Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1930 Nr. 9

Spalte:

206-208

Autor/Hrsg.:

Koepp, Wilhelm (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Reinhold-Seeberg-Festschrift. I. u. II. Bd 1930

Rezensent:

Schian, Martin

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

205

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 9.

206

neues Licht wirft. Die Religion überbietet sowohl die
Lösung der Politik als auch die Lösung der Kunst. Gott
verwirklicht in sich „die Idee des Idealstaats" und nicht
mehr bloß Schönheit, sondern „Heiligkeit ist das Wesen
des göttlichen Geistes". In diesem Zusammenhang wird
—sogar mit Beziehung auf Karl Barth — die Jenseitigkeit
Gottes nachdrücklich hervorgehoben. „Selbst der
Glaube, diese Bedingung der Gnadenwirkung, beruht
noch auf Gnadenwirkung." Trotzdem greift aber die allmächtige
Dialektik auch über den jenseitigen Gott hinaus
und bezieht ihn in die Versöhnungsgeschichte des
Geistes ein. „Gott bedarf der Seelen, er bedarf der
kämpfenden Ichsubjekte, um nicht einsam und tatlos zu
sein, so wie der Staat seiner Bürger bedarf." Nachdem
diese Prob lern atisierung Gottes gelungen ist, kann es
nicht schwer werden, auch die „Grenze der religiösen
Selbstverwirklichung des Geistes" aufzuzeigen. Gerade
dabei verrät Kroner dann freilich ein kritisches Verständnis
der wirklichen Situation des von Gott betroffenen
Menschen. Er verweist auf Sünde und Geschöpflich-
keit, er verweist auf das Kreuz als auf das unaufhebliche
Dazwischen, das die vollständige Versöhnung ungeschehen
bleiben läßt. Und er sieht in der Mystik die
Hybris des religiösen Menschen, der diese Grenze nicht
anerkennen, sondern gewaltsam sie überspringen will.
Aber daß durch das Dazwischentreten Gottes die Entfaltung
der Problematik nicht überhaupt gestört, sondern
unbeirrt aufrechterhalten und weitergeführt wird,
ist der Zoll, den Kroner an Hegel entrichtet.

toer die naive Kultur erhebt sich die reflexive
Kultur. Daß die Reflexion ursprünglich dem Mythos
der Genesis entsprechend sich an der Anrede Gottes
erst entzünden könnte, ist nicht in Erwägung gezogen;
und dadurch die primär religiöse Verwurzelung der Reflexion
übersehen. Infolgedessen kann jetzt die Religion
als höchste naive Verwirklichung überboten werden
durch die Reflexivität der Philosophie. Gleichwohl ist es
eine bedeutungsvolle Abgrenzung gegen Hegel, daß die
Überordnung der Philosophie um den Preis ihrer bloßen
Reflexivität erkauft wird. Die endgiltige Versöhnung
des Geistes kann nur reflexiv in Philosophie und Historie
erfolgen. In entscheidendem Betracht bleibt daher
die Religion doch unüberbietbar. Was Kroner in diesem
Zusammenhang über das Verhältnis von Philosophie
und Religion ausführt, gehört daher mit zu dem Tiefsten
, was in der zeitgenössischen Philosophie zu diesem
Thema gesagt ist. „Die Philosophie mißversteht sich
selbst, wenn sie ihr eigenes reflexives Versöhnungswerk
dem der Religion überordnet, wenn sie durch sich selbst
das Bewußtsein endgiltig versöhnt zu haben wähnt; als
Reflexion begreift sie vielmehr die Unmöglichkeit, ja
die Widersinnigkeit absoluter Versöhnung."

Daß neben Philosophie an dieser Stelle die Historie
auftritt, entspricht verwandten Ausführungen Natorps in
der letzten Phase seines Philosophierens. Auch in der
Reflexion tritt nämlich Selbst und Welt wieder auseinander
. Auch in der Reflexion ist nur ein zwiespältiger
Abschluß möglich. „Indem der Geist historisch auf sich
reflektiert, verwirklicht er sich als Weltbewußtsein: die
Sinnwirklichkeit der Kultur entfaltet sich als eine geschichtlich
werdende geistige Welt; indem er philosophisch
auf sich reflektiert, verwirklicht er sich als
Selbstbewußtsein: die Sinnwirklichkeit der Kultur entfaltet
sich als der geschichtliche Weltgeist."

Diese widerspruchsvolle Beendigung eines in strenger
Systematik sich aufbauenden Werkes bewirkt, daß
alle Grenzen wieder flüssig werden und die Probleme
aus den Fugen der Systematik erneut hervorbrechen.
Ihre systematische Durcharbeitung ist deshalb nicht
umsonst gewesen. Daß sie am Ende greifbarer und bestimmter
das Feld beherrschen, ist eben die Frucht der
systematischen Bemühung; und so liegt darin zugleich
die tiefste Rechtfertigung, die es für ein Buch wie dieses
geben kann.

Bremfn-__Hinrich Kn i tterm ever.

