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Ausgabe:

1930 Nr. 24

Spalte:

571-573

Autor/Hrsg.:

Leser, Hermann

Titel/Untertitel:

Das pädagogische Problem in der Geistesgeschichte der Neuzeit. 1. Bd 1930

Rezensent:

Meyer, Joh.

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 24.

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mus, der von jeher „die beste Stütze der Throne" gewesen sei und „die
Lehre von der Volkssouveränität aufs tiefste verabscheue" (S. 82)! Die
Lage des Bischofs v. Keller zwischen dem Drängen und Drohen der
Kurie und der Unnachgiebigkeit der Regierung wurde immer schwieriger
, und von der Regierung selbst schließlich aufgegeben, konnte er
sich nur durch die schon erwähnte, ihm von der Münchner Nuntiatur
anbefohlene, Motion in der Kammer mühsam retten. Hatte diese Motion,
bei der das eigene Domkapitel gegen ihn stand, zunächst auch keinen
Erfolg, so war sie doch ein Vorstoß, der lebhaften Widerhall weckte
und die Geister nicht zur Ruhe kommen ließ, bis auch die Regierung
andere Wege einschlug. Das 4. Kapitel zeigt uns im Einzelnen den
Austrag der Kämpfe in der Ständeversammlung, in deren Verlauf der
konservative Teil der Katholiken, der nicht mit dem Liberalismus gehen
wollte, erstmals den Gedanken einer Parteibildung auf konfessioneller
Grundlage erwog. Eine Eortsetzung der Bauerschen Darstellung bildet
das Buch von A. Hagen, Staat und katholische Kirche in Württemberg
von 1848 bis 1862, Stuttgart 1928. Es ist kein Zweifel, daß gerade die
Regierungen es waren, die in Württemberg wie anderwärts durch ihre
Mißgriffe die Katholiken dem Kurialismus in die Arme trieben. Das
Pendel hat jetzt nach der andern Seite ausgeschlagen und an die Stelle
des Staatskirchentums ist vielfach ein Kirchenstaatstum getreten, das auch
nicht von Bestand sein kann.

München. Hugo Koch.

Leser, Prof. Hermann: Das pädagogische Problem in der
Geistesgeschichte der Neuzeit. 1. Bd.: Renaissance u. Aufklärung
im Problem der Bildung. München : R. Oldenbourg 1925.
(XII, 592 S.) gr. 8°. geb. RM 26 .

Dies auf drei Bände (Bd. 2: deutscher klass. Idealismus
, Bd. 3: seit Pestalozzi) berechnete Werk bietet
eine Geschichte der Pädagogik nicht in dem Sinne, als
sollten alle wichtigeren pädagogischen Unternehmungen
und Organisationen berücksichtigt werden, sondern als
Geschichte der hinter den einzelnen Leistungen und
Plänen steckenden Ideen und Probleme. Und da der
Verf. in der Geschichte der Pädagogik nicht ein buntes
Spiel wechselnder Einfälle, sondern zielstrebige Entwicklung
innerer Notwendigkeiten sieht, wird daraus
eine Geschichte des pädagogischen Problems, wie er
es sich in allen Einzelerscheinungen immer bestimmter
herausschälen sieht. Eine Berücksichtigung der einzelnen
praktisch-prädagogischen Programme ist, soweit in
ihnen pädagogische Ideen in ein neues Stadium treten,
nicht ausgeschlossen, wohl aber stark begrenzt. So
wird z. B. Rousseau ganz ausführlich, Basedow nur
nebenbei behandelt. Denn Rousseau ist in seinen Ideen
schöpferisch und für alle späteren Zeiten anregend gewesen
. Basedows pädagogische Maßnahmen beruhten
dagegen in der Hauptsache auf Ideen anderer Köpfe.

Das pädagogische Problem, das Leser in seinen
Darlegungen verfolgt, ist der Durchbruch der „Autonomie
" der Erziehung und der Pädagogik. Als erster Vorstoß
in dieser Richtung wird mit Recht die Renaissance
mit dem Humanismus gewertet. Sie löste das Mittelalter
ab, das an einen „Lebensgehalt als fertig gegebenen
Besitz von draußen" gebunden war, also an ein „hete-
ronomes Faktum, welches vom Zögling passiv aufzunehmen
" war (S. 9). Schon hier blickt durch, daß der
Verf. in einem nicht von außen her geleiteten Idealismus
die von der Pädagogik zu erreichende Autonomie
verbürgt findet. Die Reformation ist eine Vorstufe auf
diesem Wege, sofern ihr nach Lesers Urteil die „göttliche
Instanz gar keine fremde Autorität mehr" darstellt
, sondern „mit der tiefsten Seite des Subjekts" zusammenfällt
(S. 99). Indes ist mit dieser Verinner-
lichung des Lebensgehaltes „die rein weltlich-humanistische
Emanzipation der Erziehung noch nicht gesichert
" ; „erst die immanente . . . panentheistische Wendung
der Neuzeit ließ diesen Gedanken wirklich fruchtbar
werden" (S. 129). Dazu halfen als Vorläufer der
Aufklärung Montaigne und Baco weiter. „Zum ersten
Male" bringt dann Ratke aufgrund seiner „Idee einer
eigenen natürlichen Gesetzlichkeit" die „wissenschaftliche
Emanzipation der Pädagogik" (S. 259); diese
beginnt, „ein eigenes autonomes Sachgebiet" zu werden
(S. 261). Hernach brachte Locke durch „Hereinbeziehung
der empirischen Psychologie" die „wissenschaftliche
Emanzipation im Keime" (S. 328; eine wohl

| ungeschickte Formulierung, da ein Fortschritt über

' Ratke gemeint ist). Nachdem A. H. Francke trotz seiner
religiösen Andersart wegen seiner rational-praktischen

