Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1930 Nr. 11

Spalte:

260-261

Autor/Hrsg.:

Hoeßlin, J. K. von

Titel/Untertitel:

Die Abstufungen der Individualität 1930

Rezensent:

Wehrung, Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

259

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 11.

260

Peers, E. Allison, M. A.: Ratnön Lull. A Biography. London:
S. P. C. K. 1929. (XVIII, 454 S.) 8°. 18 sh.

Mit Freuden zeige ich dieses schöne Buch an. Seit
1923 bemüht sich P„ die Gedankenwelt des seligen
Raymundus Lullus seinen Landsleuten durch Übersetzung
der Hauptwerke nahezubringen. 1923 veröffentlichte
er das Buch vom Liebenden und Geliebten, 1925
die Kunst der Betrachtung, 1926 Blanquerna, 1927 das
Tierepos und die Übersetzung der beiden zeitgenössischen
(katalanischen und lateinischen) Viten; außerdem
1925 Thoughts from Blessed Ramon Lull for every day.
Daß der Erfolg dieser Arbeit weit über England hinausging
, erzählt P. S. 412 f. seines neuen Buches. In
ihm legt er uns eine vorzügliche Biographie dieser interessanten
Persönlichkeit vor, die erste wissenschaftliche
Darstellung seit A. R. Pascal s Vindiciae Lullianae,
1778. Es ist nicht leicht, in einer kurzen Besprechung
eine Vorstellung von dem reichen Inhalt des Buches zu
geben. Zunächst eine Übersicht über das Ganze: Eine
chronologische Tafel (S. XV f.) bildet gewissermaßen
die Einleitung; sie läßt uns bereits die enorme Aktivität
Ramons erkennen. Dann folgt in 17 Kapiteln die eigentliche
Lebensbeschreibung, im 18. die Geschichte des
Lullismus, im 19. eine Gesamtwürdigung. S. 421 ff.
gibt P. eine (sehr gute) Auswahl aus der Lullus-Biblio-
graphie, S. 435ff. eine alphabetische Liste der zitierten
echten und apokryphen Werke des Seligen, endlich S.
443 ff. einen sehr brauchbaren Index.

Es ist selbstverständlich, daß ein Mann, der mit
den Quellen so vertraut ist wie P., den Lebenslauf seines
Helden unter gewissenhaftester Benützung aller in Betracht
kommender Spezialforschungen quellenmäßig darstellt
; auch hindert ihn die Verehrung, die er dem
großen Franziskanertertiaren entgegenbringt, nicht, kritisch
vorzugehen und manches Legendengestrüpp zu beseitigen
. Die Persönlichkeit Ramons tritt ja nur um so
heller in die Erscheinung. Ich sehe gerade darin die
Bedeutung der neuen Biographie, daß sie uns diesen
ebenso reich wie eigenartig veranlagten Mann wirklich
nahebringt. Wer nicht mehr von ihm weiß, als daß er
der Erfinder der „rullischen Kunst" ist, hält ihn leicht
für einen merkwürdigen Kauz; als solcher ist er ja
noch in der Histoire litteraire de la France dargestellt
vgl. P., S. 413 und 424). P. zeigt, daß diese Er-
indung nur ein Mittel zur Verwirklichung der einen
großen Idee war, die Ramons Leben beherrschte, die
Bekehrung der Mohammedaner zum Christentum. In
ihren Dienst stellte er nicht nur seine schriftstellerische
Begabung, nicht nur sein Vermögen, sondern seine
ganze Person, seine ganze Lebenskraft. Das brachte ihn
in den Ruf eines Phantasten. Und doch, wie überzeugend
ist seine Selbstverteidigung: „Alles, was ich in der
Welt hatte, habe ich verlassen, um Gott ehren, meinem
Nächsten helfen und unsern heiligen Glauben verherrlichen
zu können. Ich habe Arabisch gelernt, und mich
bemüht, die Mauren zu bekehren. Ich bin gefesselt, eingekerkert
und mißhandelt worden. 45 Jahre lang habe
ich mich bemüht, die christlichen Fürsten und Prälaten
für die Arbeit am Gesamtwohl der Kirche zu gewinnen.
Jetzt bin ich alt und arm, aber ich habe noch immer
dasselbe Ziel und vertraue, daß ich darin mit Gottes
Gnade verharre bis zum Tode. Scheint dir — so fragt
er den Prälaten, der ihn den größten aller Phantasten
genannt hat — „solch ein Leben phantastisch zu sein?
Laß dein Gewissen urteilen, wie Gott über dich urteilen
wird" (S. 357f.). Ganz leise ist in dieser schlichten
Apologie die Wurzel seines Missionseifers (dem
durch die Zeitumstände kein Erfolg beschieden war)
angedeutet: die Versunkenheit in Gott. Ramön ist ein
echter franziskanischer Mystiker, und wahrlich keiner
der geringsten. P. vergleicht ihn mit Franziskus selbst, ;
und es ist nicht zu leugnen, daß die Geistesgemeinschaft
größer ist, als man zuerst meint.

