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Ausgabe:

1930 Nr. 9

Spalte:

208

Autor/Hrsg.:

Behn, Siegfried

Titel/Untertitel:

Allgemeine Geschichte der Pädagogik in problementwickelnder Darstellung. I. u. II. Tl 1930

Rezensent:

Kesseler, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 9.

208

Taufbekenntnis voraussetze. Auch sonst finden sich
mehrfach starke Anknüpfungen an Aufstellungen und
Ansichten Seebergs (z. B. bei Bohlin s. u.; sehr nett
liest sich Harnacks Bemerkung, er hoffe den Jubilar
noch davon zu überzeugen, daß er, H., sich wie in dem
behandelten Sonderfall so auch sonst nicht einer Überschätzung
der Bedeutung Marcions schuldig gemacht
habe). Im übrigen geht selbstverständlich jeder Mitarbeiter
seinen eigenen Weg. So unmöglich es ist, den
Inhalt aller 37 Aufsätze wiederzugeben, so selbstverständlich
ist es, daß die beiden Bände eine große Fülle
wertvoller Einzeluntersuchungen umschließen. Der Gedankenkomplex
, der sich um die Rechtfertigungslehre
gruppiert, wird gefördert durch Beobachtungen zu „Luthers
Rechtfertigungslehre" von Rudolf Hermann,
der die Debatte zwischen Karl Holl und Wilhelm Walther
aus 1923 und 1924 fortführt. Es handelt sich dabei
vor allem um den Gedanken, daß Gott, wenn er dem
Sünder vergibt, das Ziel der werdenden und der einst
vollendeten Gerechtigkeit des Menschen, die Gott selber
wirkt, schon gegenwärtig hat, und daß er deshalb den
Sünder „gerecht" nennen kann. Bohlin setzt Rechtfertigung
und Reich Gottes zueinander in Beziehung.
Das Rechtfertigungsurteil, das bei Paulus den Charakter
eines gerechtigkeitschaffenden Aktes erhält, bedeute
sachlich dasselbe, wie die Aufrichtung der Herrschaft
Gottes im Innersten des Menschen. Weber erörtert
die Beziehungen zwischen Geschichtsphilosophie und
Rechtfertigungsgiauhe. Bei Paulus sind beide verbunden
gewesen. Wohl hebt sich die Heilsgeschichte aus dem
Wirrsal der Menschheitsgeschichte heraus. Aber die
Herauslösung bedroht die Theologie mit der Gefahr der
Vereinseitigung. Die kurze Studie von C. Stange über
„Die Einwirkung des modernen Geisteslebens auf den
Glauben an Christus" gipfelt darin, daß St. die kosmische
Bedeutung der Person Jesu Christi betont. Dem
modernen Christusglauben sei es eigentümlich, daß
Jesus 1. als der Heiland der Welt, und 2. als der Vollender
der Schöpfung gelte. Wenn wir die christologische
Studie von Althaus aus der Ihmels-Festschrift mit diesem
Beitrag zusammenhalten, so zeigen sich doch gewichtige
Verschiedenheiten der Betrachtung. Martin
Schutzes Aufsatz „Der Mittler" beschäftigt sich mit
Emil Brunners Buch. Gottes Offenbarung in Christus
ist nicht in einer irgendwie in ihm eingekapselten göttlichen
Substanz oder Person zu sehen, sondern in seinem
Gottes Liebe verkörpernden Leben und Wirken. Wilhelm
Koepp hat eine sehr belangreiche, längere Arbeit
über „Merimna und Agape" beigesteuert, die sich mit
Heideggers „Sein und Zeit", 1927, kritisch auseinandersetzt
. Den phänomenologischen Grundansatz Heideggers
verneint K. Der Entwurf der Heideggerschen Fundamentalanalysen
sei im letzten Grunde ipsozentrisch. Von
geschichtlichen Arbeiten sei die von Erich Seeberg
hervorgehoben, der Zwingli, Schwenckfeld und Luther
auf ihren Gegensatz prüft. Der Aufsatz ist mit zahlreichen
Zitaten belegt, führt auch in manchen Einzelheiten
die Debatte weiter, ist aber doch nicht eigentlich
eine Spezialstudie, sondern bewegt sich in großen und
weiten Gedanken. Als das eigentliche Motiv des Gegensatzes
zwischen Luther und Zwingli wird der Geistgedanke
hingestellt. Aber auch was Luther von der Mystik
jeder Spielart scheidet, ist zutiefst der Geistgedanke.
Das wird in der Gegenüberstellung von Luther und
Schwenckfeld dargelegt. Eine sehr förderliche Untersuchung
.

