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Ausgabe:

1930 Nr. 22

Spalte:

523-528

Autor/Hrsg.:

Scheller, Emil J.

Titel/Untertitel:

Grundlagen der Erkenntnislehre bei Gratry 1930

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 22.

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Gedanken. Sie lassen zwar gleichfalls die Wandlung
spüren, die M. erlebt hat; aber sie deuten sie mehr an.
Im Vordergrund steht hier immer ganz stark der deutsche
Gedanke, das Volk, das deutsche Wesen. Wuchtig,
kräftig, stahlhart sind seine Sätze; so ganz besonders in
Abschn. 4: „Das Wort Gottes an die Deutschen". Die
Worte des AT.s werden zum Ausgangspunkt genommen
. Einseitigkeiten begegnen reichlich, aber nicht in
verletzender Form; die große heiße Liebe zum deutschen
Volk beherrscht alles und bewegt den deutsch fühlenden
Leser tief. Nirgends zeigt sich Zeitungsstil, nirgends
oberflächlicher Nationalismus; man spürt, wie das Herz
des Verf.s schlägt, und man bleibt ergriffen, auch wo
das Denken widerspricht. So ist denn dieses Buch im
besten Sinn M.s Vermächtnis geworden. Mögen alle, die
es angeht, sich ernstlich mit ihm auseinandersetzen.
Breslau.___M. Schi an.

Schell er, Dr. Emil J.: Grundlagen der Erkenntnislehre bei
Gratry. Halle a. S.: M. Niemeyer 1929. (XV, 288 S.) gr. 8°. =
Forschungen zur neueren Philosophie u. ihrer Geschichte. Hrsg. v.
H. Meyer, III. RM 14—.

Alphonse Gratry (1805—1872) hat in Deutschland
auf protestantischer Seite weder bei Theologen noch
Philosophen Beachtung gefunden, während insbesondere
diejenigen Richtungen der katholischen Philosophie, die
nicht dem strengen Neuthomismus sich verschreiben
wollten, ihn hin und wieder als augustinisierenden Bundesgenossen
gewürdigt haben. So scheint insbesondere
die Religionsphilosophie Schelers von ihm nicht unbeeinflußt
. Clemens Baeumker, der so viel für eine unvoreingenommene
Erforschung der katholischen Tradition
getan hat, ist auch der Anreger der vorliegenden Arbeit
gewesen, die mit vorbildlicher Gründlichkeit nach einem
Vorblick auf Gratrys Begriff der Philosophie die
metaphysischen und psychologischen Voraussetzungen
seiner Erkenntnistheorie zur Darstellung bringt. Leibniz
und Thomas waren die Hauptlehrmeister dieses französischen
Oratorianers, und die Versöhnung von Glauben
und Wissen bildete das Leitmotiv seines Philosophierens
. Die Meisterschaft der Sprache und die
lebensvolle Formulierung seiner Gedanken teilt er mit
Schopenhauer, ohne daß es ihm doch gelingt, die darin
liegende Versuchung zu schöngeistiger Wirksamkeit voll
mit dem Erfordernis systematischer Strenge und Klarheit
zu vereinbaren.

Darüber, daß er ein Gegner des Fideismus ist,
herrscht Übereinstimmung. Er bedient sich insbesondere
der durch Leibniz ausgebildeten Methodik des Infinitesimalen
, um die Analogie des endlichen und unendlichen
Seins sicherzustellen. Aber weil er das abstrakt aktual
Unendliche der Mathematik von dem konkret aktual Unendlichen
der Metaphysik unterscheidet, und sie einander
zuordnet wie Idee und Wirklichkeit, hält er sich in den
kritischen Grenzen des Thomismus. Das ist der strittige
Punkt in der Beurteilung Gratrys. Der Verfasser sucht
zu erweisen, daß kein Grund besteht, ihn als ausgesprochenen
Ontologisten und Augustiner anzusehen. So
wie er die „Ordnung des Seins und Erkennens" streng
auseinanderhält, verwischt er auch nirgends die Grenzen
zwischen Theologie und Philosophie. Thomas bleibt
Sieger über Augustin, wenn auch die Tendenz Gratrys
dahingeht, in Thomas „mehr den christlichen Augustinus
als den heidnischen Aristoteles" zu sehen.

Die kenntnisreiche Arbeit, die im Einzelnen ihrem
Gegenstand keineswegs unkritisch gegenübersteht und
sich dessen geschichtliche Einordnung besonders angelegen
sein läßt, wird in ihrer Brauchbarkeit noch gehoben
durch ein sorgfältiges bibliographisches Verzeichnis
der gesamten Gratry und seine Philosophie betreffenden
Literatur.

Bremen.__Hinrich Knittermeyer.

Alt haus, Prof. D. Paul: Theologische Aufsätze. Gütersloh:
C. Bertelsmann 1929. (VIII, 222 S.) gr. 8°. RM 7-; geb. 8.50.

