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Ausgabe:

1929

Spalte:

617-620

Autor/Hrsg.:

Müller, Karl

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte. (In 2 Bdn.) Bd. I, 3. Lfg. 2., völlig neubearb. Aufl 1929

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 26.

618

griechischen Wortes verwendet. Eine von diesen wird dann als diejenige
ausgesondert, welche in der afrikanischen Bibel gestanden haben
soll, währen die anderen als freie Abweichungen Tertullians von dieser
Bibel veistanden werden. Die Kriterien für diese Aussonderung sind
gewiß sorgsam überlegt. Überzeugt haben sie mich nicht, wie ja auch
von Soden selbst sehr häufig mit den Worten „vielleicht, wahrscheinlich
fraglich, unsicher" arbeiten muß.

Noch ganz anders aber stellen sich die Dinge dar, wenn man
nicht nur einzelne Vokabeln, sondern ganze Zitate, die in Tertullians
Schriften mehrfach vorkommen, miteinander vergleicht. Dann kann man
getrost den Satz wagen: Es gibt kein einziges Zitat von der Größe
eines etwas umfangreicheren Satzstückes, das bei Tertullian zweimal im j
genau gleichen Wortlaut vorkäme. Er ist also beim Zitieren im lateinischen
Ausdruck mit der größtmöglichen Freiheit verfahren. Tertullians
Verhältnis zur lateinischen Bibelübersetzung vor ihm stellt sich also ganz ;
ähnlich dar wie das Luthers zur Bibelübersetzung vor seiner Zeit. Beide
können natürlich die älteren Versuche gekannt und benutzt haben. Aber
beide sind von dem Vorhandenen innerlich so wenig beeindruckt
worden, dal! sie es gehabt haben als hätten sie es nicht. Darum gibt ,
es keine Methode, die mit Sicherheit von der neuen Schöpfung zu dem
Alten zurückführte.
Greifswald. H.W. Beyer. j

Müller, Prof. Dr. Karl: Kirchengeschichte. (In 2 Bdn.) Bd. I, ■
3. Lfg. (= Schluß d. I. Halbbds.) 2., völlig neubearb. Aufl., 8.— j
10. Tsd. Tübingen: J.C.B. Mohr 1929. (XXXIV u. S. 569-816.)
gr. 8". —- Grundriß d. Theolog. Wissensch., Abt. 2.

1. Hlbbd. vollst. RM 20--; geb. 22-.

Die 3. Lieferung von K. Müllers neugestalteter
Kirchengeschichte reicht von etwa 400 bis etwa zur
Mitte des 6. Jahrh. und schließt den ersten Halbband
ab, der damit als Ganzes für sich erscheint, S16 S.; ihre
großen Themata sind der christologische Streit des
Ostens und die Zeit Justinians, und im Westen Augustinus
und die römische Macht bis in die Gothenzeit.

Auch hier arbeitet der Verf. sichtlich auf große Zusammenhänge
hin. Klar und durchsichtig liest sich sein !
weit zurückgreifender Überblick der Christologie, von |
Origenes über Athanasius (bei dem die Vermittlung des j
Heils S. 581 etwas unbestimmt ausgedrückt ist), Eusta- |
thius (der nicht mit der Schule Lucians in Verbindung
gebracht scheint), Apollinaris (von dem es — mit Lietz-
mann — heißt: Athanasius hatte im wesentlichen nicht
anders gedacht, 583) zu den Antiochenern. Ihre Christologie
aber „scheitert zuletzt an der Aufgabe, eine einheitliche
Persönlichkeit zu erreichen" (587): damit ist
der feine Versuch R. Seebergs, diese Einheit dennoch zu
finden (DG. II-" 178) abgelehnt — wohl mit Recht; Ausgangspunkt
und letzte Werte sind andre als bei den
Einheitstheologen, trotz der behaupteten formalen
Orthodoxie. (Das darf schließlich auch nicht vergessen
werden, um das Schicksal des Nestorius, der hier fast
nur als Märtyrer der Kirchenpolitik erscheint, zu begreifen
.) Nun wird vor Beginn des Streites die kirchenpolitische
Lage und Rivalität der großen Stühle mit
Plastik und Anschaulichkeit dargeboten (§50), dann
erst folgt der „Kampf der Schulen und der großen
Kirchen" (§ 51), eine Stoffgliederung, die mir äußerst
förderlich zum geschichtlichen Verständnis scheint und
die ich ähnlich längst befolge. Wenn nun der Kampf
selbst sogar fast überwiegend als Machtstreit der großen
Bischöfe erscheint, welche die theologischen Gegensätze
nehmen, wie sie sich bieten, und die drei großen Duelle
Theophilus-Chrvsostomus, Cvrill-Nestorius, Dioskur-Fla-
vian in eine Reihe treten, so kommt straffer geschichtlicher
Zusammenhang und Leben in die Dogmenkämpfe
(den Streit mit Chrvsostomus muß man z. B. in Krügers
trefflichem Handbuch an 3 Stellen nachlesen, S. 153,
3 59, 160), und diese geschichtliche Beleuchtung
tritt mit vollem Recht neben die dogmengeschichtliche,
gewohnte. Die günstige Beurteilung der Formel von
Chalcedon (vgl. Loofs, RE. 5, 636, 35) wird mit Recht
nicht geteilt, can. 9 und 17 mit Duchesne einleuchtender
als zuletzt durch Krüger I S. 152 erklärt. Dagegen ist
mir fraglich, ob in der soviel wie möglich kurz und
knapp gehaltenen Darstellung der verworrenen durch
Chalcedon entfesselten Kämpfe das ungünstige Urteil

