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Ausgabe:

1930 Nr. 22

Spalte:

520-522

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Carl (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Das religiöse Deutschland der Gegenwart. Bd. 2: Der christliche Kreis 1930

Rezensent:

Schian, Martin

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519

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 22.

520

Vuilleumier, Henri: Histoire de l'Eglise reformee du Pays I
de Vaud sous le regime bernois. Tome troisieme: Le Refuge [
le pietisme Torthodoxie liberale avex une planche et dix facsimiles
hors-texte. Lausanne: Imprimerie la Concorde 1930. (VII, 779 S.) i
4°. Bd. 1-4.

Die beiden ersten Bände des großen Vuilleumier-
schen Werkes behandelten den Waadtländer Protestantismus
im Reformationsjahrhundert und im Zeitalter
der Orthodoxie (vgl. Theol. Lit. Ztg., Jahrg. 1928, Sp.
421 f.; Jahrg. 1930, Sp. 397f.). Ihnen reiht sich würdig
der vorliegende an. In einem ersten Kapitel behandelt
er das, was von den großen Verfolgungen des ausgehenden
14. Jahrhunderts in das Waadtland hineinspielt
(Hugenotten, Waldenser, puritanische Königsmörder,
Ungarn). Das zweite Kapitel (beinahe 400 S.!) ist dem
Pietismus gewidmet; im Mittelpunkt stehen die Gestalten
des Daniel Crespin, Frangois de Magny, David
Faigaux, Samuel Lutz, Nikolaus Samuel de Treytorrens,
Jean Frangois Monod. Das dritte Kapitel stellt die Erweichung
der Waadtländer Orthodoxie und das verzweifelte
Ringen mit der Berner Staatsgewalt um die
Geltung der F'ormula oonsensus und des gegen Pietismus
und Arminianismus gerichteten Assoziationseides
dar. In einem Anhang werden verschiedene Detailfragen
behandelt; so wird die „Kurtze Apologie" des nach
Pennsylvanien vertriebenen Berner Pietisten Samuel Gül-
din als in Bern gedruckt nachgewiesen, obschon als
Druckort Philadelphia genannt ist (vgl. dazu Ernst
Staehelin, Schweizer Theologen im Dienste der reformierten
Kirche in den Vereinigten Staaten, in: Schweiz,
theol. Ztschr., 1919, S. 160 ff.).

Was Vuilleumier im zweiten und dritten Kapitel des
vorliegenden Bandes behandelt, deckt sich natürlich dem
Thema nach mit den das Waadtland betreffenden Abschnitten
im ersten Band von Paul Wernles Werk: „Der
schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert". Die
beiden Werke sind nicht unabhängig von einander entstanden
, sondern die Verfasser haben sich während ihrer
Abfassung gegenseitig Handreichung getan; doch hat
keiner das fertige Werk des Andern benützen können.
Daraus ergibt sich, daß keiner den Stoff des andern vollständig
in seinem Werke verarbeiten konnte, sodaß
beide Darstellungen schon um des Materiales willen,
aber natürlich nicht minder auch wegen der Art der
Verarbeitung nebeneinander benützt werden müssen.
Vuilleumiers Darstellung ist selbstverständlich viel umfangreicher
; während Wende auf etwa fünfhundert
Seiten die Bewegungen des Pietismus und der vernünftigen
Orthodoxie im Gebiet des gesamten schweizerischen
Protestantismus darlegt, beansprucht Vuilleumier denselben
Umfang für die entsprechenden Bewegungen
lediglich im Gebiete des Waadtlandes. Gewiß be- i
handelt er hie und da Gestalten und Erscheinungen, die i
Wende nicht berührt, aber im Wesentlichen ergibt sich '
sein Reichtum aus einer viel ausführlicheren Darstellung.
Wo Wernle nur andeutet und skizziert, entfaltet Vuilleu- [
mier bis ins Einzelnste; das gibt seinem Werk den be-
sondern Wert, macht allerdings die Lektüre manchmal
etwas ermüdend. Umgekehrt liegt die Bedeutung von
Wernles Darstellung, abgesehen davon daß sie aus den
Berner Ratsmanualen gewisse Tatsachen bietet, die !
Vuilleumier nicht kennt, darin, daß sie das Wesentliche
kurz und bündig zusammenfaßt und in lebendiger Weise
ihre typischen Zensuren erteilt. Der Geist allerdings,
aus dem die beiden Werke herausgeschrieben sind,
dürfte im Grunde der nämliche sein.
Basel. Ernst Staehelin. '

Leube, D. Dr. Martin: Geschichte des Tübinger Stifts. TL 2. !

