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Ausgabe:

1929 Nr. 3

Spalte:

63-66

Autor/Hrsg.:

Burgdorf, Martin

Titel/Untertitel:

Der Einfluß der Erfurter Humanisten auf Luthers Entwicklung bis 1510 1929

Rezensent:

Scheel, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 3.

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lieh nützlich und nötig im Missionsgebiet, keineswegs etwa mit den
Landbischöfen des Morgenlandes zu vergleichen und darum auch nicht
mit ihnen in Zusammenhang zu bringen. Der Kampf, den die westfränkische
Reformpartei gegen sie eröffnete und dem sie erlagen, geht
auf die Mißbräuche zurück, die mit dem Chorepiskopat getrieben
wurden. Im Interesse der strafferen kirchlichen Organisation mußte er
verschwinden. So lehrreich und fördernd die Ausführungen des Verfassers
sind, so scheint mir doch die Frage des Zusammenhangs der
abendländischen Chorbischöfe mit der orientalischen und die der Ursachen
ihres Verschwindens einer Ergänzung zu bedürfen. — Die
Arbeit eröffnet eine Sammlung Kanonistischer Studien und Texte, die
A. M. Koeniger in Bonn herausgibt.

Kiel. G. F i c k e r.

Burgdorf, Lic. Dr. Martin: Der Einfluß der 5Erfurter

Humanisten auf Luthers Entwicklung bis 1510. Leipzig :*Dörffling
& Franke 1928. (141 S.) 8°. RM 3.50.

Auf jeden Fall hat B. das Verdienst, ein Problem
aufgegriffen zu haben, das immer noch nicht genügend
geklärt ist und vielleicht vor der Zeit zur Ruhe gekommen
wäre, wenn B. nicht eingegriffen hätte. Ob es
freilich jemals ganz wird aufgehellt werden können,
dürfte zweifelhaft sein. Die Quellen fließen zu spärlich
und ihre Deutung ist oft genug zu problematisch. Dennoch
darf man nicht erlahmen. Die Frage ist wichtig
genug; hat B. Recht, sogar recht zentral. Denn er
stellt für das erste Jahrfünft des 16. Jahrhunderts einen
Erfurter Humanismus fest, der nicht in sprachlichem
Purismus und Formalismus sich erschöpfte, sondern eine
kräftige antischolastische und reformatorische Absicht
erkennen ließ. Diesem Kreis gehörte Luther an.
Schon als Student der Artistenfakultät fand er eine
starke Berührung mit dem aggressiven Humanismus.
Hier muß darum der Ausgangspunkt seiner neuen Weltanschauung
gesucht werden. Der Anfang 1505 ausbrechende
Wimpfelingsche Streit, in dem B. ein Vorspiel
des Reuchlinschen Streites entdeckt und der den
offensiven Reformwillen der Humanisten zum ersten
Mal in Deutschland offenbart, verstärkte die seelischen
Spannungen des ins Kloster eintretenden Luther. Unter
dem Zwang eines gedrungenen, gleichsam erpreßten
Gelübdes ins Kloster getreten, aber bereits ergriffen
von der antischolastischen und biblizistischen Forderung
des Humanismus, wächst er nun mit erstarkender
Sicherheit in den Kampf gegen Scholastik und kirchliche
Mißstände hinein. Um 1509 hat er die Irrwege
der Scholastik erkannt und die alleinige Autorität der
Bibel entdeckt. Die Randbemerkungen aus dem Jahre
1509/10 lassen „deutlich die neue, unter humanistischem
Einfluß entstandene Grundlage seiner Anschauungen
" erkennen. Vermutungen, die auf den Okkamis-
mus zurückgreifen möchten, schweben in der Luft.
Der Einfluß der Erfurter Humanisten ist es gewesen,
der Luther den Anstoß gab, der Scholastik entgegen
zu treten und sich auf die Schrift als Grundlage der
Theologie zu berufen. So gab „der Humanismus dem
werdenden Reformator die innerlich befreiende Kraft
ins Kloster mit" und führte ihn „langsam und sicher
auf die neue Bahn".

Das ist eine sehr tief greifende Korrektur des bisherigen
Geschichtsbildes. Denn auch wer geneigt war,
eine stärkere Berührung des Studenten Luther mit einem
humanistischen Kreis anzunehmen — ich habe diese
Neigung bisher nicht geteilt — ist so weit nicht gegangen
. Das Klostererlebnis und die damit zusammenhängende
religiöse Entwicklung des künftigen Reformators
haben dem anscheinend im Wege gestanden.
Trotz B.s Berufung auf die Randbemerkungen fühlt man
sich auch sofort versucht zu fragen, wie denn Luther
schon 1509/10 „die alleinige Autorität" der Schrift
entdeckt haben kann, wenn er nachweisbar erst in mühsamem
Ringen von 1517 bis 1519 diese Erkenntnis gewinnt
. B. ist an dieser Frage stumm vorübergegangen,
obwohl sie ihn bei seiner Formulierung des Ergebnisses
seiner Untersuchungen stark hätte beschäftigen müssen.
So möchte man wenigstens meinen. An die zahlreichen

späteren Äußerungen des Reformators, die ihn als blinden
Papisten und Messeknecht, als überzeugten Okka-
misten u. dgl. m. schildern, will ich nicht erst erinnern.
; Das sind ja Rückblicke aus später Zeit, die B. als
| summarisch beiseite schieben könnte. Einmal versucht
er zudem (S. 10) im Anschluß an einen Irrtum Holls
i den Okkamismus Luthers abzuschwächen. Doch alles
! dies mag in einer Besprechung übergangen worden. Den
j Versuch aber, seine Darstellung mit der Entwicklung
Luthers von 1517—1519 auszugleichen, hätte man erwarten
dürfen. B. versperrt ja seiner eigenen Darstellung
den Erfolg, so lange ein solcher überzeugender
Ausgleich fehlt.

