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Ausgabe:

1930 Nr. 1

Spalte:

400

Autor/Hrsg.:

Seyferth, Paul

Titel/Untertitel:

Die christlichen Kirchen wider den Alkohol 1930

Rezensent:

Heyne, Bodo

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Seite 1

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399 Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 17.

der Geistesgeschichte macht jede Darstellung ihrer verschiedenen
Richtungen zu einer schweren Aufgabe. Deswegen
auch schwer, weil jeder Sachkenner ein dreifaches
weiß. Erstens dies, daß die praktische Pädagogik
durch die Kraft der Beharrlichkeit und die Korrektur der
Erfahrung meist neben der theoretischen Pädagogik
ihren eigenen Weg geht. Zweitens, daß die theoretische
Pädagogik — damit geht sie einig mit der Kulturwissenschaft
— seit der Auflösung der deutschen idealistischen
Philosophie ihre einheitliche Begründungsmacht eingebüßt
hat. Schließlich drittens: daß die Pädagogik heute
am Durchkreuzungspunkt zweier Jahrhunderte steht.

Die letzte Tatsache scheint mir durch nichts so
scharf beleuchtet zu werden, als durch die grundsätzliche
Umkehr in der Pädagogik selbst von einer immanenten
Begründung — sei es philosophischer, ethischer,
psychologischer Art — zur „metaphysischen, objektiven,
weltanschaulichen Verankerung" —, und ebenso beleuchtet
zu werden dadurch, daß neben einer absolut säkularen
Erziehungsbewegung das Thema Reformation und
Erziehung über geschichtliche Erörterungen hinaus zur
prinzipiellen Besinnung gekommen ist.

Ist dies die Situation, so wird jeder, dem es um Erkenntnis
seiner geschichtlichen Stunde zu tun ist, mit
Spannung eine Schrift wie die angezeigte aufnehmen, die
es sich zur Aufgabe macht, „die Pädagogik der Gegenwart
und den Religionsunterricht" grade vom Weltanschaulichen
und Religiösen aus darzustellen. Nach einer
Einleitung, die von Herbert-Ziller ausgehend die notwendige
Fortentwicklung der Pädagogik kennzeichnet, gibt
der Verf. eine Überschau über die pädagogischen Hauptströmungen
des 20. Er teilt sie in zwei Hauptgruppen
ein: in eine naturalistische (positivistische) und in eine
ethizistische (idealistische). Unter der ersten Gruppe
figurieren die biologische, die psychologische, psychoanalytische
und soziologische Theorie; in die zweite
Gruppe sind eingereiht die Persönlichkeitspädagogik, die
sozialethische Richtung, die wertphilosophische Gestaltung
und die revolutionierende Strömung. Ein drittes
Hauptkapitel ist der christlich-evangelischen Pädagogik
gewidmet.

Die Übersicht zeigt, daß der Verf. die wesentlichen
Richtungen sieht. Man wird es bei der auf den ersten
Blick sinnverwirrenden Fülle pädagogischer Produktion
dem Verf. nicht verargen, wenn er die anthroposophische
Pädagogik, romantische Strömungen u. a. übersieht.
Auch über die Rahmengruppierung würde ich nicht
rechten, obwohl mir nicht eingeht, warum idealistisch
und ethizistisch synonyme Bgriffe sein sollen. Auch
wird anzuerkennen sein, daß die Hauptpunkte der allgemeinen
Charakteristik bei den einzelnen Richtungen
stimmen. Dennoch kann ich, wenn ich mir auch der beabsichtigten
Kürze der Schrift bewußt bleibe, mit der
Kritik nicht zurückhalten.

Erstens: Ich vermisse im Einzelnen rein sachlich
in Umfang und Würdigung manches in der Darstellung.
So tut z. B. das Kapitel über Psychoanalyse, aber auch
über die Psychologie (cf. die moderne Charakterologie)
dem tatsächlichen Stand nicht Genüge. Im 3. Kapitel
vermisse ich von anderem abgesehen die pädagogischen
Bestrebungen um Evangelium und Schule. Ob Neuerscheinungen
wie Bohne, Heitmann keine Stätte mehr
finden konnten, vermag ich bei dem Fehlen eines Datums
nicht zu beurteilen. Immerhin, wenn der Titel
schon den Religionsunterricht anspricht, so hätte es
nahegelegen, aus der anmerkungsweise abgetanen dialektischen
Theologie doch einige bemerkenswerte Erscheinungen
zu nennen. Da der Verf. mit erfreulicher
Wärme für die ev. Kirche eintritt, hätte die tatsächliche
Leistung der ev. Theologie auf dem Gebiet sonderlich
des Rel. U. seine gelegentliche Apologie im 3. Kapitel
bedeutsam verstärkt. Wenn der Verf. es sich auch
nicht vorgesetzt hat, so wäre ein einführendes Wort in
die konfessionelle Pädagogik der katholischen Kirche
von hohem Wert gewesen.