Reinhold-Seeberg-Festschrift. I. Bd.: Zur Theorie des Christentum*.
II. Bd.: Zur Praxis des Christentums. In Gemeinschaft mit einer
Reihe von Fachgenossen hersg. v. Wilhelm Koepp. Leipzig:
A. Deichert 1929. (XII, 342 u. IV, 342 S. m. 4 Abb.) gr. 8°.

einzeln je RM 20—; geb. 23 — .
Bd. I u. II zus. RM 36-; geb. 42—.
Zu einer wissenschaftlichen Ehrung für Reinhold
S e e b e r g aus Anlaß seines 70. Geburtstages haben
sich 37 Kollegen und Freunde zu einer zweibändigen
Festschrift zusammengetan. Die Zusammensetzung des
Mitarbeiterkreises zeigt gerade im Vergleich mit der
kürzlich hier besprochenen Ihmels-Festsehrift charakteristische
Unterschiede. Allerdings ist Ihmels selbst als
Mitarbeiter beteiligt („Die Aufgabe der Dogmatik im
Lichte der Predigtaufgabe"), und der Herausgeber der
Ihmels-Festsehrift, Jelke, hat auch für die Seeberg-Fest-
schrift beigesteuert. Auch fehlen Mitarbeiter aus den
deutschen lutherischen Landeskirchen nicht (z. B. Bachmann
, „Gott und Welt und Seele"). Aus außerdeutschen
lutherischen Landeskirchen haben Olaf Moe und Torsten
Bohlin beigesteuert; ebenso Karl Beth in Wien. Aber
die große Menge der Mitarbeiter kommt aus der Berliner
Fakultät (von Harnack, Titius, Deißmann, Sellin,
Mahling, Bertholet, Stuhlfauth, Erich Seeberg, Fabricius,
Doehring, Stolzenburg) sowie von anderen preußischen
Fakultäten (Koepp, Caspari, Carl Stange, Martin Schulze
, Hans Emil Weber, Behm, Klostermann, Uckeley,
Jirku u. a.) und aus den Kreisen der Praxis, namentlich
der Inneren Mission, der Seeberg nahesteht (Füllkrug,
Steinweg, Schreiner). Die Zusammensetzung des Mitarbeiterkreises
ist für Seebergs Persönlichkeit und Wirkung
bezeichnend. Im Vorwort wird gesagt, daß Seeberg
sich mitten hineingestellt habe zwischen die ringenden
Fronten. „Oftmals mußten Sie da, von den Pfeilen
der einen Front nicht unverletzt, gegen die Schleudersteine
der anderen in Deckung gehen. Aber Sie haben
es doch auch erleben dürfen, daß von beiden Kampfeslinien
her ernste Männer aufeinander zueilten und sich
von Ihnen die Hände ineinander legen ließen, gestählt
durch den Zustrom neuer Energien vom vermeintlichen
Gegner her". So finden sich denn auch unter den Mitarbeitern
sehr verschiedene Persönlichkeiten nebeneinander
: Neutestamentier wie Bachmann, Behm, Deißmann
und Klostermann; Dogmatiker wie Ihmels, Koepp
und Titius, Kirchenhistoriker wie von Harnack, Erich
Seeberg und Lezius. Der 1. Band trägt die Gesamtbezeichnung
„Zur Theorie des Christentums", der zweite
heißt „Zur Praxis des Christentums". Innerhalb der
beiden Bände findet eine fachliche Einteilung nicht statt.
Jirkus Aufsatz über „Das israelitische Jobeljahr" ist in
den zweiten Band geraten, Wiegands geschichtliche Studie
„Vom Mittelalter zur neuen Zeit" desgleichen. Natürlich
unterliegt auch die Wahl der Gegenstände keiner
systematischen Auslese. Bei solchen Festschriften steuert
ja in der Regel ein jeder bei, was ihm geeignet
scheint. Eine gewisse Anlehnung an das Studiengebiet
des Gefeierten pflegt versucht zu werden. Aber Seebergs
Gebiete sind so weit und groß, umfassen in einem
solchen Maße Geschichte, Systematik und Praxis, daß
sich von da her keinerlei Beschränkung ergab. Ausdrücklich
knüpft Jelke an Seebergs dogmatische Stellung
an. Er stellt seine Erörterung über die Apriori-
theorie Seebergs hinein in die breitere Erörterung über
das religiöse Apriori überhaupt. Als Unterschied zwischen
Seebergs Aufriß und seinem eigenen stellt J.
heraus, daß Seeberg in der Einheit des wollenden Ich
Wille und Vernunft unterscheide, während Jelke selbst
beide nicht scheide, sondern unterscheide. J. führt diesen
Unterschied auf die voluntaristische Metaphysik Seebergs
zurück. Gleichfalls an Seeberg knüpft Moe an.
Während Seeberg seine frühere Hypothese, wonach die
apostolischen Briefe eine bräuchliche feste Formel eines
triadisch gegliederten Taufbekenntnisses vorausgesetzt
haben, aufgegeben hat, versucht M. den Nachweis, daß
Paulus nicht allein den Taufbefehl Matth. 28 gekannt
habe, sondern wahrscheinlich auch ein trinitarisches