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Ausgabe:

1930 Nr. 18

Spalte:

423-425

Autor/Hrsg.:

Hamburger, Leo

Titel/Untertitel:

Die Religion in ihrer dogmatischen und ihrer reinen Form 1930

Rezensent:

Kesseler, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 18.

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den. Die kann er aber aus den Zahlen der Theologiestudierenden nicht j
ohne Weiteres erkennen. In manchen Universitäten sind die Religionslehrer
überwiegend enthalten in den Theologiestudenten, in manchen
nicht. Die Immatrikulationsordnungen sind da verschieden. Ich gebe
für verschiedene Universitäten folgende Vergleichstabelle (amtliche Zahlen

S.S. 1928):

eingeschrieben Berufsziel Berufsziel

als stud. theol. Pfarrer Religionslehrer

Berlin 370 339 50

Halle 152 138 18

Oreifswald 175 162 17

Königsberg 164 142 32

Man sieht, daß der „stud. theol." an manchen Universitäten die l
Mehrzahl der Religionslehrer mit umfaßt, an andern nicht. Es wäre
also für Schneider das Richtige, die Berufszielangaben der amtlichen
Statistik mit zugrundezulegen. So allein entstünde ein wirkliches
Bild. Wenn er dann nicht bloß die Pfarrer, sondern auch in andern
Tabellen die Lehrer, die Religion als Hauptfach angeben, mitteilt, so
wäre das ein donum superadditum, das erwünscht wäre.

Mir ist bekannt, daß Schneider gegen die Forderung
des Angleichs an die amtliche Statistik den Einwand
erhoben hat, daß die Kirche selbständig sei gegen
den Staat auch in der Statistik. Er übersieht dabei, daß
er so oder so von staatlichen Stellen abhängig bleibt,
seine Selbständigkeit also allein darin besteht, die den
größeren Fehlermöglichkeiten ausgesetzte Quelle gewählt
zu haben und die Verwicklung durch das wechselnde
Verhältnis der kommenden Religionslehrer zur
theologischen Fakultät nicht berücksichtigt zu haben.

Göttingen. E. Hirsch.

Hamburger, Leo: Die Religion in ihrer dogmatischen und
ihrer reinen Form. Versuch e. Grundlegg. d. Religionsphilosophie
. München: E. Reinhardt 1930. (III, 170 S.) gr. 8°.

RM 7.80; geb. 9.50.

„Reine Religion ist Bewertung der gültig gesehenen
Welt als ein Wünschbares oder Verwerfliches." Mit
diesem Satz ist die „reine Religion" in doppelter Weise
gegen die „dogmatische Religion" abgegrenzt. Sie ist
kein theoretisches, sondern ein praktisches Verhalten,
denn sie hat statt des primitiv-mythologischen _ einen
kritisch-gereinigten Gegenstand. Der Verfasser will damit
den Widerstreit zwischen Glauben und Wissen, zwischen
Religion und Wissenschaft endgültig überwinden.
Wie oft ist das schon versucht worden und angeblich
erreicht gewesen! „Wenn am Anfang der sich regenden
Menschheit Frieden herrschte, ein Totenfriede, weil damals
Religion allein obwaltete und Wissenschaft noch
nicht geboren war, so ist es wünschbar, daß reifes Menschentum
sich charakterisieren möge durch einen neuen
Frieden, einen Frieden des Lebens, an dem beide Gewalten
entfaltet beteiligt sind. Kein fauler Kompromiß

— hinter welchem doch immer das Schwert lauert —
kann dieser Friede sein, sondern helläugige Eintracht,
begründet in reiner Religion. Daran ändert auch nichts, j
daß solche Reife vielleicht nur von wenigen Einzelnen I
je verwirklicht werden wird. Emotionales und intellektu- |
elles Verhalten sollen in fruchtbarer Synthesis zusammenstimmen
!"

Religion ist also kein theoretisches Verhalten, keinerlei
Art von Erkenntnis, die nach allgemein gültigen
Prinzipien konstruierbar ist, keine Wissenschaft oder j
Glaubenslehre, sondern ein besonderes emotionales j
Verhalten, in dem sich der Mensch — im Unter-
schied von andern auf einzelnes bezogenen Emotionen ;