18. Jahrhundert (1690—1770). Stuttgart: Chr. Scheufeie 1930. (II,
349 S.) 8°. = Blätter f. württ. Kirchengesch., hrsg. v. J. Rauscher.
Sonderh. 3. RM 12—. i

Nach neunjähriger Pause ist es dem Verf. gelungen,
den zweiten Band seiner gründlichen Geschichte des
Tübinger Stifts vorzulegen. Es handelt sich um das
Zeitalter des Pietismus und der Aufklärung, also um

einen für die Geschichte der württembergischen Kirche
sehr bedeutsamen Abschnitt. Denn in keiner anderen
Kirche hat sich der Pietismus so mit der Kirche ver-
schwistert wie im Schwabenland. In 5 Kapiteln werden
behandelt: das Stift im Rahmen der Universität und
seine Leitung, seine Organisation, die Bildungseinrichtungen
, wirtschaftliche Dinge und im letzten bedeutsamsten
das Leben im Stipendium. Hier beschäftigt sich
der Verf. vor allem mit dem Pietismus; die Aufklärung
kommt kurz weg, da die Zeit der großen Philosophen
in einem dritten Band dargestellt werden soll.

Das Leben im Stift ist mehr nach seinen Schattenseiten
gezeichnet auf Grund der vorhandenen Akten, die
zudem für wichtige Jahre oft knapp sind oder ganz
fehlen. Die viel visitierte kirchliche Anstalt hat etwa
70 Prozent ihrer Zöglinge der Kirche zur Verfügung gestellt
, den übrigen den Weg in die Freiheit nicht verwehrt
. Leider haben die Anregungen Speners zu wenig
Anklang gefunden, wenn auch der Pietismus manchen
Fortschritt in der althergebrachten Studienlaufbahn
brachte. Das Vorhandensein von Mömpelgardern und
Proselyten zeigt die Fernwirkung des Stifts. Die Frage
der Andachtsübung in einem theologischen Internat
kommt zur Sprache. Der große Prozentsatz der Austretenden
enthüllt die Schwächen des Instituts wie der
Tübinger Theologie, die beide bis zum Ende des 18.
Jahrh. mehr für die Bedürfnisse des 16. Jahrh. berechnet
waren. Es ist dankenswert, daß der Verf. gerade
dem Pietismus so viel Beachtung geschenkt hat; viele
seiner Auszüge zeigen, von welcher Bedeutung diese
Geistesströmung für das religiöse Leben der Stiftsinsassen
wie für die Kirche war. Ein Sachregister für
Band I und II gewährt einen raschen Überblick über
die Reichhaltigkeit der zwei Bände, denen hoffentlich
der dritte bis zum Jubiläumsjahr des Stifts 1936 folgen
kann. Auf S. 43 Z. 10 von oben ist Vetter oder Nachfolger
statt Sohn zu berichtigen.

Horb._ Q. Bossert.

Deutschland, Das religiöse, der Gegenwart. Unter Mitarb. v.
Männern u. Frauen d. Wissensch, u. d. Praxis hrsg. v. Carl Schweitzer.
Bd. 2 : Der christliche Kreis. Berlin : Hochweg-Verl. (1929). (552 S.)
gr. 8". RM 13.50; geb. 16—.

Der 1. Band dieses Werkes ist Theologische Literaturzeitung
1929 Sp. 393 besprochen. Er behandelte
den außerchristlichen Kreis. Der 2. Band, der dem
„christlichen" Kreis gewidmet ist, verläuft in 3 Abschnitten
: A) Der Katholizismus, besprochen von Gerhard
Ohlemüller; eine, wie bei dem Verfasser selbstverständlich
, höchst sachkundige, sehr sachliche, tief in den
Gegenstand eindringende Arbeit. O h 1 e m ü 11 e r hat
Gewicht darauf gelegt, den gegenwärtigen Katholizismus
in großen Zügen zu schildern, nicht aber kon-
fessionskundlich in die Einzelheiten der Lehre und des
Gottesdienstes hineinzufühlen. Abschnitt B) gilt den
außerkirchlichen „christlichen" Strömungen. Gerhard
Jacobi steuert einen Beitrag über Sekten bei, der bemerkenswert
ist und manches eigene Urteil bietet, gegen
den sich aber mancherlei sagen läßt. Genaueres wird
mitgeteilt über die Ernsten Bibelforscher, die Christliche
Wissenschaft und die Mormonen, also gerade über
Gemeinschaften, deren Zugehörigkeit zum eigentlich
christlichen Kreis sehr zweifelhaft ist (vgl. S. 97 oben).
Andere recht wesentliche Sekten sind nicht besprochen.
Margarete Dähnhardt-Diestel bringt eine kurze
Zugabe über die Weißenberger, die Neugeistbewegung
und die Geist-christliche Religionsgemeinschaft. Daß die
Freikirchen .des Protestantismus nicht hier, sondern
beim dritten Hauptabschnitt besprochen sind, ist
gut. Aber wo bleiben Adventisten, Neuapostolische
usw.? Auch die Art der Beurteilung gibt zu Bedenken
Anlaß. Am umfassendsten ist Abschnitt C: Protestantismus
. Schweitzer selbst bespricht die Neuentdeckung
der Kirche. Es folgen Beiträge von Paul A 11-
h a u s, Die Theologie; Friedrich Langenfaß, Die
Frömmigkeit der Gemeinde. Alfred Stahl bietet Allge-