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Ausgabe:

1930 Nr. 21

Spalte:

492-493

Autor/Hrsg.:

Seeberg, Erich

Titel/Untertitel:

Ideen zur Theologie der Geschichte des Christentums 1930

Rezensent:

Brunner, Emil

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 21.

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des einseitigen Historismus in der Schule Ritschis sich
befindet. Dabei wird insgesamt der Ritschlschen Schule,
wie sie in Harnack ihren anerkannten Führer gefunden
habe, diese Entwicklung zur Last gelegt. Mir scheint
dieses Bild nicht ganz zuzutreffen und deshalb auch
Wobbermins eigene Stellung zur Vergangenheit nicht
ganz sachgemäß an den Tag zu kommen. Harnack war
vielleicht das Haupt der Ritschlschen Linken, in der
allerdings der Historismus das theologische Denken
bestimmte. H. H. Wendt war wohl der Dogmatiker
dieser Gruppe, der auf die historisch feststellbare Lehre
Jesu seine Dogmatik gründete. Der Unterschied W.
Herrmanns und J. Kaftans von jenen Tendenzen war
doch erheblich größer, als Wobbermin anerkennt. Beide
standen bereits mit teilweise beachtenswerten Überlegungen
gegen den Historismus, mögen sie ihm auch
nicht die voll durchschlagenden Gegenkräfte entgegengestellt
haben. An Kaftans freundschaftliche Streitschrift
in der Frage „Jesus und Paulus" darf auch erinnert
werden. Haering ist in unserer Schrift nicht genannt.
Begreiflich genug. Wie fein ist in seiner Glaubenslehre
gerade die Auseinandersetzung mit der Historie und der
religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise überhaupt!
Hier sind bleibend wertvolle Gesichtspunkte geltend gemacht
. Daß dieser Standpunkt (trotz weitreichenden Einflusses
) nicht stärker durchdrang, das lag am Zug der
Zeit; denn neben der Ritschlschen Schule, von F. Chr.
Baur und der sog. historischen Schule überhaupt her,
hatte das historische Denken sich ausgebreitet und mit
den neuen religionsgeschichtlichen Tendenzen sich verbündet
. Aber wie Ritsehl, so hat z. B. auch Kaftan
schon die Subjekt-Objekt-Correlation von Offenbarung
und Glauben betont. An diese positiven Züge knüpft
doch Wobbermin gerade selber an, er hat sie nicht neu
aufgestellt, nur näher modifiziert.

Und die religionspsychologische Methode, eröffnet
sie eine neue Phase, führt sie tatsächlich endgültig ins
Freie? Hier können nur ein paar Bedenken geäußert
werden. Die religionswissenschaftliche Fragestellung
ist gewiß eine Forderung der Zeit, aber damit ist keineswegs
der religionswissenschaftliche Standpunkt sanktioniert
, der „einen allgemeinen Religionsbegriff der Bestimmung
des Wesens des Christentums voranzustellen"
(S. 11) bereit ist. Dieser Standpunkt ist und bleibt
problematisch, mag auch das Ineinandergreifen beider
Probleme befürwortet sein. Ebenso ist gewiß die Berücksichtigung
der Schichten des religiösen Bewußtseins
notwendig; sie darf bei keiner theologischen Arbeit
unterlassen werden, sie hat zweifellos methodischen
Wert: Hilfswert nämlich, wenn anders es für die Theologie
darauf ankommt, „was wir nach dem Willen
Gottes erfahren sollen" (S. 23). Zuletzt handelt es sich
doch um die Gottesoffenbarung selbst; ihr ist der
Blick des Glaubens zugekehrt, s i e sucht der Glaubende
nach methodischen Vorbereitungen zu erfassen und selbständig
auszusprechen. Bei diesem Akt fällt jede Reflexionauf
die eigene Glaubenserfahrung ebenso weg, wie
beim Betrachten der Landschaft die Reflexion auf die
Eigenart unseres Sehsinnes. Es ist gewiß wichtig, die
spezifisch neutestamentliche Glaubensüberzeugung in
einzelnen Punkten herauszuarbeiten; doch hat der Theologe
in der Beziehung auf die Offenbarung gerade
unsere eigene Glaubenserkenntnis thetisch auszudrücken.
Er geht also mit dem thetischen Moment über die
religionspsychologische Betrachtung hinaus und erhebt
sich damit erst über den Historismus . . .

