auf diese Weise
I fehl. Typisch zeigt das gleich die erste Abhandlung
j über „Die dogmatische Aufgabe". Sein großer Scharf-
[ sinn macht den Verfasser hier sogleich fast rasen gegen
I Barths angeblich ganz, verschiedene vier Thesen von
der theoretischen Unmöglichkeit der Prolegomena, von
ihrem Charakter als reinem Ausschnitt aus der Dogmatik
, von einem mit ihnen gewagten vorläufigen
Sprunge, und von einem in ihnen geübten vorvorläufigen
Reden über die Sache statt aus der Sache; er läßt nur
dabei das augenscheinlich alles lösende „Solange", also
I die zeitliche Differenzierung der verschiedenen Thesen,
I im Barth-Zitat S. 7 unter den Tisch fallen. Gleich
I weiterhin verwandelt derselbe advokatorische Übereifer
! (S. 10/11) Barths gelegentlich in seine phänomeno-
[ logische Analyse eingestreute ganz vorläufige Definition
von „Glauben" alsbald in eine als bewiesenes und entscheidendes
Ergebnis gewollte Definition von „Glaubwürdigkeit
"; das da natürlich herauskommende „ganze
i Nest ungeordneter Bestimmungen" wird schleunigst mit
I höchster Energie zerpflückt; aber Barth will hier im
großen Zuge überhaupt nicht definieren, sondern nur
| phänomenologisch analysieren, was das Phänomen der
I Predigt bei seinem Auftreten von sich selber zunächst
} aufweist. Barth sagt weiter etwas plerophorisch, daß
der Inbegriff und der Name, die Idee der christlichen
Rede und ihre reine Form nur die christliche Ver-
; kündigung sei; nach S. gelten die hiermit aufgezogenen
vier Gesichtspunkte für B. „ohne Weiteres als Synonyma
", woran mit advokatorischer Geste alsbald' die
einfältigsten Belehrungen geknüpft werden. Indem auch
j weiter für S. zunächst die später auch von ihm gelegentlich
wohl gesehene phänomenologische Methode dieser
ersten Partieen bei Barth mit ihrem selbsthermeneu-
tischen Charakter ganz aus dem Blick bleiben, kann er
I sich überhaupt die Betonung des unzweideutig sich ereignenden
Faktums der Predigt nicht anders erklären
j denn als „Triumph der Macht", aus einem „soziolo-
i gischen Positivismus" heraus. — Man könnte schon in
I der ersten Abhandlung, aber auch weiterhin, so noch
j lange fortfahren. Als besonders bezeichnend in der Hinsicht
sind mir noch die Erörterungen über den Begriff
der Religion und die später von S. selbst wieder fallen