Ich fürchte jedoch, daß es auf dem von B. be-
schrittenen Wege überhaupt nicht gelingen wird, das
l Problem aufzuhellen. Seiner Arbeit fehlt die vorsichtig
! abwägende Überlegung, die um so nötiger wird, je
| lückenhafter der Tatbestand ist und je elastischer die
j Zeugnisse sind, auf die man sich gewiesen sieht. Daran
| ändert die öfters fast magistrale Sicherheit, mit der B.
i Thesen und Urteile vorträgt, natürlich nichts. Auch
| dann nicht, wenn er zunächst im futurum exaetum seine
Annahme entwickelt, um dann weiterhin sie als erwiesene
Tatsache zu behandeln. Das 3. Kapitel ist beson-
I ders reich an den „muß", „vielleicht" „kann" und futu-
i ra nexaeta, die dann bald als Elemente eines Tatbe-
j Standes auftauchen. In historischen Untersuchungen
i sollte man das gefährliche futurum exaetum möglichst
vermeiden und vor allem um die Feststellung der
! Grade der Wahrscheinlichkeit und Gewißheit, des Möglichen
und kaum Möglichen sich bemühen. B. hat es
für gut befunden, diesen Weg, wenn möglich, zu meiden
. Wie weit ihn das Verfahren, dem Kalkoff in seinen
letzten Veröffentlichungen folgte, beeinflußt hat, lasse
ich dahingestellt. Kalkoffs Einfluß ist freilich unverkennbar
; aber dem gehe ich hier nicht nach. Es genügt
1 ja auch, auf das Verfahren B.s schlechtweg aufmerksam
zu machen.

Zwei Stützen, an die er gern sich anlehnt und die
I in der Tat seine Darstellung weithin tragen, sind Frei-
'< tag und A. V. Müller. An Freitag lehnt er vor allem dort
i sich an, wo die örtlichen Erfurter Verhältnisse in Be-
! tracht kommen, d. h. in erster Linie Luthers Bursenzeit
und Bursenkreis. Eigene Beobachtungen bringt B. hier
I recht wenige. In der Hauptsache kehrt wieder, was
i Freitag im Anschluß an Degering entwickelt hatte,
j Manches was B. aus eigenem hinzugefügt, ist recht
j zweifelhaften Wertes.

Luther soll z. B. (S. 56) mit Job. Lang in der Porta coeli gelebt
j und dort mit ihm Freundschaft geschlossen haben. Diese Bursenge-
meinschaft in der Himmelspforte sei „recht gut möglich" gewesen,
denn ein Handschriftenhand in Quart aus ihrer Bibliothek enthalte die
Notiz: Liber Johannis Lang. Dies Buch habe Lang der Bursenbiblio-
j tbek zum bleibenden Andenken gestiftet. „Da es sich um Teile des
Donat und Alexander de Villa dei handelte, so hing sein humanistisches
Herz nicht an dieser scholastischen Weisheit". Was zunächst
I recht gut möglich war, wird nun zur Tatsache. Und worauf gründet
sie sich? Auf eine Besitznotiz. Als ob nur durch persönliche Stiftung,
j zum Andenken an dort verbrachte Jahre, das Buch in den Besitz der
i Bibliothek gekommen sein könnte. Und seit wann entwickeln Donat
J und Alexander scholastische Weisheit? Und warum konnte ein humanistisches
Herz nichts für Donat übrig haben? Selbst ein Me-
, lanchthon hat den Donat neu herausgegeben. Der Reformator Luther
| hat ihn gepriesen, und die humanistische Schulreform der Reformation
| übernimmt den Donat. Auf S. 60 lesen wir, daß Johann von Grefen-
stein nur einem humanistischen Kreise angehört haben könne. Nach
Luther habe er ja erklärt, Hus sei, ohne überführt zu sein, verdammt
worden. Dann hätte auch Proles einem humanistischen Kreise ange-
[ hört und alle jene Augustinereremiten, die Zachariaes Kniff mißbilligten
. Und woher weiß B., daß Grafenstein ein Lehrer des Studenten
Luther war? Es wäre sehr schön, wenn wir dies wüßten. Aber wir
| wissen es nicht; und B. gibt keinen Beweis für seine Behauptung.
Auf S. 53 wird vermutet, daß Crotus der conterraneus war, durch
dessen Bemühungen Luther in die Himmelspforte aufgenommen wurde,
j Ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit des Briefes vom 5. Sept.
1501, wie kann er diese Vermutung B.s stützen? Mit keiner Silbe
wird angedeutet, das Luther durch Vermittlung des conterraneus in
I die porta coeli aufgenommen wurde. Es heißt vielmehr, daß er fauen-