7 Aufsätze legt A. uns in Buchform vor, alle bereits
im Druck erschienen, 4 davon in der Zeitschrift

für systematische Theologie. Er bezeichnet sie selbst im
Vorwort als Ergänzung seiner dogmatischen Vorlesung.
Als solche bilden sie eine Einheit und vermitteln wohl
einen Einblick in A.'s Dogmatik. Die Grundforderung,
, die alle durchzieht, ist die nach einer „Theologie
des Glaubens". Der 3. Aufsatz stellt unter dieser
Überschrift das „sola fide" als das Prinzip dogmatischen
Erkennens dar. Praktisch bedeutet das, daß die Glaubenserkenntnis
sich von aller anderen Erkenntnis prinzipiell
unterscheidet, daß sie an der Art des Glaubens,
an seiner „Aktualität" teil hat, daß sie existentiell, dynamisch
, kinetisch sein muß, und daß sie in ihren Urteilen
über das Paradoxon, die Antinomie niemals hinauskommt
. A. verfällt dabei nicht der Gefahr der
; Paradoxographie (wie Lietzmann das nennt), sondern
müht sich darum, die Sinnhaftigkeit im Paradoxon aufzuweisen
. Es ist nicht zufällig, daß im vorliegenden
Bande die christologische Frage den breitesten Raum
; einnimmt (daß der bedeutsame Aufsatz über das
[ Kreuz Christi aus dem 1. Jahrgang der Z. syst,
i Th. hier nochmals zugänglich wird, ist besonders dan-
; kenswert, und der letzte in der Reihe, über die C h r i -
| stologie des Glaubens, gibt eine willkommene
■: Ergänzung). Man darf bei A. von einer christozen-
trischen Theologie reden. Zorn Gottes, Gericht und
Vergebung sind nicht Begriffe, Ideen, für die das Chri-
j stentum den reinsten Ausdruck gefunden hätte, für die
Christus das höchste Symbol wäre, sie sind überhaupt
: nur in Christus aktuell, sind in ihm Geschichte geworden
und werden es ständig in ihm. Es gibt für uns
! keinen Gottesbegriff, sondern nur ein Gottesverhältnis
I „in Christus". Der Ansatzpunkt, die Herausarbeitung
der Glaubenserkenntnis in ihrer Eigenart und ihre Abgrenzung
gegen Psychologismus und Historismus kann
| restlos bejaht werden. Besonders eindrücklich bewährt
er sich in dem Aufsatz „Mission und Religions-
[ ge schichte", der gegenüber einer falschen Apolo-
; getik nachweist, wie wir den Maßstab für die Absolut-
heit des Christentums nicht irgendwie von außen her,
; etwa in einer Idee, einem religiös-sittlichen a priori fin-
| den, sondern der Anspruch des Christentums gründet
: allein in der Geschichte des Christus, in dem sich —
schlechthin unerfindlich — die Sünderliebe des heiligen
Gottes offenbart. Ein Wunsch, den diese Aufsätze nicht
befriedigen können, den sie aber lebhaft wecken, ist
der, daß uns von solcher Grundposition aus nun einmal
eine breite Entfaltung christlicher Glaubenserkennt-
I nis geschenkt würde. Ansätze dazu bietet zumal der
erste Aufsatz. Ob es richtig ist, für eine Theologie des
Kreuzes den Gedanken der Vergebung zum Obersatz
! zu machen, ob nicht (vgl. Schlatter, Jesu Gottheit und
I das Kreuz — auf ihn beruft sich übrigens A. oft und
i gern) von dem Gedanken: Jesu Tod als Gottesdienst,
das Gott wohlgefällige Opfer, sich das Ganze noch
reicher und voller gestalten ließe, soll hier nur als
Frage aufgeworfen werden. Im übrigen bewährt sich
auch hier wieder A.'s starke konstruktive Kraft. Wie
er den Gedanken der Vergebung nun wirksam durchdenkt
, das ist fesselnd und überzeugend. Besonders
überzeugend ist die Einordnung der Stellvertretung und
die Unterscheidung einer exklusiven und einer inklusiven
Stellvertretung (Jesu Stellvertretung ist inklusive, er
will uns das Gericht nicht ersparen, aber helfen, daß
das Gericht für uns heilsam werde). So gern sich A.
auf Luther beruft, der ganzen Tiefe Lutherscher Christo-
i logie, dem was Luther zum 4. Kreuzeswort oder zu
Gab 3, 13 zu sagen hat, scheint auch er mir freilich
nicht gerecht zu werden. Auch bleibt die Frage, ob
■ trotz dem Kampf gegen die Psychologie nicht doch
; manchmal zu stark psychologisiert wird. Nicht nur,
wenn A. zu wissen meint, daß Jesu Sündlosigkeit nicht
der Inhalt seines Selbstbewußtseins sei und Mc. 10, 18
dahin zu deuten wagt (S. 32 — in der Tat gewagt!),
sondern überhaupt wiegt in der Darstellung des Glaubens
das Erlebnismoment (das wir gewiß nicht aus-