Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1929 Nr. 5

Spalte:

107-108

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Paul (Bearb.)

Titel/Untertitel:

Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. II. Band 1929

Rezensent:

Lerche, Otto

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

107

Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 5.

10S

gibt schließlich die Totalität der Kultur einer mittelalterlichen
Welt, bei der man um der Sache willen gelegentlich
den erbaulichen Ton tolerieren mag.

Leipzig. Otto Lerche.

Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der
Schweiz. Hrsg. v. d. Bayer. Akademie d. Wissensch, in München.
Bd. 2: Bistum Mainz Erfurt. Bearb. von Paul Lehmann.
München: C. H. Beck 1Q28. (VII, 812 S.) 4°. RM 75-

Diesem gewaltigen Werke gegenüber dürfte füglich
alle Kritik verstummen. Von den dargebotenen
Katalogen bezw. Ausleih-, Kauf- und Standortsverzeichnissen
waren die meisten bisher unveröffentlicht, so drei
Kauflisten des Amplonius Ratinck, sechs Bücherverzeichnisse
des collegium universitatis, meist Ausleih-
und Standortsregister des Nikolaus Hopfgarten, dazu
kommt ferner ein weiteres Standortsregister der Universitätsbibliothek
von 1497 ff und das bisher nur zum
Teil gedruckte Register von 1510. Nur gering an Bedeutung
und an Umfang ist die Bibliothek des Klosters
der Marienknechte, deren Katalog von 1485 ebenfalls
erstmalig vorgelegt wird. Das Wertvollste an Umfang
und Bedeutung, das hier geboten wird, ist der Katalog
der Bibliothek in der Karthause Salvatorberg, der nach
einer Handschrift des Erfurter Domkapitels erstmalig
gedruckt wird.

Während die Verzeichnisse der von Amplonius
Ratinck gekauften und aufgeführten Bücher auf etwa
100 Seiten abgedruckt und kommentiert werden und die
verschiedenen Listen der Universitätsbibliothek durch
Nikolaus Hopf garten nur etwa 120 Seiten beanspruchen,
füllt der große Katalog der Karthausenbibliothek etwa
360 Seiten. Dabei ist die Karthause auf dem Salvatorberg
keineswegs eine uralte kirchliche Gründung. Auch
hat sie sich wohl nie in irgend einer Richtung besonders
hervorgetan. Bemerkenswert ist allerdings, daß gleich
bei der Gründung 1372 durch Herbord von Spangenberg
, den Propst von St. Severi zu Erfurt, und den
Propst Johannes Orthonis von Altendorf zu Dale schon
die Einrichtung einer Bücherei in der Karthause vorgesehen
war. Die Sammlung muß ziemlich schnell gewachsen
sein und umfaßte 1412 schon 321 Bände
(nach dem Standortsregister des Bibliothekars Jacob
Volradi, das um 1440 entstanden ist). Um 1500 besaß
die Karthause außer 800 Handschriften auch Drucke,
wie ein interessanter Pfandbrief des Speyerer Druckers
Peter Drach ausdrücklich beweist. Die unruhigen Zeiten
des 16. Jahrhunderts brachten der Bibliothek mancherlei
Abgänge. Katastrophal wurde die Lage für die
Karthause im 17. Jahrhundert nach der Besetzung Erfurts
durch die Schweden. War einmal die Bibliothek vor
den Zugriffen der Eroberer nicht sicher, so hatte
andererseits der Rat der Stadt ein Interesse an den
Bücherschätzen, die er für die Stadt retten wollte. So
wurden die Bücher in das Augustinerkloster geschafft,
von wo sie erst 1636 nach und nach in die Karthause
zurückkommen. Aber damit war einmal die ordentliche
Verwaltung zerstört, die Abgänge wurden im 18. Jahrhundert
immer häufiger; 1803, bei Aufhebung der
Karthause, wurden die Reste völlig verstreut. Paul Lehmann
ist dem Verbleib der Bücher sorgfältig und mit
größtem Erfolge nachgegangen. Fast alle Bücher, die
1803 noch in der Karthause waren, und viele wertvolle
Kodices, die in früheren Jahrhunderten diese Bibliothek
zierten, hat er an ihren jetzigen Aufbewahrungsorten
erkannt und in einer Liste nachgewiesen, vornehmlich
in der Staatsbibliothek in Berlin, in der Landesbibliothek
in Weimar und in der Stadtbibliothek in Erfurt; darüber
hinaus aber auch in den Bibliotheken zu Dresden,
Chicago, Edinburgh , London, Oxford, Pommers-
felden usw.

Wichtiger noch als der Abdruck einer solchen wertvollen
Bücherliste, und zwar einer sehr vielseitigen und
umfangreichen, ist die Zusammenstellung des Registers,
in das auch die anderen hier gebotenen Verzeichnisse

hineingearbeitet sind. Dies Register in seinem staunenswerten
Umfange (206 Seiten, 412 Spalten) bietet somit
einen Querschnitt durch die geistige Kultur Erfurts
in den drei letzten Jahrhunderten des Mittelalters.

