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Ausgabe:

1930 Nr. 8

Spalte:

188-189

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Fritz

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1930

Rezensent:

Koepp, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1930 Nr. 8.

188

Das führt uns auf die für die Sache selbst grundlegenden
und letztlich entscheidenden Punkte. Sie betreffen
zwei Streitfragen: die eine, ob sich das schlecht-
hinnige Abhängigkeitsgefühl von sonstigen (teilweisen)
Abhängigkeitsgefühlen nur qantitativ und gradweis
oder qualitativ und prinzipiell unterscheide
; — und die andere, ob das schechthinnige Abhängigkeitsgefühl
beziehungslos sei, so daß höchstens
ein hinzutretender Rückschluß eine Objektbeziehung
herstellen könnte, oder ob ein Beziehungs-
ve r h ä 11 n i s bestimmter Art für das schlechthinnige
Abhängigkeitsgefühl selbst wesensmäßig sei. Beide
Streitfragen gehören aufs engste zusammen und zwar so,
daß beide entweder in dem je an erster oder aber beide
in dem je an zweiter Stelle genannten Sinne zu beantworten
sind. Letztere Doppelentscheidung finden wir
z. B. bei Karl Barth. Sie bildet bei ihm Grundlage und
Voraussetzung seiner gesamten Schleiermacher-Kritik.
Seltsamer Weise scheint es sich aber bei Brunner anders
zu verhalten. Ob es nur Schein ist, oder wie es in dieser
Hinsicht steht, werden wir sogleich sehen. Daß auch
Brunner, genau wie Barth, die Beziehungslosig-
keit des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls behauptet
, wissen wir schon. Seine ganze Schleiermacher-
Auffassung steht und fällt ja mit dieser Behauptung.
Seltsamer Weise behauptet aber Brunner in der Anmerkung
zu S. 83, er stimme mit mir ganz darin überein
, daß zwischen dem schlechthinnigen und jedem anderen
Abhängigkeitsgefühl nicht nur ein gradweiser, sondern
ein qualitativer Unterschied bestehe. Indes diese
gelegentliche Einsicht wird dann doch für die Gesamtbetrachtung
nicht fruchtbar gemacht. Im Text selbst ist
vielmehr schon bald darauf (S. 84) und dann weiterhin
mehrfach (z. B. S. 151, 164) die genau entgegengesetzte
Behauptung zu lesen.

Aber diese auffallende Unstimmigkeit wird noch
weit überboten durch eine Bemerkung im Text der S.
365. Hier wird der Leser zu seiner größten Verwunderung
durch den Satz überrascht, in Schleier-
macher's „maßgebendem theologischen Spät- und Hauptwerk
kämpften zwei heterogene Elemente
um den Vorrang, sein identitätsphilosophisch-mysti-
sches System und der christliche Glaube". — Ja, verehrter
Herr Kollege, wenn dieser Satz gelten soll, dann
sind wir ja restlos einig. Denn dieser Satz bringt ja
genau die Position zum Ausdruck, die ich für die Beurteilung
der Glaubenslehre vertrete, seitdem ich die
(von Ihnen wieder aufgenommene) Theorie Benders als
einseitig und irreführend erkannt habe. Aber dieser
Ihr Satz steht nun doch im vollsten Widerspruch zu
allem, was in Ihrem Buch auf den vorhergehenden
364 Seiten zu lesen ist. Denn da werden die Momente,
die als genuin christlich (und speziell als evangelisch-
reformatorisch) anzuerkennen sind, ausschließlich unter
den Gesichtspunkt von „Inkonsequenzen" und „Abirrungen
" gestellt und als solche für die Beurteilung
ausgeschieden. Wenn es sich dagegen so verhält, wie
jener Satz sagt, daß nämlich zwei heterogene Elemente
um den Vorrang kämpfen, dann muß doch auch
eben dieser Kampf um den Vorrang immer und überall
möglichst unbefangen und objektiv beachtet werden,
d. h. also, konkreter gesprochen: es müssen immer und
überall diejenigen Motive und Intentionen in den Ausführungen
Schleiermacher's unbefangen beachtet und
gewürdigt werden, die in der Richtung der christlichen,
speziell der evangelisch-reformatorischen Einstellung
liegen. Daß Ihr Buch als ganzes genommen diese theologisch
-wissenschaftlich allein sachgemäße Behandlungs-
weise gerade grundsätzlich verwirft, erscheint mir als
die große und grobe Ungerechtigkeit desselben gegen
Schleiermacher.

