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Ausgabe:

1930 Nr. 20

Spalte:

476-477

Titel/Untertitel:

Il Progresso Religioso. Anno IX. 1929 1930

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 20.

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nicht an solchem!) zu vergelten. Der Osten „hat", so
gut wie wir, in seiner Laienschaft die Bibel, liest sie
auch, und das hat die Bibel, haben die Evangelien,;
ja an sich, daß sie unmittelbar zu dem Leser „reden":
wer die Evangelien offenen Herzens liest, versteht die
Stimme des ja nicht in Orakeln von sich und seinem
Gott redenden Christus. Auch den Unmündigen des
Ostens weiß Christus in der Bibel, durch ihr „Wort",
sich zu „offenbaren". — Ich sagte, es handele sich um
Zweierlei zwischen Ost und West. Im Sinn habe
ich 2. den Gedanken vom Wesen des Heiles, der
„Seligkeit". Die alte Kirche dachte bei ihrem Dogma an
„Vergottung" des Menschen durch den Jesus, der als
„ganzer" Gott (&e<[) bf.iooüaiog) den Tod „vernichtet"
und seinen „Gläubigen", den Gliedern der Kirche und
Teilhabern ihrer von i h m ihr eingestifteten Mysterien,
„Unsterblichkeit" (ewiges Leben, das Grundmerkmal
des Gottesseins) beschafft habe. Der Westen, „Luther",
versteht das Heil, die Seligkeit als diejenige Um-
schaffung der Gläubigen, die sie zum eigentlichen
Gottes volke in unvergänglicher, unausschöpfbarer
Willens- und Herzensgemeinschaft mit Christus, und s o
mit Gott, erhebt. Auch da ist der Gegensatz von West
und Ost „praktisch" (im einzelnen Christ) vielfach ein
relativer. Das Entscheidende ist, daß der Osten unbedingt
die Mystik als oberste Form der religiösen
Lebenshaltung ansieht, der Westen, der Protestant, der
Lutheraner, den Glauben als Vertrauen von Person
zu Person (des Menschen als in Christo „Kind" Gottes
zu Gott als „Vater", dem man „alles" zu bestimmen
überläßt). — Ein Mangel des Protestantismus
(nicht Luthers!) ist das schwache spezifische Kirchenbewußtsein
, d. h. der Mangel an Gefühl für die „com-
munio" sanctorum. Der Russe hat, man könnte sagen:
als solcher, Gemeingefühl, ganz besonders, wenn er
religiös ist. Sicher ist da viel einfache „Massen"stim-
mung im Spiele. Im Westen ist aber der Individualismus
, die Stimmung der „Isoliertheit" vor Gott, zum
religiösen Schaden speziell des Protestantismus geworden
, wenigstens in Deutschland. Wir Deutschen
sind durch und durch Eigenbrödler. Und doch nicht
Mystiker! Merkwürdig. Mancher evangelische Deutsche
preist die Mystik, „sehnt" sich nach ihr. Da offenbart
sich wesentlich noch bestehende Unklarheit. Mystik ist
immer ein Fehlweg, eine Gefahr vor Gott. Das Gebet
kann zum „Fühlen" der Nähe Gottes werden. Aber
es darf nicht ausmünden in genießende Selbstvergessenheit
. Man mache sich klar, was es heißt, daß das
Neue Testament nie von tgwg rov itzov spricht! Andacht
kennt es wahrlich. Aber Andacht ist ein Anderes, Wahreres
für den Glauben, als Mystik. Es ist ein schlimmer
Mangel unseres „Kultus" (neben dem, daß er nicht
genug Gemeinschaftsgefühl weckt), daß er zu wenig auf
Andacht gerichtet ist. (Rechte Andacht sichert
vor Mystik.).

Das erste der drei Hefte von „Orient und Occident"
ist es im besonderen, das mir zu den Ausführungen, die
ich geboten habe, den Anstoß gegeben hat. Es beginnt
mit einem Aufsatz von Lieb über „Orthodoxie
und Protestantismus" und von Berdjajew über „Die
Krisis des Protestantismus und die russische Orthcv
doxie". Wirklich Berdjajew könnte etwas williger sein,
auch mal zu versuchen, vom Protestantismus zu
lernen. Er müßte sich auch mal in ihn eindenken.
Für einen kirchentreuen Russen ist das schwerer wohl
als umgekehrt. Denn Geschichtskenntnis hat er nicht
gerade als „Erbe". An Intelligenz und philosophischer
Bildung fehlt es B. nicht. — Im dritten Hefte bringt der
Übersetzer des Aufsatzes von ihm, Benj. Unruh, einen
Aufsatz über ihn: „Das Reich Christi und das Reich
Cäsars in der Weltanschauung Nicolai Berdjajews". In
gewissem Maße ist B. ein eigenartiger russischer
Denker. Ich finde es nicht uninteressant, was er zu
sagen weiß; er darf durchaus mit Solewjew verglichen
werden. — Wirklich lehrreich ist der Aufsatz von