Das Register ist eine Zusammenfassung von Schlagwortver-
zeichnis und alphabetischer Namensfolge. Schiairworte sachlicher Art
wie absolvere, absolutio, aegritudincs, alchymia, alkoranus, Alexander
Magnus, Algorismus, Alpharablas, amor, animu, antichristus, aqua,
arbor, arlthmetlca, astrolnbiuin, astrologia, beichte, Bohemi, kalcn-
darium, Caritas, Christus, compotus, consclenüa, hacrcsis, herba*
hcrbarus, Hussitac, ins, laus, medicina, messehalach, orationes, ordo;
phisiologus, plane tue, pulvis, rcgistrum, regula, speculum, simbotum,
universitas-Coloniensis, Cracovlensls, ErffordCnsis, I.ipsiensis, Wien-
nensis-urina, usura usw. stehen in einem Alphal>et mit etwa:
Aegidius de Kempis, Aesopus, Alanus de Insulis, Albertus Magnus,
Ambrosius, Anseimus Cantuar., Aristoteles, Averroes, Augustinus.
Beda, Bernhardus C/arova/l., Cassiodorus, Cicero, Cyprianus, Halie-
nus, Gregor Magnus, — Naxlanxenus, Hcinricus, Hieronymus, Hilde-
gardis, Hippocrales, Homcrus, Horatlus, Hrabanus, Hugo, Jacobus,
Johannes, Laurencius Vallensis, Mechtildis, Nicolaus, Origincs, Ovidius,
Petrus, Proclus, Ptolemaeas, R>chardus. Robcrlus, Sophoclcs, Stepha-
nus, Thcodcricus, Thomas Aquinas, Vergilius, Vinccntius, Xenophon,
Zoro u. a. m. Selbst wenn man sich durchaus von optimistischen
Superlativen fern hält, möchte man doch anerkennen, daß mit diesem
Register geradezu eine Tat vollbracht ist, die Nachahmung verdient.
Hier haben wir in wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sorgfalt
einen Bibliothekskatalog, in dem Schlagwortregister und Index vomi-
num in vorbildlicher Weise in eine Reihe gebracht sind. Und wenn
damit dies Problem auch noch nicht restlos erledigt sein dürfte, so
haben wir doch einen modernen wissenschaftlichen Beweis für die
Möglichkeit, Schlagwortregister und Autorenverzeichnis in einem Alphabet
des Bibliothckskataloges zu vereinigen. Darüber hinaus bietet
die sorgfältige Textgestaltung, die einheitliche Schreibung der Verfassernamen
mit den reichlichen Verweisungen und die exakte Festlegung
der Buchtitel eine Fülle wertvoller Vorbilder für den Bibliotheksfachmann
.

Darüber hinaus aber ist der kultur- und geistesge-
schichtliche Ertrag dieses Bandes hochbedeutend. Leider
verzichtet Paul Lehmann auf eingehende Ausschöpfung
dieser wertvollen Quelle. Naturgemäß bildet Erfurt
keine Ausnahme in der mittelalterlichen Geisteskultur.
Man wird wohl auch manche Namen und manche
Büchcrtitel mit Verwunderung in diesem Register vermissen
— es mag dann dahingestellt bleiben, ob das
Buch in der Tat fehlte, oder ob wir es mit einem Abgang
oder mit einer Lücke im Katalog oder dergl. zu
tun haben. Aber das Vorhandene allein böte Material
genug für eine Geistesschilderung dieser mittelalterlichen
Großstadt. Gewiß sind die Bibel, wie die heiligen,
theologischen und philosophischen Schriften des Mittelalters
am stärksten vertreten. Aber darüber hinaus
finden wir eine Fülle griechischer und römischer
Klassiker und der Philosoph des Mittelalters, Aristoteles,
ist mit seinen Werken allein auf zwölf Spalten des Registers
verzeichnet. Wichtig für die theologische Ausschöpfung
des wertvollen Materials sind vor allen
Dingen die unter den sachlichen Schlagwörtern verzeichneten
Anonyma, von denen wir oben eine Probe
gegeben haben.

Wenn wir zum Schlüsse eine Frage, zugleich ein
Bedenken erheben, so geht das darum, ob die Fortführung
des großen, dankenswerten, bei Paul Lehmann
in den besten Händen befindlichen Werkes im Rahmen
der mittelalterlichen Diözesaneinteilung geschehen muß.
Gewiß hat die Sammlung und Bearbeitung des Materials
nach den alten Diözesen mancherlei Gutes. Aber die
alten Diözesen sind uns, zumal im mittleren und östlichen
Deutschland doch nicht so streng von einander
geschiedene Kulturkreise, daß man die Darbietung des
Materials an diese täglich mehr veraltenden Grenzen
binden müßte. Eine exakte Gruppierung ist gewiß für
die Arbeit und ihre Organisation, für Sammlung und
Sichtung des Materials notwendig, aber für die Dar-

i bietung sollte man andere Gruppierungsmöglichkeiten

, suchen; man wird sie finden können.

Leipzig. Otto Lerche.