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Ausgabe:

1930 Nr. 18

Spalte:

428-429

Autor/Hrsg.:

Barion, Jakob

Titel/Untertitel:

Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre religionsphilosophische Bedeutung 1930

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 18.

428

Religion zur Feststellung des Textes teilt Lasson mit (S. 238):

Übrigens haben wir hier eine Umstellung vornehmen müssen, insofern
die Abhandlung über die Positivität der christlichen Religion, die
Hegel weder 1821 noch 1824 vorgetragen hat, von ihm im Jahre 1827
ganz an den Anfang gestellt worden ist, wo wir sie mit Rücksicht auf j
den Aufbau des ganzen Werks nicht konnten stehen lassen; sie hat ihre i
sachgemäße Stelle im 3. Abschnitt des ersten Kapitels erhalten.

Der Tatbestand ist folgender. Hegel hat der Ent- j
Wicklung des christlichen Gottesbegriffs eine allgemeine
Charakteristik der christlichen Religion vorangestellt
. In dem Entwurf von 1821 folgt nach einer |
sehr knappen Fixierung der Stufe (in einem der berühmten
dialektischen Übergänge Hegels) die Charakteristik
der christlichen Religion als Religion 1. der j
Offenbarung, 2. der Wahrheit, 3. der Versöhnung und
Freiheit. In der Vorlesung von 1831 sind nach dem !
Zeugnis der alten Ausgabe die beiden letzten Momente
als drittes zusammen genommen; das so frei gewordene i
mittlere Moment ist dann dahin bestimmt, daß das i
Christentum positive Religion sei. Wie stehts nun in
der Vorlesung von 1827? Da Lasson bei keiner mitgeteilten
Stelle sagt, auf welchem Blatt sie in seiner Vorlage
steht, muß man mühsam konjizieren. Was er als
Dublette zu der dreiteiligen Entwicklung des Entwurfs J
von 1821 aus der Vorlesung von 1827 mitteilt, zeigt
deutlich die Zusammennähme des 2. und 3. Moments
zu einem, aber keine Dreiteilung mehr, läßt aber ahnen,
daß die offenbare Religion das 2. Moment gewesen
ist. Das Wahrscheinlichste scheint also, daß 1827 Hegel
die Momente so gehabt habe: 1. positive Religion, [
2. Religion der Offenbarung, 3. Religion der Wahrheit i
und Freiheit. So hätten wir 1827 eine (unvollkommne) j
Vorgestalt der Bestimmung von 1831. Ich frage nun: |
was ist von einer Ausgabe zu halten, die diesen Tatbestand
nicht klar ausdrückt und die Ordnung von 1821
und 1827 in einer eignen Disposition zusammen quirlt, d. h.
aus Stücken verschiedner Baupläne einen eignen Plan herstellt?

Ich fasse zusammen: 1. Die Ausgabe von
Lasson ist wertvoll durch die — wenn auch |
zerstückte und durch unrichtige Ergänzungen belastete
— Mitteilung des Entwurfs von 1821 im
Wortlaute. Der Forscher ist verpflichtet, diesen Entwurf
sich aus Lasson zusammenzusuchen und im Zusammenhang
zu lesen. In der Mitteilung dieses z. T.
herrlichen Entwurfes (gerade z. B. hinsichtlich des Christentums
eine Kostbarkeit), besteht Lassons Verdienst.
2. Die Ausgabe von Lasson ist in allen
andern Stücken einfach unbrauchbar. Sie
gibt weder ein Ganzes, noch gibt sie ein hinreichendes j
Bild der Vorlesung Hegels in den einzelnen Jahren.
Ein geduldiger Forscher kann, wenn er sich Zeit nimmt,
Rätsel zu raten, noch dies und das erschließen, kann
vor allem im Zweifelsfalle feststellen, ob eine Äußerung
Hegels in der Fassung dieses oder jenes Jahres j
vorliegt. Aber ein Gesamtbild erhält er nicht, weder I
von Hegels Religionsphilosophie überhaupt, noch von J
einer einzelnen Vorlesung. So ist Lassons Ausgabe
wider Willen ein Zeugnis für die alten Herausgeber. !
Will man ihr Ziel verfolgen, so muß man ihre Me- j
thode wählen, d. h. ihr Werk, annehmen.

Als Anhang zur Religionsphilosophie gibt Lasson
wie die alten Herausgeber Hegels unvollendete Alters-
schrift über die Beweise vom Dasein Gottes. Er ist,
da das Manuskript zugrunde gegangen ist, hier ge-
zwungen, den Text der alten Ausgabe zugrundezulegen.
Er hat aber nicht ganz zweihundert Konjekturen in ihn
eingetragen. Oft handelt es sich bloß um stilistische
Glättungen an Hegels Ausdruck selbst, zum teil aber
auch um Richtigstellung von falschen Einordnungen von
Übergeschriebnem u. dgl. Die Glättungen hätte ich oft
gerne entbehrt; die Richtigstellung der alten Fehler ist j
ein wirkliches Verdienst.