über die gesamten kaiserlichen Eingriffe (638) so allgemein
gilt. Die Unionspolitik des Henotikon ist gewiß
nicht ideal, aber Union war nunmehr die Aufgabe,
und ließ sich etwas erreichbares Besseres denken? Andre
Einwirkungen erst (Severus; Vitalian; Justinians neue
politische Ziele) verwirrten diese Linie. Meistens treffen
wir jedoch große Zurückhaltung in Fragestellung und
Urteil. Ein Problem wie das, ob die cyrillische Christologie
wirklich der „legitime Ausdruck" des orientalischen
Heilsgedankens gewesen sei, ist letzten Endes
wohl eine unmögliche Frage und erscheint hier gar
nicht.

Dali Justitium das Dreikapitcledikt von Askidas suaticriert sei und
von Justinian zunächst als Gegenzutr gegen die Verfolgung der ori-
genistisclien Mönche in den Sabaskolonien gedacht sei (762), ist unwahrscheinlich
trotz der scheinbar guten Bezeugung (denn Liberatus und
Facundus berichten als Gegner des Edikts). Das Edikt ist so sehr aus
Lage und Zielen des Justinian erwachsen, daß Askidas höchstens als
unerheblicher Anlaß einer ganz anders gemeinten Maßregel gelten
könnte. Die aphthartodoketische .Ketzerei des Justinian" in dessen
Greisenalter nimmt der Vf. gegen Loofs als wahrscheinlich an. Die
.,Isochristen' sollten erst etwas später auftreten, es entsteht (758) der
Schein, als gehörten sie der Zeit Justins 1. an, sie entstehen aber
erst 547.

Die gesamte Darstellung des bunten Streites ist mit
ihren klaren Linien, ihrer Stoffbeschränkung, den geschichtlichen
Hintergründen (590 Ägypten, 627 Episkopat
und Mönchtum) ein Meisterwerk. Vor allem tritt
die Hand des Verf.s wieder hervor in den verfassungsgeschichtlichen
Partien; ich wüßte keine gleich anschauliche
, reiche und doch knappe Entwicklung der kirchlichen
Rechtsverhältnisse wie in § 50 und 51, 7. Eine
gedrängte, lebensvolle Skizze der beginnenden byzantinischen
Periode beschließt die Darstellung und bringt
Proklus und Dionysius. (Bei der ftia Ütavdor/.i ivtQytut
hätte auf die Vorstufe des Begriffes bei Apollinaris,
Lietzmann fragm. 108u. 117 verwiesen werden können.)
Eine kurze Charakteristik der Scholastik (Leontius) hätte
eine Ergänzung des Bildes bedeutet.

Sodann der Westen. Den Anfang bildet eine vortreffliche
Schilderung der staatsrechtlichen und sozialen
Umschichtungen infolge der germanischen Staatengrün-
dungen (650ff.). Dann die religiöse Eigenart, scharf
abgehoben vom Osten, jetzt durch Paulinismus und
Neuplatonismus neu befruchtet; schon hier tritt eins der
Desiderien der alten KG. uns nahe: Ambrosius bedürfte
dringend gründlicher theologischer Durchforschung;
wie weit kann er die zweite Brücke für griechische und
neuplatonische Gedanken im Abendland und bei Au-
gustin gewesen sein? Für Augustins Entwicklung werden
die Konfessionen zugrunde gelegt, denn „auch der
Vergleich mit seinen ersten Schriften nach der Bekehrung
beweist doch die Zuverlässigkeit des Buches im
ganzen" (659), trotz der philosophischen Arbeit in
Cassiciacum, da ja „Philosophie für ihn zuletzt mit der
Religion eins war". Damit ist freilich die Schwierigkeit
nicht behoben, denn diese Religion bleibt dann eben
doch philosophisch. Der Ertrag der Debatte über die
Bekehrung ist letzten Endes, wie sich auch hier zeigt,
daß die facta des Berichtes der Konfessionen bleiben
und das christlich-paulinische Rankenwerk fällt. (Daß
A. schon jetzt von Paulus die Unentbehrlichkeit der
Hilfe und Gnade Gottes gelernt habe (663), ist doch
wohl Übermalung vom späteren Standpunkt aus.). Aber
gedanklich dominiert der Neuplatonismus durchaus,
während allerdings das christliche Moment als verborgene
Kraft, hinter der Scene, wirkt und nur an einem
Punkt die Handlung bestimmt. Und an diesem Punkt
liegt alles; der ganze Kirchenvater wird durch die Entfaltung
dieses Einen.

In der knappen Übersicht über A.s Theologie (681
bis 699), die m.W. ein treffendes Bild ergibt, formuliert
der Verf. (683), daß der neuplatonische Gottesbegriff
immer die Grundlage bliebe und darauf sich der
christliche Gott erhöbe; das ist etwa das gerade Gegenteil
zu R. Seeberg (DG. II- 386/7) und m. E. richtiger.