Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1930 Nr. 23

Spalte:

548-550

Autor/Hrsg.:

Wach, Joachim

Titel/Untertitel:

Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert. 2. Tl.: Die theol. Hermeneutik v. Schleiermacher bis Hofmann 1930

Rezensent:

Heckel, Theodor

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

547

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 23.

548

aus. Er sucht jedoch „sofort darzutun, daß in dem Eindruck
, den der Tod Jesu auf uns macht" eine „grundsätzliche
Absonderung" seines Lebens gegenüber allem
menschlichen Leben enthalten sei, daß wir aber „von
unserem Gefühl aus" niemals dazu kommen könnten,
„das Leiden Jesu als etwas in jeder Hinsicht Unvergleichliches
anzusehn". Der Tod Jesu bringe kaum
„stärker als alles andere unser Mitleid in Bewegung".
Erweist sich so die Erforschung des ästhetischen Eindrucks
, den das Sterben Jesu hervorruft, als unergiebig,
so muß 2. die Frage gestellt werden: was bedeutet der
Tod Jesu für unser Gewissen ? Auf diese Frage
lautet zunächst die Antwort: er erscheint unserem Gewissen
als der Ausdruck eines Lebens, das ganz anders
ist als unser eignes Leben. Wir können nicht wie der
Gekreuzigte unseren Zusammenbruch zur Tat helfenden
Willens machen. Auch die Bitte Jesu für seine Peiniger
redet von dem Außergewöhnlichen dieses Todes. Damit
hängt zusammen, daß dies Sterben, wenn wir zu ihm
emporblicken, die „innersten Triebkräfte menschlichen
Wollens im Guten und Bösen" ebenso enthüllt, wie er
uns „die Forderung der Selbsthingabe" und die „Notwendigkeit
der Sündenvergebung" eindrücklich macht.
So erweist er sich als eine „das geschichtliche
Leben der Menschheit bestimmende Größe". Der Tod
Jesu ist eben nicht „ein einzelnes Glied im Ablauf des
Weltgeschehens, sondern ein das gesamte Weltgeschehn
umschaffendes Ereignis". Wir haben demnach von
einer kosmischen Bedeutung des Todes Jesu zu reden.
Die am Tode Jesu schuldigen Juden sind die Repräsentanten
der sich selbst dienenden und huldigenden
Menschheit, in deren Sünde uns „der Todescharakter
der Welt" wie unseres eignen Lebens zum Bewußtsein
kommt. Das Wesen dieser Sünde besteht darin, daß
„sie sich selbst für gut und den Heiligen für gottlos erklärt
". In ihr wollen wir selbst entscheiden, was gut
und böse sei, und werden so Gottes teuflische Feinde.
Dieser Sünde Sold ist der Tod. Für sie gibt es ohne
Jesu Fürbitte keine Entschuldigung. Indem uns Gott
durch den Tod Jesu diese Erkenntnis unserer Sünde
schenkt, erklärt er uns gewissermaßen für mündig, so
daß er von nun an mit uns reden kann in der Hoffnung,
von uns verstanden zu werden. Den Gehorsam aber,
den wir nicht zu vollbringen vermögen, hat der Gekreuzigte
, Gottes Gebote erfüllend und seiner Führung
bis zuletzt vertrauend, geleistet und so den Übergang
aus dem Tode zum Leben vollzogen, die Gottentfremdung
der Welt überwunden und die Herrschaft Gottes
in der Welt aufgerichtet. Gegenüber diesem Gehorsam
bleibt für uns nur die eine Möglichkeit übrig, das Bekenntnis
Phil. 2, 10. 11. — Die sehr gedankenreiche
Studie stellt einen Ausschnitt aus dem Ganzen der
Stangeschen Versöhnungslehre dar. Wir haben also
nicht zu fragen, ob in dem Dargebotenen alles Wesentliche
zum Thema von der Bedeutung des Kreuzes Jesu
gesagt sei. Man kann Stange weithin zustimmen, wenn
man zunächst darauf achtet, daß seine Sätze über die
Bedeutung des Kreuzes Jesu als eine Entfaltung des
Bekenntnisses: „der Gekreuzigte der Heiland der Welt"
gelten sollen. Aber erweckt die vorliegende Abhandlung
nicht auch die Vorstellung, als brächte der Eindruck
des Kreuzesbildes Jesu, wenn er nur in der ganzen
Tiefe, Breite und Fülle seines Gehalts ein waches Gewissen
treffe, jenes Bekenntnis von der kosmischen
Heilsbedeutung des Todes Jesu hervor, das St. entwickelt
? Und ist demgegenüber nicht zu betonen, daß
die Unvergleichlichkeit dieses Todes im Sinne des
N. T.s sich aus der Analyse der Eindrücke, die das
Kreuzesbild hinterläßt, nimmermehr ergibt, daß vielmehr
die Predigt von der kosmischen Bedeutung dieses
Sterbens als des Todes des Christus Gottes durch
Gottes souveräne Gnade erst Glauben geweckt haben
muß, wenn jene Bekenntnissätze entstehn sollen, die bei
Stange fast wie Schlußfolgerungen aus Gewissenseindrücken
im Angesichte des Kreuzesbildes Jesu aussehn?