Auf den reichen Gehalt der Schrift kann hier nur
hingewiesen werden. Aufgerollt ist das Wissenschaftsproblem
. Wobb. möchte die autonome philosophische
und die theonome theologische Weltanschauungslehre
unterscheiden; ich bleibe lieber bei meiner Unterscheidung
und Aufeinanderbeziehung von mittelbar theozen-
trischer allgemeiner Weltanschauung und unmittelbar
theozentrischer Glaubensbetrachtung („Glauben und
Wissen", Zeitschrift für syst. Theol. 1928). Wobber-

[ mins Gegenüberstellung hat ihre Gefahren, aber sie ist

■ verständlich. Lichtvoll und straff zusammengefaßt, gewiß
ohne erschöpfen zu wollen, sind vor allem die Ab-

i schnitte über Kirche, Offenbarung, Glaube, Hl. Schrift;
| hier ist Wobbermin doch wohl Ritschlscher, als er im
: Beginn der Schrift erscheint. Vortrefflich ist das Inein-
! ander von Glaubenserfahrung und Glaubensgehorsam
} betont, um nur dies eine aus vielem hervorzuheben.

Wie man weiß, bemüht sich Verf. besonders nach-
; drücklich, die heute vielfach gering geschätzte Bedeu-
! tung Schleiermachers zur Anerkennung zu bringen,
i Thesenartig tut er dies hier schon im Verlauf des ersten
Kapitels. Würde ich auch die Akzente anders verteilen
— immerhin ist der Einfluß philosophischer Spekulation
schon im Ansatz bestimmter hervorgehoben
i als früher —, auf alle Fälle muß seine Absicht in einer
' die Zusammenhänge mit der großen Vergangenheit all-
! zuleicht preisgebenden Zeit als berechtigt bezeichnet
werden.

Halle a. S. Q. Wehrung.

Seeberg, Erich: Ideen zur Theologie der Geschichte des
Christentums. Leipzig: Quelle & Meyer 1929. (VII, 74 S.) 8°.

RM 3.60.

Es ist wohl nicht unbillig, wenn der Rezensent
eines Büchleins, das auf 74 Seiten nicht viel weniger
als alle Probleme der Philosophie und Theologie behandelt
, sich darauf beschränkt, aus diesen ziemlich lose
aneinandergereihten „Ideen" einige festzuhalten.

Das erste Kapitel handelt von den „Problemen der
Geschichtslogik" — man gedenkt dabei mit Wehmut
der eindringenden Begriffsarbeit, die Tröltsch diesem
j Problem gewidmet hat. Die „Ideen" beziehen sich auf
I die Themata Begriff und Sein, Geschehen und Geschichte
, Vitalität und Geist und ein halbes Dutzend
andere von ähnlicher Schwierigkeit. Wir erfahren da,
I daß Geschichte da ist, „wo ein Geschehen sich mit dem
reißend lebendigen überindividuellen Sinnzusammenhang
! verbindet (ich setze voraus, daß der Setzer seine Arbeit
t recht getan hat und muß es dem Leser überlassen zu
' begreifen, was ein reißender Zusammenhang ist) S. 5,
j und daß es „flach ist die Geschichte lediglich als die
Stätte der persönlichen Entscheidung anzusehen" 14.
i Das zweite Kapitel handelt vom „Christentum als Religion
der Geschichte". Es beschäftigt sich besonders
mit der Person Jesu und ihrer Bedeutung. Richtig wird
bemerkt, daß „die Begriffe Menschensohn, Heiland,
Herr, Wort, Gott zunächst einmal (trotz begrifflicher
| Differenzierung) auf einer und derselben Ebene der Vorstellung
liegen" und daß in der Selbstaussage Jesu das
; Christusdogma wurzle. Aber diese „rein formale Bestimmung
der Person Jesu" (das Christusdogma, die
' Selbstaussage Jesu) genüge nicht, „das Inhaltliche
t kommt dazu; und in dieser Beziehung (!) ist durch
Jesus das neue Menschenideal geschaffen worden" 20.
! Das Christentum hat „dadurch gesiegt, daß der Mvthus
Geschichte, Fleisch und Blut, Geist und Vernunft ge-
1 worden ist" 22. Die „Grundidee der christlichen Religion
ist . . die Inkarnation" 23. „Daß er (Jesus) der
Ausdruck und Verwirklicher dieser Idee ist und damit
der Anfänger der neuen Menschheit, darin besteht die
Bedeutung der Person Christi" 24. „Ferner können wir
l es aus der Inkarnation ableiten, daß die genuin christ-
[ liehe Art, den Geist zu denken, die ist, daß Geist nicht
an sich, sondern stets als in der konkreten Wirklichkeit
1 . . realisiert gedacht werden muß"; darin stimmen
„Luther und die christliche Philosophie des deutschen
; Idealismus . . überein" 25. Der Gott Luthers ist der
verborgene Gott. „Am deutlichsten zeigt sich diese
Eigenart Gottes (!) in Christus, der am Kreuz hing als
er erhöht wurde" 27. „Im Negativen haben wir das

■ Positive, das ist der Sinn der Rechtfertigungslehre auf
eine hölzerne Formel gebracht" 28. Das dritte Kapitel

1 handelt vom „Wesen des Christentums". Es beginnt mit
der erstaunlichen Mitteilung „ich glaube nicht, daß eine
i einheitliche Konstruktion der Geschichte der christlichen