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Ausgabe:

1930 Nr. 1

Spalte:

377-378

Autor/Hrsg.:

Margolius, Hans

Titel/Untertitel:

Die Ethik Franz Brentanos 1930

Rezensent:

Jordan, Bruno

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Seite 1

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377

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 15/16.

378

Demokratiee-n zu sein; abgesehen von Querköpfen, die
es natürlich auch in England und der Schweiz gibt, weiß
man in diesen Ländern gar nicht alles besser als die j
Regierung. Von grundsätzlicher Bedeutung sind Sätze
wie der: „es ist, rein äußerlich angesehen, dasselbe, ob
kh alle Erscheinungen als Zufall oder ob ich sie als j
Wunder bezeichne" (S. 69) — ja, aber auch nur wenn
man es rein äußerlich ansieht. Zugespitzt, einseitig ist j
die Formel: „Der Idealismus erstrebt die Erkenntnis des
der Weltentwicklung immanenten Geistes und meint
durch diese Erkenntnis die Menschen zur Wahrheit,
Schönheit und Sittlichkeit führen zu können. Die Reli-
gion wendet sich an den Willen des Menschen; sie will
ihn gut machen oder ihn befähigen, das Gute zu wollen"
(S. 79). Die Überzeugung des Frommen, seine Bekehrung
sei von Gott gewirkt, drückt S. so aus: steht
die neue Gesinnung des Menschen zu seiner natürlichen
Willensrichtung in direktem Widerspruch, „fällt auch j
jede Möglichkeit einer Umbildung durch empirische
Mittel fort, so muß die Entstehung dieses neuen Willens !
auf das allwirksame geistige Prinzip oder Gott als den
Urwillen zurückgeführt werden" (S. 83). Diese nicht
zwingende rationale Herleitung wird nur dem einleuchten
, der ohnehin religiösen Glauben hat oder auf der
Schwelle zu solchem steht. Ebenso wird, wenn S. vom
Zweck der geistigen Entwicklung der Menschheit j
spricht und ihn jenseits sucht, derjenige, der (was nicht
selten ist) Optimismus mit Resignation verbindet, in I
Freude am geistig-seelischen Leben der Einzelnen und
der Menschheit nicht darüber hinaus fragt, sich nicht |
wiederlegt fühlen; hier entscheiden zuletzt Empfin- j
düngen nicht Beweise. Das alles weiß S. natürlich, ich j
erwähne es aber, weil Vorlesungen, die auch vor Nicht-
theologen gehalten sind, leicht im Lichte der überlieferten
rationalen Apologetik betrachtet werden. Wenn S.
endlich, Entwicklung über den Tod hinaus fordernd, im
Tode die Seele einsam werden läßt, einsam eine Läuterung
in Erinnerungen durchmachen läßt vergleichbar
denen des Alternden, sie aber nach dieser Läuterung
wieder in Gemeinschaft treten läßt und für Letzteres den
christlichen Gedanken der Auferstehung heranzieht, so
erhält dieser dabei zweifellos eine sehr veränderte Stellung
und Bedeutung. Der Ausdruck, die Erziehung
durch die Geschichte sei „eine Vorschule — sie sei nun
weltlich, konfessionell oder gemeinschaftlich aufgebaut
— für die ewige Akademie des Reiches Gottes" (S. 119)
gehört zu den vielen hellen Bildern S.'s; daß er mehr
platonischen Gedanken entspricht als Worten des synoptischen
Jesus, braucht nicht gesagt zu werden.

S. 103 6 Zeilen vor dem Abs. 1. widerspricht st. entspricht.
Kiel. Hermann Mulert.

Margolius, Hans: Die Ethik Franz Brentanos. Leipzig:
Felix Meiner 1929. (VIII, 104 S.) gr. 8°. RM 4—.