Die Zahl der Lullus-Handschriften kann ich um eine weitere, die
bisher übersehen wurde, bereichern. Es handelt sich um die Hs. 298 |

von Bourges (chart., 170 ff., 212:145 mm, XV. saec, nicht XIV., wie
der Katalog sagt). Sie enthält: 1. Ratio quare facimus istam artem
est, ut ars magna facilius sciatur (f. 124r) . . . Si vero nesciant sco-
lares, magister doceat eos in predictis. Actum Pisis per Raimundum
1307 in Januario (142 r). Das ist die sog. Ars brevis (= Hist. litt. n.
50 p. 236; = Longprd, Dict. de Thebl. cath. IX, p. 1095, n. 38: =
Peers, S. 335). 1307 ist nach unserer Zeitrechnung 1308. 2. Tractatus
parvus de divina Trinitate. Quoniam per plures modos novos venati
sumus divinam Trinitatem (142 v) . . . Et si in hoc est superbus, ego
conveniam ipsum ad diem iudicii coram divina Trinitate. Ad laudem
et honorem Dei finivit Raimundus istum tractatum in civitate Messane
mense octobris anno 1313 (143 v). Diese kleine Abhandlung fehlt in
der Hist. litt.; sie ist = Longpr£ p. 1101 n. 59, 3. — Zur Literatur ist
inzwischen hinzugekommen: J. Avinyö-Andreu, Moderna visiö del
Lullismo segons la ideologia dels neolullistes hodierns, Barcelona, 1929.
Car. Ottaviano, L'Ars compendiosa de Raymond Lulle, avec une
etude sur la bibliographie et le fond ambrosienne de Lulle, Paris 1929.
B. AI tan er, Olaubenszwang und Glaubensfreiheit in der Missionstheorie
des R. L. Ein Beitrag zur Geschichte des Toleranzgedankens,
Hist. Jahrb. 48 (1928) 586-610.

Möchten meine Andeutungen über die Grundgedanken
des Buches viele anreizen, es zu lesen. Ich bin
überzeugt, daß sie es nicht bloß wissenschaftlich bereichert
, sondern auch religiös ergriffen aus der Hand
legen.

Breslau. Jos. Koch.

von Hoeßlin, J. K.: Die Abstufungen der Individualität,

Leipzig: F. Meiner 1929. (Hl, 132 S.) gr. 8°. = Beihefte zu d.
Annalen d. Philos. u. philos. Kritik, H. 10. RM 7—.

Diese Schrift ist ein beachtenswerter Beitrag zur
geisteswissenschaftlichen Psychologie. — Die deutsche
psychologische Forschung war lange, länger wohl als
die ausländische, in der Psychologie der Elemente, wie
sie Spranger nennt, stecken geblieben, und nur schwer
hat sie sich seit der Jahrhundertwende aus einem verschleierten
Materialismus herausgearbeitet. Es ist bekannt
, was wir hierfür der Sehnde Diltheys verdanken.
H. Schwarz darf ebenfalls genannt werden. — Mit letzterem
berührt sich wohl der Verf. dieser Schrift, übrigens
auch im Versuch neuer Wortbildungen („ereinheitlichen
" usw.). In dem Werkchen drückt sich eine reiche
geistige Aufgeschlossenheit aus, auch religiöses Empfinden
(das freilich Loyola oder Calvin besser zu würdigen
weiß als Luther); von besonderem Wert sind weiter die
Veranschaulichungen aus dem Gebiet der Kunst. — Die
seelisch-geistige Individualität soll nach ihren Grundlagen
, Beziehungen, Entfaltungen, Stufen beschrieben
werden. Jede Parallelisierung mit den natürlichen Gesetzmäßigkeiten
wird ferngehalten; ganz lebendig wird
die Individualität gefaßt, was schon die immer wiederkehrenden
Bezeichnungen wie Charakterpotential, Ich-
Tiefe, Wirkungsmöglichkeiten, Gemütsaktivitäten usw.
zeigen. Sorgfältig wird das Verhältnis zur umgebenden
Wirklichkeit und ihren Einflüssen unter dem Titel
„Charakterperipherie" abgewogen, werden Prozesse wie
Anähnlichung, Anpassung, widerstrebende Gegenwirkungen
, Umwandlungserscheinungen beleuchtet. Bei der
Frage nach dem Verhältnis des individuell geistigen Lebens
zum Körper wird das monistische Denken (Identität
, Parallelismus) abgelehnt und ein dualistisches (gewisse
"Wechselwirkung) unter Berufung auf die Hete-
rogenität der stets gesetzmäßig gebundenen physiologischen
Prozesse und der geistigen Betätigungen vertreten
; der Grundgedanke dürfte bestehen bleiben, auch
wenn man den schöpferischen Charakter des seelischgeistigen
Lebens stärker einschränkt und die Seiten natürlicher
Gebundenheit dieses Lebens mehr berücksichtigt
sehen möchte. Wenn dabei die Möglichkeit oder
Vorstellbarkeit eines Wechselverhältnisses durch den
Hinweis aufgezeigt werden soll, daß die moderne Physik
die Materie gerade auf funktionelle Energien, auf unmaterielle
, rein energetische Punkte zurückführe,
wodurch der Unterschied zwischen dem sog. Materiellen
und dem Geistigen nicht so groß, so unüberbrückbar
erscheine, so ist das gewiß recht und gut, auch ist die
Vorsicht des Verfassers durchaus anzuerkennen: doch