! Sergius Bulgakow im dritten Heft, der sehr ein-
| dringend „Das Selbstbewußtsein der Kirche" (der russi-
sehen, insonderheit im Vergleich mit dem der römischen
) schildert. Er analysiert die Idee der „Katholizität"
im Sinne der Ostkirche. Ich wüßte an bestimmten
Stellen wohl nicht unerhebliche Einwendungen gegen
seine „historischen" Ausführungen (zu dem Ausdruck
j xa&ohy.i] lxxAr/r//a) zu machen, aber was Bulgakow
: über die „gültige" russische Idee der „sobornost"
(= Katholizität) ausführt, nehme ich nur mit Dank zur
| Kenntnis. Es sei sehr zweierlei, wie der Russe von
seiner Kirche als „kafolitscheskaja" zerkow (bekanntlich
gibt die russische Sprache griechisches 8 mit f wieder)
rede und der römische Christ von catholica ecclesia.
Für den Russen trage das kafolitscheskaja den „Gedanken
in sich, daß die Kirche sobirajet, „sammelt",
nämlich „alle Welt" (dem Gedanken nach) zu einem
„Verbundensein (soborowanije) des Lebens als eines
gemeinsamen in der all-einen Wahrheit" (dem
Dogma, ihm aber als Le ben s auftrieb). Das ist das
religiöse unbedingte Gemeingefühl des russischen Christen
, das ich oben berührte.

Vortrefflich finde ich im dritten Heft Liebs Aufsatz
„Das Problem des Menschen bei Dostojewskij
I (Versuch einer theologischen Exegese)". D. ist größer,
I gedankenreicher auch als Tolstoi. Ich stelle ihn in
! seiner Art als Nationalgenius dichterischer Art neben
I Dante, Shakespeare, Goethe. — Sehr beachtenswert,
historisch so kenntnisreich wie tiefblickend, sind irn
zweiten Heft die Aufsätze von Walther Harich
„Der politische Rationalismus im Osten", J. L. Hro-
m a d k a „Die Grundpfeiler der europäischen Kultur"
und Karl Klinghardt „Die Zivilisierung Asiens".
— P. Schütz gibt (fast zu geistreich, aber doch recht
gedankenhaft) Eindrücke wieder, die er auf einer Reise
in Vorderasien empfangen hat (im ersten und zweiten
i Heft). Reiche Belesenheit und eindringliche Reflexionen
j auch bietet sein Aufsatz (im zweiten Heft) über „Heid-
! nisch und Christlich". — Noch eine Anzahl von Artikeln
bieten die drei Hefte; wenn ich von ihnen nicht
rede, soll es nicht heißen, daß ich sie wertlos fände, sie
sind nur nicht so konkret auf „Orient und Occident"
eingestellt, wie die besprochenen.

Willkommen, ich könnte auch sagen: am direktesten
erfordert für die „Zeitschrift", ist der Abschnitt
„Chronik", der jedem der Hefte beigegeben ist. Lieb,
Schütz, aber auch andere (z. B. R. Stroth mann),
| berichten da über Belangreiches aus der „Literatur",
j geben aber auch „Dokumente". Der Abschnitt gilt
überwiegend Rußland, berührt aber auch z. B. Albanien
[ (ja auch Afghanistan). Es ist daran zu erinnern, daß
i doch auch Griechenland, bzw. der Balkan und Klein-
i asien, viel wichtiges „Chronik"-Material bieten. Wie
! steht es mit den Athosklöstern? Die Vorankündigung
j des Inhalts des vierten Hefts erweckt leider auch da
I noch keine Hoffnung.

Halle a. S. F. Kattenbusch.

II Progresso Religiöse Anno IX. 1929 Roma (110) (Via Emanuele
Qianturco 4]: Redazione e Amministrazione (288 S.) gr. 8°. 30 L.
S. 1—14 spricht der Herausgeber Mario Puglisi über „Die
neuen Gesichtskreise der reliösen Kultur", indem er auf
die neuen Entdeckungen, Zielpunkte und Forschungsmethoden der Reli-
j gions- und Kulturgeschichte in ihrer ganzen Ausdehnung, einschließlich
1 des Christentums, seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinweist
. Er ergänzt seine Ausführungen in dem Vortrag „Einige Gesichtspunkte
der heutigen religiösen Kultur" (S. 53-68),
worin er die Aufmerksamkeit namentlich auf die neue religionspsychologische
Methode lenkt. Beide Vorträge hat er auf Versammlungen
j der „Assoziatione per il progresso morale e religioso" gehalten, über
deren weitere Vorträge S. 15 ff. berichtet wird, wie auch über den Reli-
' gionsunterricht in Deutschland, den Religionskongreß in Japan vom
, juni 1928, die „kooperativen" zionistischen Kolonien in Palästina
j („Kvutzot"), den „sich modernisierenden" Islam. — S. 49-52 widmet
T i 1 g h e r dem „Centenario di San Benedetto" einige die Bedeutung
dieses Mönchsvaters und seine Schöpfung würdigende Worte.
— Im Artikel „I ,Fedeli d'amore'" S. 69—83 handelt Quadrell