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Mein zweiter Einwand ist der, daß der „Pharus-
Standort" selbst nicht scharf eingezeichnet ist. Dadurch
verliert die Zustandsschilderung ihr scharfes Gepräge.
An zwei Beispielen wird das deutlich. Die unbefangene
Gerechtigkeit, mit der bei Förster Politik und Pädagogik
auseinander gehalten und auch die Gesamttendenz der
Religionspädagogik F. gewürdigt wird, weiß ich zu
achten. Trotzdem wundere ich mich, wie das aus Rationalismus
und Religion zusammengesetzte dilettantisch
apologetische religionspädagogische Mischwerk F. ein
derart günstiges Urteil von ev. Seite wie hier finden kann.
Noch deutlicher ist die Unsicherheit des Standpunktes bei
dem 3. Kapitel. Ich muß gestehen, daß ich trotz wiederholten
Lesens den Eindruck einer unrichtigen Vermischung
von Evangelium und Pädagogik nicht loswerde
. Schon der Ansatz der „notwendigen Differenzierung
" ist mehr als bedenklich; noch weniger stichhaltig
der trotzdem erhobene Anspruch der Allgemein-
giltigkeit der christlich-evang. Pädagogik. Hätte nicht
ein schärferes Hinhorchen auf das Anliegen der revolutionierenden
Pädagogik, vor allem auf die Schriften
von Grimme, den Ansatz für das letzte Kapitel gereinigt
? Ich könnte ebenso sagen, ein wirkliches Studium
der reformatorischen Grundlagen der Erziehung;
könnte auch sagen, ein eindringenderes philosophisches
Gespräch mit den Wertphilosophen hätte die Basis,
auf die sich die ev. Pädagogik stellen muß, gezeigt.

Dies führt mich zum letzten. Stehen wir an einem
Durchkreuzungspunkt der pädagogischen Bewegung, so
hat die deskriptive Darstellung der überkommenen und
der gegenwärtigen Pädagogik die kritische Aufgabe,
nicht Symptome und Ergebnisse zu beurteilen; sondern
die ungleich schwierigere Verpflichtung die Ansätze
der pädagogischen Theorien auf Wahrheit und Irrtum
hin zu untersuchen. Es wird nur heilsam sein, wenn die
begrüßenswerte „christlich - evangelische Pädagogik",
will sie nicht in eine bloße Nebenordnung geraten, in
den Bannkreis der allgemeinen Pädagogik sich begebend
die Wahrheit aller Pädagogik aufdeckt um die wahre
Pädagogik aufzuweisen.

Wenn ich schon eingangs betonte, daß jede Darstellung
der Pädagogik der Gegenwart ein ernstes
Unternehmen ist, so möchte meine Kritik an der Schrift
Eberhards das Verdienst eines solchen Wagnisses nicht
schmälern; sondern seinen Wunsch, besonders für die
Theologenkreise dringlich machen, daß sie sich durch
die ordnende und erleichternde Überschau seiner Darstellung
zu ernstlichem Studium des pädagogischen
Schrifttums selbst ermutigen zu lassen.

Berlin. Theodor Heckel.

Seyferth, Paul: Die christlichen Kirchen wider den Alkohol.

Berichte aus aller Welt. Im Auftr. d. Internat. Verb. f. innere
Mission und Diakonie hrsg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1929. (IV, 120 S.) gr. 8°. RM 3.80.

Das Buch enthält Berichte aus den verschiedensten Ländern über
die Entwicklung des Kampfes gegen den Alkohol und bietet so einen
guten Überblick über die Gesamtlage und Vergleichsmöglichkeiten.
Allerdings sind die Berichte nicht gleichwertig. Der Herausgeber beklagt
die teilweise Nichtberücksichtigung der von ihm gemachten Vorschläge.
Öfter ist nur eine Darstellung des allgemeinen Kampfes gegen den
Alkohol gegeben und die besondere Arbeit der christlichen Kirchen
kaum erwähnt. Vergl. dazu den im übrigen sehr interessanten Bericht
aus den Vereinigten Staaten. Mustergültig ist der englische Bericht,
übrigens der einzige, der von dem direkten Kampfe einer Kirche selbst,
nicht nur kirchlicher Vereine, zu berichten weiß. Der verspätete Eingang
mancher Berichte hat dem Herausgeber die scharfe Herausarbeitung
allgemeiner Ergebnisse erschwert. Das ist zu bedauern. Man
erwartet eigentlich mehr, als ein paar Schiußbemerkungen. Auch die
drei an den Anfang gestellten grundsätzlichen Abhandlungen sind, so
gern man sie liest, kaum ein Ersatz für eine systematische Einleitung
zur ganzen Frage. Am ehesten trägt dem noch der Aufsatz über die
katholische (!) Kirche Rechnung. Die Schwierigkeiten, die ohne Frage sich
dem Herausgeber in den Weg gelegt haben, sollen nicht verkannt
werden, doch lastet auf dem Buch der Charakter der Zufälligkeit. Es
fehlt uns nach wie vor die grundsätzliche Behandlung der ganzen
Frage vom evangelischen Standpunkt aus unter Berücksichtigung der
großen sozialen Zusammenhänge, in die die Alkoholfrage eingeordnet ist.
Bremen.___Bodo Heyne.