Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1930 Nr. 9

Spalte:

203-205

Autor/Hrsg.:

Kroner, Richard

Titel/Untertitel:

Die Selbstverwirklichung des Geistes 1930

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

203

Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 9.

204

des „historischen Jesus", die in Kähler ihr bleibendes
Vorbild hat, ist zu begrüßen. Wenn die Einheit des
„biblischen Christus" gegen jeden Versuch einer dualistischen
Deutung von Idee und Erscheinung gewahrt
werden muß, so liegt darin gewiß eine Kritik an
der idealistischen Geschichtsauffassung überhaupt. Verändert
sich aber nicht auch die eigentliche Fragestellung
? Es geht nicht mehr um das Verhältnis von
Glaube und Geschichte, sondern um das von Christus
und Geschichte, oder, wie wir mit Kähler sagen möchten
: von Christus und Menschheitsgeschichte.

Königsberg i. Pr. _H.-J. Iwand.

Krön er, Richard: Die Selbstverwirklichung des Geistes.

Prolegomena zur Kulturphilosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr 1928.

(VIII, 225 S.) gr. 8°. RM 14.50.

Richard Kroner bietet in diesem Werk ein systematisches
Gegenstück zu seiner grundlegend gewordenen
Geschichte der deutsch-idealistischen Philosophie
(Von Kant bis Hegel, 2 Bde. Tübingen 1921. 1924).
Deren eindeutige Parteinahme für die durch Hegel vollzogene
Synthese des griechischen und deutschen Geistes
verleugnet sich auch in der methodischen Haltung des
Systems nicht. Schon der Titel redet eine deutliche
Sprache. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt aber
doch, daß das Wagnis Hegels, das „System der Begriffe
... in reinem, von außen nichts hereinnehmendem
Gange sich vollenden" zu lassen, keine Nachfolge mehr
findet. Die spekulative Logik wird abgelöst durch eine
reflektierende Kulturphilosophie. Gleichwohl hält Kroner
, unbeirrt durch die philosophischen und theologischen
Angriffe gegen den Idealismus, daran fest, daß
die „konstruktive" Methode allein imstande ist, „Einsicht
in die Gliederung der Kultur" zu vermitteln und die
„Frage nach Maß und Grenze der Leistung jedes Gebiets
philosophisch zu beantworten".

Diese in der Vorrede formulierte Aufgabe kann
auch dem grundsätzlichen Gegner des Idealismus nicht
gleichgiltig sein. Es ist sicher nicht damit getan, auf
Grund eines „überlegenen Wissens" um so etwas wie
die „religiöse Entscheidung" nur einfach den philosophischen
Absolutheitsanspruch kritisch einzuschränken.
Auch die Kritik muß den von Kroner bezeichneten positiven
Ansprüchen zu genügen versuchen. Es wird nicht
zureichen, gleichsam kritische Rhapsodien zu verfassen,
da doch die gegebene Verflochtenheit der menschlichen
Lebensproblematik der Philosophie nicht nur zumutet,
einige allzumenschliche Götterbilder zu stürzen, sondern
vor allem den Widerstreit relativer Ansprüche innerhalb
der Kulturgegebenheit gegeneinander abzugrenzen. Diese
Aufgabe läßt sich aber ohne konstruktive Systematik
kaum lösen. Vielleicht wird die kritische Konstruktion
sich auch im Einzelnen wesentlich von der idealistischen
Konstruktion unterscheiden. Vielleicht wird bei der Beurteilung
jedes einzelnen Kulturphänomens die anerkannte
Gebrochenheit und Verkehrtheit aller menschlichen
Schöpfung nicht außer Ansatz bleiben dürfen und
eine spezifische Ablenkung sowohl des aufnehmenden
Blicks wie des ihn reflektierenden Urteils bewirken;
daß aber die Nötigung zum konstruktiven Durchgehen
des gesamten Problembereichs je aufhören sollte, ist
nicht anzunehmen.

In äußerst gedrungener Darstellung, die weder mit
den Zeitgenossen sich auseinandersetzt noch auf Seitenstraßen
sich einläßt, entfaltet sich die Konstruktion Kroners
. Schlag auf Schlag schürzen und lösen sich die
Knoten der unmittelbaren und durch die Kultur vermittelten
Selbstverwirklichung des Bewußtseins. Durch
die Gegensätze Bewußtsein und Selbstbewußtsein, Bewußtseinsform
und Bewußtseinsinhalt, Gegenstands- und
Ichbewußtsein, theoretisches und praktisches Ich versöhnt
sich das Bewußtsein schließlich zu dem der Gemeinschaft
. Das leitende Dogma: „Das Bewußtsein
kann sich mit sich selbst nur einigen, wenn es ursprünglich
ein Eines ist, wenn dieses Eine sich selbst zerteilt
oder entzweit, und wenn es aus dieser Entzweitheit sich

als Eines wiederherstellt", wird in diesen grundlegenden
Kapiteln mit unerhörter Virtuosität gehandhabt und so
beschleunigt durch die uralten Abgründe der dialektischen
Spekulation hindurch zum Siege geführt, daß
hier am ehesten die Zweifel an der Durchdringung oder
auch nur echten Erschließung der logischen Grundprobleme
sich einstellen werden (Bes. S. 34 ff. oder S. 59 f.
die etwas leichthin geschlagene Brücke vom Tode zur
Unsterblichkeit).