, Erwägungen unter den Männern der Aufklärung eingereiht
ist (S. 385), wird in aller Breite Rousseau behandelt
, der die Aufklärung in einer „pädagogischen
Kritik der Kultur" überwand.

Diese Entwicklung und ihre Fortsetzung bis zur
Gegenwart nennt der Verf. Emanzipation der Erziehung
zu ihrer Autonomie. Kann hier wirklich von Autonomie

j die Rede sein? Mag man die Psychologie, in deren
Verwendung mit Recht Leser die Voraussetzung für die
moderne Entwicklung der Pädagogik sieht, so eng mit
der Pädagogik zusammenfassen, daß sie als Eigenstes
der Pädagogik erscheint, so läßt sich doch nie auf diese

j Psychologie allein die Pädagogik autonom aufbauen.

| Denn die Psychologie enthüllt wohl die Erziehungs-

j mittel, aber nie das Erziehungsziel. Das gibt der Verf.
selber zu: „Diese Wissenschaft fußt in ihrer relativen
Selbständigkeit mehr als andere Wissenschaften in umfassenderen
wissenschaftlichen Zusammenhängen, ja an
charakteristischen Punkten kann sie den Zusammenhang
mit einer letzten Weltanschauung nicht entbehren" (S.
346). Demgemäß geht er überall bei der Behandlung
der einzelnen führenden Pädagogen zunächst von ihrem
weltanschaulichen Hintergrunde aus. Damit ist aner-

| kannt, daß es keine eigentliche Autonomie der Pädagogik
gibt, vielmehr jede Pädagogik sich ihr Erziehungsziel
geben lassen muß, nämlich von der Weltanschauung
. Autonom aber nennt der Verf. eine Pädagogik
, die auf immanenter innerweltlicher Grundlage
beruht (S. 129. 158), sich also von supranaturalen
Weltanschauungen gelöst hat. Ob aber wirklich die

| Entwicklungstendenz der Pädagogik einheitlich in dieser

I Richtung auf Immanenz der Weltanschauung geht, das
mag billig bezweifelt werden. Denn der an sich nur
formale Gedanke des Humanismus läßt sich mit verschiedenem
Inhalte füllen, nicht nur mit den immanen-

i ten Weltanschauungen.

Aus dem Gesagten ergibt sich die besondere Anteilnahme
des Verf. an den in der Richtung auf Immanenz
der Weltanschauung bahnbrechenden Pädagogen.
Was er über Montaigne und Baco sagt, erscheint muster-

i haft und von kongenialer Einfühlung getragen. Mit

I nachempfindender Liebe und großer Ausführlichkeit wird
Rousseau behandelt; dies ganze Kapitel ist lehrreich
durch die Behandlung des Rousseauschen Naturbegriffs,
wie er von Rousseau selbst als genetischer Begriff

[ (Rückkehr zum primitiven, vorkulturellen Zustande) gemeint
war und doch, mehr als sich Rousseau selbst klar
war, zum bewertenden Idealhegriff des Naturgemäßen

j hinüberschillert. In diesen „Korrekturen, die sich in
Rousseaus Gedanken an dem Begriff der Natur selbst

I ankündigen", findet Leser Rousseaus „tiefste Motive"
offenbart (S. 490). Gerade dies sind ja Ideen, die in
die von Leser geschaute Entwicklungstendenz der Pä-

! dagogik zur Immanenz weisen. Zwischen Baco und

I Rousseau steht Comenius, in dessen Interpretation Leser
zu einseitig die Züge innerweltlicher Betrachtung hervorhebt
; wenn er tadelnd vermerkt, Comenius' letztes
Werk zeige ihn „von mystisch-chiliastischen Ideen be-

I herrscht" (S. 269), so haben diese Ideen in Wirklichkeit
immer einen Bestandteil seiner sich pädagogisch
auswirkenden Weltanschauung gebildet. Am meisten

I verzeichnet dürfte Luther sein, dessen Gedanken Leser
hauptsächlich aus der Meyer-Prinzhorn'schen Sammlung
seiner pädagogischen Aussagen zu kennen scheint. Er
wird idealistisch modernisiert und reichlich ins Mystische
gezogen (S. 149) und ihm dabei die theologische

! Gelehrsamkeit abgestritten: „dazu wäre er auch nicht

; genug Gelehrter gewesen" (S. 140, vgl. S. 146). Manche
Schilderungen Luthers treffen eher die von diesem
bekämpften Schwärmer, so wenn es heißt, wir könnten
nach Luther nichts Rechtes auch im Irdischen leisten,
„wenn uns nicht unsere überirdische Existenz erleuch-