— der Welt als Ganzem gegenüber wertend verhält
. Welt bedeutet für den Verfasser den „Inbegriff
lind Zusammenhang aller Gegenstände, über die ein j
Mensch Existenzialurteile für möglich hält". Dieser
Weltbegriff ist in der reinen Religion nicht mythisch,
also der Stufe vorwissenschaftlicher Erkenntnis oder
überwundener Erkenntnis angehörig, sondern er ist in
transzendentalem Sinne „rein", drückt also allgemeingültige
Erkenntnis aus, von der alles nicht wissenschaftlich
Haltbare ausgeschlossen ist. An Schleiermacher
wird kritisiert, daß er in seine Gefühlstheorie, der der
Verfasser nach der einen Seite nahe steht, doch gegenständliche
Aussagen, also ein theoretisches Moment
hineingenommen hat. Reine Religion ist optimistischen
Charakters, denn der Pessimismus, die
andere neben dem Optimismus mögliche Weltbewertung,
ist nicht haltbar, er führt entweder konsequent in den
Selbstmord oder in gemäßigter Form zum Umschlag in
den Optimismus. Die reine optimistische Religion ist
nicht denknotwendig, „ihr den Purpurmantel des Transzendentalcharakters
umhängen zu wollen, ist eine gut
gemeinte, doch überflüssige Ehrung". Wohl aber ist
reine Religion denkmöglich, und darum ist die Fürsorge
geboten, „sich diejenige Religionsart herzustellen,
die von allen die wertvollste ist".

Durch den letzten Gedanken führt die systematische
in die pragmatische Religionsphilosophie über.
Ist reine Religion optimistische Bewertung der wissenschaftlich
erkannten Welt und ist der Optimismus die
logisch zu rechtfertigende und ethisch zu fordernde
Lebenshaltung, dann ist die Herbeiführung der reinen
optimistischen Religion Pflicht und Lebensaufgabe des
Menschen. Da ein „Ineinandergreifen von Welt- und
Einzellust" stattfindet, da die lustbetonten Einzelerlebnisse
die religiöse Gesamthaltung zur Welt fördern, die
letztere aber wieder die Einzelerlebnisse ins Licht der
Lust rückt, so muß die „Gesinnung des reinen Optimismus
" herbeigeführt und bewahrt werden, denn durch
sie, durch Bekämpfung aller pessimistischen und durch
Förderung aller optimistischen Emotionen arbeitet der
Mensch an der Gestaltung seines Schicksals. „In der
Selbsterzeugung seines Schicksals durch den Willen liegt
die religiöse Aufgabe des Menschen. Hat er sich, um
ihr Genüge zu tun, reinen Optimismus erworben, so
wird ihm eine zweite, nicht geringere Leistung abverlangt
: die Selbstbewahrung des selbsterzeugten Schicksals
." Darüber hinaus ist es Pflicht „über den faktischen
Besitz des Optimismus hinaus ihn auch, um ihn
zu stärken, in weltbejahenden Urteilen auszusprechen"
— womit der Verfasser allerdings doch wohl ungewollt
wieder in die Nähe „dogmatischer" Religion kommt.

Denn es will mir doch scheinen, daß die ganze
Darstellung des Verfassers im letzten Grunde einen
stark „dogmatischen" Charakter hat. Anerkennenswert
ist aber auf alle Fälle der Nachdruck, mit dem wenigstens
im Grundsatz jeder Rationalismus abgelehnt und
der emotionale Charakter der Religion betont wird.
Doch schießt der Verfasser weit über das Ziel hinaus,
wenn er das religiöse Gefühl als einen Zustand bezeichnet
, der erst durch seine Beziehung auf die „Welt"
gegenständlichen Inhalt bekommt. Es wird verkannt,
daß diese Zuständlichkeit des religiösen Gefühls nicht
menschliche Funktion und Leistung, auch nicht Leistung
der „Welt", sondern das Innewerden und damit das Gegebensein
des „Überweltlichen" ist. Daraus folgt die
Verkennung der religionspsychologisch fundamentalen
Tatsache, daß die Religion für ihre Überzeugungen den
Wahrheitsanspruch erhebt, also ganz bestimmte gegenständliche
Aussagen über die „Realität" ihres „überweltlichen
" Gegenstandes macht. Damit hängt weiter
die unaufgebbare und unlösbare Spannung zwischen
Religion und Wissenschaft zusammen, und alle Versuche
, sie durch einen glatten Spruch zu beseitigen,
müssen im Mystizismus oder Rationalismus enden. Damit
hängt ferner die einseitige Stellungnahme für die
optimistische Religion zusammen, die nur bei einer
reinen „Diesseitsreligion" möglich ist. Richtig wird
zwar gesehen, daß der radikale Pessimismus mit echter
Religion unverträglich ist und daß der Religion eine
stark lebensteigernde Wirkung eigen sein kann. Auch
mag die Erkenntnis vom Umschlagen des Pessimismus
in den Optimismus ein gewisses Verständnis für die
pessimistischen Einschläge in den geschichtlichen Religionen
und für den wesensmäßig pessimistischen
Grundton in aller echten Religion anbahnen, aber die
tief pessimistische Wertung der „Welt", wie sie dem
Christentum von der „Überwelt" her eigen ist, muß von