Der zweite Band bringt einige geschichtliche Studien
, die ebensogut im ersten Teile hätten stehen können
; so z.B. von v. Walter „Ignatius von Antiochien
und die Entstehung des Frühkatholizismus". Es handelt
sich dabei um Geist und Amt. Die Frömmigkeit des
Ignatius wird als typisch katholisch erwiesen. Es liege
eine Materialisierung des Heilsgutes wie des Heilsweges
vor. Besonders bedeutsam ist aus dem weiteren Inhalt
dieses Bandes der Beitrag von Mahling „Der Wille

| zur Volkskirche". Mahling gibt zum ersten Male geschichtliche
Nachweise über die Entstehung des Begriffs
„Volkskirche". Er weist den Begriff bei Schleiermacher
nach; aber der eigentliche Schöpfer des Begriffs
bleibt Wichern. Alfred U c k e 1 e y sucht das Verhältnis
von Kirche und Sekte näher zu bestimmen. „Kirche" ist
ihm Prädikat am Begriff „Volk". Der volkskirchlichen
Einstellung steht die freikirchliche gegenüber. Die Freikirchler
werden wieder in zwei große Gruppen geteilt.
Nur die zur zweiten Gruppe gehörigen Gemeinschaften
sollen als Sekte bezeichnet werden. Teilungsprinzip ist
dabei die Stellung, die die einzelnen der Landeskirche
gegenüber einnehmen. In U.s Aufsatz findet sich viel
Wertvolles, aber seine Behandlung des Kirchenbegriffs
läßt doch eine Anzahl von Fragen unbeantwortet,
namentlich mit Bezug auf das Verhältnis der Einzelkirche
zur congregatio sanctorum. Lezius' Arbeit über
„Wesleys Perfektionismus" ist zwar historisch gehaltert
und bringt vor allem recht Wesentliches zur Kenntnis
der Persönlichkeit Wesleys; sie hat aber zugleich aktuelle
Bedeutung für die Gegenwart. Hervorheben möchte
ich noch Stolzenburgs Aufsatz über „Mechanismus
und Organismus in der Sexualethik". Er geht mit
den bisherigen Methoden der kirchlichen Stellungnahme
auf sexualethischem Gebiet scharf ins Gericht. Da es
sich hier um eine praktisch außerordentlich wichtig gewordene
Frage handelt, sei auf diesen Aufsatz besonders
aufmerksam gemacht. Kein Zweifel: die große Festschrift
bedeutet ein Zeugnis für die überragende Stellung
R. Seebergs und für die weitreichende Anerkennung
seines Werks. Sie wird unter allen Geburtstagsgaben
dem Jubilar sicher die liebste gewesen sein.

Breslau. M. Schi an.

Behn, Prof. Dr. Siegfried: Allgemeine Geschichte der Pädagogik
in problementwickelnder Darstellung. I. u. II. Tl. Paderborn:
F. Schöningh 1028. (IV, 453 S. u. 1 Taf.) 8°. = Handbücherei d.
Erziehungswissensch., Bd. 18 a/b. geb. RM 8.10.

Die bisherige Art, die Geschichte der Pädagogik darzustellen, hat
stark unter dem Einfluß des Historismus gestanden. Behn verhehlt sich
nicht, „daß unser erstes Drittel des 20. Jahrhunderts an dieser Art von
Geschichtsforschung nicht allzu sehr Anteil nimmt." Er sucht daher
einen andern Weg, der sich m. E. als sehr fruchtbar erweist, nämlich
eine Darstellung, die die großen Probleme herausarbeitet, die die Geschichte
der Pädagogik bestimmen. Es ist das prinzipiell der Weg, den
erstmalig Windelband in der Geschichte der Philosophie gegangen ist.

Behn kann natürlich auch nicht auf jede Periodisierung in der
Geschichte der Pädagogik verzichten. Er unterscheidet die Epoche der
pragmatischen Pädagogik, die vor allen Dingen auf das Ziel blickt, die
anthropologische Pädagogik, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht,
und die Epoche der scientifischen Pädagogik, die vor allen Dingen
den Wissenschaftscharakter der Pädagogik herauszustellen trachtet.
Diese drei Epochen der Pädagogik werden dann weiter noch in Unterabteilungen
gruppiert, die die innere Entwicklung der betreffenden Epoche
kennzeichnen. Ihre Einzelcharakteristik würde hier aber zu weit führen.
Wichtiger und für das Buch noch kennzeichnender ist neben dieser
Periodisierung die Herausarbeitung der pädagogischen Probleme, die
drei Gruppen unterscheidet, die Probleme von Form und Wachstum,
von Strenge und Verständnis und von Theorie und Praxis. Bereits diese
drei Gruppen zeigen deutlich, daß die pädagogischen Probleme antino-
mischen Charakter haben. Sie treten immer als polarer Gegensatz auf.
Auch die Einzelfragen, in denen sich die pädagogische Problematik
innerhalb der drei Gruppen entfaltet, hat stets polaren Charakter, z. B.
Autorität und Freiheit, Zurechnung und Milde, Führung und Entwicklung.
Dieser polare Charakter der pädagogischen Problematik zeigt den tiefsten
Grund für die ungeheuren Spannungen, mit denen die Pädagogik der
Gegenwart ringt.

So fällt denn von diesem Buch trotz des stark systematischen und
konstruktiven Charakters, der ihm eignet, doch ein helles Licht auf die
pädagogische Lage der Gegenwart, die in ihren tiefsten Motiven verstanden
wird. Was der Verfasser selbst als wesenermittelnde Pädagogik
darstellt, eröffnet den Ausblick auf eine neue einheitliche Pädagogik,
! die dem pädagogischen Chaos der Gegenwart ein Ende machen könnte.
Diese Pädagogik wird wieder Ideal und Vorbild, Maß und Norm, Richtung
und Ziel haben. Daß der Verfasser diese vom Standpunkt der
katholischen Weltanschauung aus sieht, ist die Grenze des vorliegenden
Buches, es stellt uns Evangelische ernstlich vor das Problem einer evan-
'■ gelischen Pädagogik.

Düsseldorf. Kurt Kessel er.