Daß so und nur so zu urteilen ist, belegt m. E.
auch Ihr eigener Versuch, sich diesem Urteil zu entziehen
. Es sei Ihnen nicht ganz unwahrscheinlich, heißt
es auf derselben S. 365, daß Schleiermacher, wenn er

predigte, tatsächlich christlicher glaubte, als
wenn er theologisch lehrte. „Christlicher glaubte", so
schreiben Sie (nicht etwa: sich kirchlicher ausdrückte).
Mir scheint diese Annahme, die für Ihre Gesamtbetrachtung
angesichts der (von Ihnen grundsätzlich ausgeschalteten
) Predigten Schleiermachers allerdings unerläßlich
ist, gerade gegenüber einem Mann wie Schleiermacher
eine völlige Unmöglichkeit zu bedeuten.
Oöttiiigen. Q. Wobbermin.

Kaufmann, Fritz: Die Philosophie des Grafen Paul Yorck
von Wartenburg. (S.-Dr. aus: Jahrbuch f. Philos. u. phänome-

T"nolog. Forschung, Bd. 9.) Hailea. S.: M. Niemeyer 1928. (HI,
235 S.) er. 8°. RM 16-.

Die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Wilhelm
Dilthey und dem Grafen Paul York von Wartenburg
1877—1897, Halle a. S„ 1923, und die damit aus
dem Dunkel hervortretende Gestalt des philosophisch
kongenialen und tief christlichen Freundes des großen
Vertreters der geistesgeschichtlichen Hermeneutik beschäftigte
die Forschung verständlicherweise lebhaft. Besonders
auch die Widmung eines eignen Paragraphen
in Heideggers „Sein und Zeit" (§ 77) an das hier
zu Tage tretende Geschichtsverstehen zumal des Grafen
York („den Geist des Grafen York zu pflegen, um dem
Werke Diltheys zu dienen") hat das noch vermehrt.
Carl Stange hat in einem Aufsatz (Z. syst. Theol.
1924 S. 235—245) schon früher besonders auch die
Frage des Verhältnisses Diltheys zum „Christen" York
behandelt, festgestellt, daß in diesem Punkte beide auf
eine gegenseitige Einwirkung in der Empfindung, aneinander
vorbeizureden, allmählich verzichtet hätten, und
dabei auch eine allgemeine Warnung ausgesprochen,
den Schein einer Abhängigkeit Diltheys vom Grafen
nicht zu überschätzen. Diltheys Lebenswerk lag öffentlich
vor; naturgemäß tritt der nur im Briefwechsel sich
gebende Graf dort viel aktiver heraus; zudem ist die
behutsame und anpassende Art Diltheys bekannt. Auch
die Habilitationsschrift Fritz Kaufmanns (Freiburg
1925) betont sofort die perspektivische Art der Überschattung
Diltheys durch den Grafen im Briefwechsel.
Gleichwohl wertet er York als einen im höheren Sinn
als Dilthey „wurzelhaft geschichtlichen Menschen" von
großer Macht und Geschlossenheit seines Denkens. Und
daher hält er es für sowohl wertvoll wie möglich, die
einzeln im Briefwechsel verstreuten „Segmente" (nicht
Teile) seiner Lebens- und Weltdeutung zu einer „Einheit
einer denkerischen Gestalt von seltener Eindrücklich-
keit" zu erheben. Er bietet zunächst einen interessanten
Abriß der Yorck'schen Entwicklung (Einfluß von
Braniß, die Jugendarbeit über die Katharsis bei Aristoteles
und Sophokles), kennzeichnet weiter die Philosophie
des Grafen als Lebensphilosophie, bei der die
Bodenständigkeit jeden Lebens den Hauptton im Ur-
ansatz habe, und entfaltet dann aus dem Briefwechsel
eine Skizze zumal der „geistigen" Bodenständigkeit alles.
Lebens, vom „Ausgangspunkt des konkreten Daseins"
her, in der „geschichtlichen religio", in ihrer Verfestigung
zu einem geschichtlichen Selbstverständnis als,
„historischer Dogmatik", in der grade daran zur Erkenntnis
kommenden paradoxen „Widersprüchlichkeit"
alles Lebens. Alle Gedanken über die humanitas des
geschichtlichen Menschen rücken in ein Zwielicht; an
kritischer Philosophie, kritischer Geschichtswissenschaft
und Psychologie, auch in deren gegenseitigem Verhältnis
, wird das im einzelnen durchgeführt (nebst einem
Exkurs: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte bei
Yorck). Die von hier aus sich ergebende Theorie Yorcks
über die rationale Erkenntnis macht mit besonderer Ausführlichkeit
den Beschluß. Vom Leben aus gesehen hat
das intellektuelle Verfahren ein Janusgesicht: es formt
eine lose Mannigfaltigkeit ontisch isolierter Phänomene
zu einer Einheit; aber es besteht nur eine annähernde
Konformität dieses übertragenen mit dem erlebten Zu-