Das Einführungsbändchen verfolgt ausgesprochen
pädagogische Zwecke.
Göttingen. _ _ E. Hirsch.

Barion, Dr. phil. Jakob: Die intellektuelle Anschauung bei
J. G. Fichte und Sendling und ihre religionsphilosophische
Bedeutung. Würzburg: C. J. Becker 1929. (VIII, 115 S.) gr. 8°.

= Abhandlungen z. Philos. u. Psychologie d. Religion, H. 22.

RM 2.50.

Nach einer knappen historischen Einleitung werden
zunächst bei Kant zwei verschiedene Begriffe der intellektualen
Anschauung gegeneinander abgegrenzt: der
intuitus originarius eines übermenschlichen Wesens und
die (bei Gelegenheit des „vornehmen Tons" Schlossers
angegriffene) dreiste Anmaßung eines Philosophen, der
ohne die mühselige Arbeit des diskursiven Verstandes
sein Ziel erreichen möchte. An keine dieser beiden Begriffe
knüpft die idealistische Philosophie unmittelbar
an. Durch die Preisgabe der kritischen Haltung gegenüber
dem „Ding an sich" wächst der intellektualen
Anschauung eine neue Aufgabe zu.

Bei Fichte ist sie unlöslich mit dem obersten;
Grundsatz der Philosophie verknüpft. Sie ist daher
unableitbar und unbeweisbar als „das Vollziehen des
Aktes, wodurch" — dem Philosophen — „das Ich entsteht
". Sie ist als „Anschauung der inneren absoluten
Spontaneität" ein „Denken der Freiheit" und findet
sich von Anfang an aus dem Horizont der Sittenlehre
bestimmt. Daß dies in der intellektualen Anschauung
sich ergreifende Ich nicht das individuelle, sondern das
absolute sei, brauchte kaum noch bewiesen zu werden.
Der Angelpunkt der vorgebrachten Kritik liegt bei der
Ablehnung der Ineinssetzung von Erkenntnisakt und
intendiertem Gegenstand, sowie der damit zusammenhängenden
Behauptung einer reinen Tätigkeit ohne ursprüngliche
Begrenzung durch ein Objekt des Handelns.

Daß der in der ersten Wissenschaftslehre entwickelte
Begriff der intellektualen Anschauung für eine
eigentümliche Religionsphilosophie kaum Raum läßt,
wird richtig erkannt. Erst während der Berliner Epoche
tritt mit zunehmender Schärfe das göttliche Sein der
Erkenntnis gegenüber. Damit tritt der frühere Begriff
der intellektualen Anschauung zugunsten einer mystischen
Schau des Absoluten zurück. Es ist bedauerlich,
daß der sonst literaturkundige Verfasser weder die
grundlegende Schrift von E. Lask, noch die abschließende
Darstellung von „Fichtes Gotteslehre 1794—1802"
durch E. Hirsch berücksichtigt hat.

Die Darstellung Sendlings leidet an dem Mangel
einer streng genetischen Betrachtung. Gerade um den
doppelten Einfluß Fichtes und Spinozas richtig bewerten
zu können, hätten die Schriften der Frühzeit schärfer
auseinandergehalten werden müssen. Auch wäre das
Fehlen des ursprünglichen Zusammenhangs zwischen
Transzendentalphilosophie und Ethik als Grund dafür
heranzuziehen gewesen, daß Sendling der Stützung des
absoluten Ich durch ein absolutes göttliches Sein bedarf
, um sein transzendental-philosophisches Gebäude
tragfähig erscheinen zu lassen. Die Sachlage selbst ist
aber richtig beurteilt, und es ist nicht falsch, Schelling
gerade Fichte gegenüber als „Ontologisten" zu bezeichnen
. Damit hängt es zusammen, daß die intellek-
tuale Anschauung für Schelling weit mehr ein transzendentales
Vermögen und Organ der Philosophie im
Dienst des Absoluten als der absolute Wurzelgrund der
Philosophie selbst ist. Schelling steht von vornherein
der zweiten Epoche Fichtes näher, als er je der Wissenschaftslehre
von 1794 gestanden hat. Die Kritik begnügt
sich Schelling gegenüber mit der Feststellung,
daß das „allgemeine Sein mit dem absoluten" verwechselt
sei und daher der Bereich Gottes garnicht betroffen
sein könne.

Die anschließende Behandlung der religionsphilosophischen
Epoche Sendlings, bei der die Nichtkenntnis
der Schriften Tillichs überrascht, kommt zu dem Ergebnis
, daß die Bedeutung der intellektualen Anschauung
seit der Freiheitslehre von 1809 zurücktritt und
einer größeren Schätzung des Verstandes auch für die
Gotteserkenntnis weicht. Je entschiedener Gott als