Und müssen wir an diese Fragen nicht die andere
schließen, ob denn die Lehre vom Tode Jesu niemals
von Gewaltsamkeiten der gedanklichen Konstruktion
1 und der Interpretation freiwerden soll? Wenn St. S. 10
behauptet, das Mitleid, das das Kreuz Jesu wecke, sei
j wesentlich verschieden von dem, was wir sonst Mitleid
j nennen, es schließe ja das Gefühl der Überlegenheit aus
j und das der inneren Erhebung ein, so ist dagegen einer-
I seits einzuwenden, daß das Mitleid z. B. mit dem aposto-
j lischen Märtyrer dem doch sehr gleicht, das St. für
den Tod Jesu vorbehält, andererseits aber, daß St. hier
wieder die Einzigartigkeit Jesu durch die Eigenart des
von ihm ausgehenden psychischen Eindrucks nachzuweisen
bemüht ist. Und wenn St. S. 12 ausführt, daß
j Jesu Anteilnahme an dem Schicksal anderer „im Zusam-
I menbruch des eignen Lebens" bei uns „keine Parallele
finde", so wird man auch diesen Versuch, den Tatbestand
des Besonderen im Tode Jesu aufzuweisen, fragwürdig
nennen und mit Verdacht begleiten müssen.
Nicht minder wird man wünschen dürfen, daß gerade
die Karfreitagstheologie, die uns vor die alles Leben
tragende Wirklichkeit und „Wahrheit" Gottes stellen
will, immer mehr Gewagtheiten vermeiden möchte, wie
sie doch die dogmatischen Ausdeutungen des Vergebungswortes
am Kreuz (S. 16) und des Seufzers in
Gethsemane Mk. 14, 34 (S. 21) darstellen. Das alles
darf gerade darum nicht verschwiegen werden, weil niemand
das tiefschürfende, selbständige Nachdenken, die
feinsinnigen Einzelbeobachtungen, die aufschlußreichen
Vergleiche und Antithesen eines weite Umschau haltenden
Systematikers wird missen wollen, Gaben, die uns
Stange auch in dieser kleinen Studie wieder darbietet.

Jena. Waldemar M a c h o 1 z.

Wach, Prof. Joachim: Das Verstehen. Grundziige einer Gesch. d.
hermeneut. Theorie im 19. Jahrh. 2. Tl.: Die theolog. Hermeneutik
v. Schleiermacher bis Hofmann. Tübingen: J. C. B. Mohr 1929. (VIII,
379 S.) 8°. RM 16.50; geb. 19—

Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt eine
Dogmengeschichte des Verstehens im 19. Jahrh. zu
schreiben. Dieser Plan trägt universalen Charakter. Die
gesamte Geistesgeschichte des abgelaufenen Jahrhunderts
in all ihren wissenschaftlichen Verzweigungen wird
vor das Forum des Philosophen gerufen. Schon diese
Breite der Anlage erfordert eine ebenso starke systematische
Kraft der Konzentration, wie einen umfassenden
historischen Fleiß. Universal ist der Plan aber auch in
höherem Sinn. Wie die Geisteswissenschaft das Verstehen
übt oder wie sie über das Verstehen lehrt, ist
beides nichts anderes als die bewußte oder unbewußte
Enthüllung ihrer tiefsten Selbsterkenntnis im Verstehen
des Anderen. Eine Dogmengeschichte des Verstehens
wird darum eine Geschichte der in dem Verstehen sich
I bekundenden und abwandelnden religiösen Bewegung.
Der 1. Band, den der Verfasser 1926 vorlegte, lieferte
dazu schon einen wichtigen, für die Theologiege-
| schichte forschungsmäßig besonders wertvollen Beitrag.

Die Klassiker der Hermeneutik Schleiermacher, Boekh,
; W. von Humboldt hatten das Wort. Der 2. Band ent-
i hält eine Darstellung der theologischen Theorien der
I Hermeneutik bis zu den 60iger Jahren des 19. Jahrh.
i Es gehört eine gewisse Entsagung dazu die Epigonen
I der Klassiker ins Gespräch zu ziehen. Rein historisch
i wird damit gewiß eine Lücke ausgefüllt, die zwischen
j den klassischen Systemen und Dilthey offen ist. Wesentlicher
ist aber der von dem Verf. angegebene Grund, daß
durch Wahrheit und Irrtum der Epigonenarbeit der von
den Klassikern geschaffene Ansatz des Problems und
dadurch die Problematik des Verstehens selbst schärfer
i bestimmt wird.

Wenn der Verf. die theologische Hermeneutik für
■ sich allein aussondert, so entspricht das ihrer Eigenbewegung
und ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die
Hermeneutik. Der Verf. schickt grundsätzliche Be-
I merkungen voraus, die dazu dienen, die systematische