Eine neue Phase der Selbstverwirklichung des Bewußtseins
tritt dann mit der Einbeziehung der leib- und
doch bewußtseinsartigen Wirklichkeit der Kultur ein.
Daß die Kultur nur als selbsterwirktes Werk verstanden
wird, droht sicherlich auch hier die tiefsten Konflikte
der Kulturwirklichkeit verschlossen zu halten. Wie Staat
und Recht, wie vollends die Geschichte nur im Horizont
der Konstruktion sich zeigen darf — „die Geschichte
muß ihrem Sinne nach so bestimmt werden, daß dadurch
eine Schlichtung des Widerstreites möglich wird"
(86) —, läßt sich nicht anders denn als programmatische
Vereinfachung der Problemlage bezeichnen; und wird
auch nicht dadurch wettgemacht, daß zuletzt mit dem
Auftreten der Individualität neben dem „Sinnmoment"
das „Seinsmoment" seine Anerkennung findet. Die Einführung
dieser Kategorie des Individuellen ist nur das
Korrelat der selbstischen Sinnkonstruktion und unterstreicht
die Ausschaltung der unableitbaren, nicht nur
soziologischen Grundstrukturen, sondern überhaupt unselbstischen
Gegebenheiten und Gesetze des Wirklichen.

Nimmt man diese auf alles rückwirkende Einseitigkeit
des Ausgangspunktes in Kauf, dann wird man der
Konstruktion Geist und Glanz nicht absprechen, und
sich — bei aller Skepsis dem Ganzen gegenüber — im
Einzelnen vielfältig gefördert und angeregt finden. In
erhöhtem Maß trifft das aber auf den zweiten Teil zu,
der die Gliederung der Kultur behandelt und sich erheblich
tiefer auf die vorgefundene Problematik einläßt.
In der Reflexion auf die unter der Idee eines Ganzen
sich gliedernde Kultur gibt sich erst die eigentümliche
Überlegenheit der Philosophie innerhalb dieser Kultur
kund, ohne daß die Philosophie deshalb aber aufhört,
ein bloßer Teil dieser Kultur zu sein. Diese Reflexion
entdeckt nun einen viergliedrigen Stufenbau, dessen
vital-zwecksetzende Grundlage Technik und Wirtschaft,
dessen rational-unterwerfenden Unterbau Wissenschaft
und Politik, dessen intuitiv-verschmelzenden Oberbau
Kunst und Religion und dessen reflexiv-vermittelnde
Krönung Philosophie und Historie darstellen. In der besonderen
Durchführung bewirkt diese Gliederung aber
keineswegs eine starre Abschränkung der Gebiete voneinander
. Überall wird vielmehr der sich isolierende
Anspruch eines jeden dieser Gebiete auf Herbeiführung
der absoluten Versöhnung, wie er natürlich auf dem
Felde der rationalen und intuitiven Kultur sehr viel
leidenschaftlicher sich geltend macht als etwa innerhalb
der technisch-wirtschaftlichen Zivilisation, zurückgewiesen
und die Ergänzungsbedürftigkeit aller Gebiete je
füreinander auf das Umfassendste herausgestellt. Es
wird nicht leicht gelingen, einen so grundsätzlich entschiedenen
und zugleich in sich reichgegliederten Grundriß
der Kultur zu entwerfen, wie es hier geleistet ist.

Gleichwohl läßt sich hier nur auf weniges besonders
verweisen, und der Ort dieser Anzeige rechtfertigt
es ebenso wie die systematische Entscheidung des Verls,
wenn einmal das Verhältnis von Religion und Philosophie
und sodann das von Philosophie und Historie
noch kurz angedeutet wird. Daß die Religion zu den
naiven Kulturgebieten gerechnet wird, muß insbesondere
dem protestantischen Theologen verwunderlich sein. Von
Hegel aus ist diese Lösung indessen die vorgegebene,
und man wird also erwarten, daß der Verf. entsprechend
auch die These von der Überlegenheit der Philosophie
über die Religion erneuern wird. Er tut das auch, aber
doch mit einer bedeutungsvollen Einschränkung, die
zugleich auf das methodische Vorgehen insgesamt ein