Das bekannte Urteil Diltheys über Brentano, er
sei ein mittelalterlicher Metaphysiker geblieben, macht
sich auch der Verfasser dieser Darstellung seiner Ethik
zu eigen. Freilich mit einer wichtigen Einschränkung:
So sehr auch für Brentano das Sein Gottes letztes und
höchstes Ziel seiner objektivistischen Philosophie sei, er
trenne sich doch darin von der mittelalterlichen
Denkungsart, daß er eine unabhängig von aller kirchlichen
Autorität durch die Natur selbst gelehrte sittliche
Wahrheit erstrebe. Diese eigentümliche Doppelseitigkeit
seiner Ethik — die allerdings über das im Grunde
Mittelalterliche seines Glaubens und Denkens nicht hinwegtäuschen
könne, — sei begründet durch ein Zusammen
kontemplativer und aktivistischer Tendenzen in
»hm selbst: Neben dem Empiriker in ihm stehe der
Realist, männlich gesunde Kraft und doch wieder gottgläubige
Hingegebenheit seien die Urgegebenheiten seines
Daseins. Diese Zwiespältigkeit seines Wesens ist
ja auch sonst oft betont worden, ich halte diese Deutung
nicht für richtig. In Wirklichkeit knüpft zwar Brentano
an diejenige Ontologie und Metaphysik an, die
nach ihm mit Plato, Aristoteles beginnt und mit Des-
cartes, Leibniz endet. Aber er sucht die von der alten
„ontologischen" Metaphysik aufgeworfenen Probleme
von vornherein mit den „feineren" Mitteln moderner
Analyse, die von descriptiver Darstellung des Tatbestandes
zu genetischer Erörterung des Bestandes führt,
einer Lösung näher zu führen. Dabei ist ja aber grade
entscheidend, daß er immer wieder seine schon bei seiner
Habilitation aufgestellte These vertritt: vera philo-
sophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis. Daß
er sich schrittweise von Aristoteles und den anderen
genannten Denkern emanzipiert, daß er die spekulative
Philosophie leidenschaftlich bekämpft, daß er Kants Gedanken
als subjektiv und relativ mißdeutet und verwirft,
daß er descriptive und genetische Psychologie scharf
scheidet, daß er eine Phänomenologie des Bewußtseins
versucht, die man nicht mit der Wesenschau Husserls
verwechseln sollte, andererseits seine Lehre von der
intentionalen Beziehung, sein Begriff des richtigen Urteils
, seine Wertaxiomatik, seine Zeitlehre, seine Kontinuitätslehre
, seine Theorie des Relativen und der Relationen
und vieles andere mehr beweisen, daß er weder
einfach unter die alte Scholastik mittelalterlichen oder
modernen Gepräges noch unter Positivismus und Empirismus
einzuordnen ist. Man sollte endlich dem Beispiel
von Kraus und Kastil folgen und ihn in seiner Eigentümlichkeit
und Selbständigkeit zu begreifen versuchen.
Auch die vorliegende Darstellung seiner Ethik, die im
Grunde nur referiert und daran kritische Bemerkungen
schließt, wird der eigentümlichen Intention seines Denkens
kaum gerecht. Kennzeichnend ist schon der äußere
Aufbau der Darstellung: auf eine sich eng an Brentanos
Worte anschließende „Darstellung der Grundgedanken"
folgt eine gleichfalls aus vielen Zitaten bestehende „kritische
Betrachtung", die freilich im einzelnen manchen
guten Hinweis auf andere Lösungsmöglichkeiten der
Probleme enthält. Merkwürdigerweise lesen wir dann
aber gesondert noch eine „Charakteristik", die u. a.
auch eine Darstellung seines Lebens in sich beschließt.
Ein Anhang bringt zwei bisher unveröffentlichte Gedichte
Brentanos und eine doch wohl überflüssige Literaturübersicht
der benutzten Werke. Wie wenig der Verfasser
die eigentlichen Intentionen Brentanos durchschaut
, zeigt seine „Kritik". Er anerkennt die „Basierung
des ethischen Kosmos im Begriff der richtigen
Liebe", er verwirft aber „ihre nähere Bestimmung des
Begriffs der richtigen Liebe vom Objekt des Gefallens
her". In Wirklichkeit ist es ja grade das Verdienst
Brentanos, die Analyse des Bewußtseins des Sittlichen
bis zu Ende durchgeführt zu haben, denn er wollte ja
auf die letzten Erfahrungselemente stoßen, aus denen
die Begriffe solcher seelischer Tätigkeiten entspringen,
die in sich selbst gerechtfertigt d. h. richtig sind. So
allein gelangen wir nach ihm zu Begriffen von Wertungen
und Bevorzugungen und können daraus Wert-
und Vorzugsaxiome ableiten. „Die ethische Erkenntnistheorie
Brentanos ist völlig souverän, kein Willensgebot,
weder ein eigenes, noch ein übermenschliches ist der
Verpflichtungsgrund, sondern das seiner selbst sichere
Bewußtsein der Richtigkeit der Liebe und des Hasses;
die Moral ist daher weder heteronom noch eigentlich
autonom, sie ist orthonom" (Kraus). Natürlich wird
niemand den Zusammenhang Brentanos mit Aristoteles
und der scholastischen Methode leugnen, aber wenn
j man diese Seite betont, müßte man ebenso sehr seine
1 Anknüpfung an Leibniz heiworheben. Sinnvoller aber
i erscheint es mir, ihn zunächst aus sich selbst darzustellen
und zu begründen; über einzelne Sätze kritisch
zu referieren, führt zu nichts. Statt der „epischen" Ader
wünschte man dem Verfasser eine wirklich „dramatische
", statt bloß „descriptiver Darstellung" hätte man
gern eine „genetische Analyse" gesehen.
Bremen. Bruno Jordan.