Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1929 Nr. 24

Spalte:

570-571

Autor/Hrsg.:

Brentano, Franz

Titel/Untertitel:

Über die Zukunft der Philosophie. Hrsg. v. Oskar Kraus 1929

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

569

Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 24.

570

willen verantwortungsvollen Geschichte bekennen. Denn
unser Sein ist a priori Sein in der Zeit, eine Tatsache,
die H. in der für seine Ausführungen fundamentalen
Formel: Ich bin meine Zeit zum Ausdruck bringt,
dem wahnvollen Glauben gegenüber, der in dem Gefühle
: Meine Zeit gehört mir die rechte Stunde
versäumt, um dann der Zeitgebundenheit des Lebens in
der Klage über seine Vergänglichkeit zu gedenken.

Solches Wollen, das mich zu meiner Geschichte
ins Verhältnis setzt, ist nicht vom Akt her zu verstehen,
sondern von der Tat; und sein Verhältnis zur Handlung
ist nicht das von Ursache und Wirkung, sondern das
der unwiederholbaren Gestaltung eigener Lebenszeit.
Es liegt im Wesen der letzteren, daß alles, was in ihr
spielt, seinen unverrückbaren Ort in der Geschichte erhält
. Ein anderer Zeitbegriff leuchtet hier auf als der
des Zeitmaßes, der, auf allgemeingiltige Zusammenhänge
der Natur gerichtet, das geschichtliche Geschehen
in immer wiederholbare, gerade der Zeitgebundenheit
entnommene Prozesse verwandelt.

Doch hat man die eigentliche, alles bewegende
Mitte dieser ganzen Auffassung erst erreicht, wenn man
versteht, dall aus solchem Sich-selbst-in-seiner-Ge-
schichte-Wollen das erwächst, was H. das Werden
nennt. „Wille ist Stellungnahme des Ich, das sein eigenes
Sein in sein Werden legt". Wir können hier nur
andeuten, daß dies Werden durch das Gleichmaß von
Zeitverfluß und Zeitverlust, durch das Ausgeglichensein
von Zeiterleben und Lebenszeit bestimmt wird,
daß H. in diesem Verhältnis von Sein und Zeit innerhalb
meiner eigenen Wirklichkeit die Quelle des Wertgefiihls
findet und daß er durch die Gegenüberstellung der auf
die Kulturwerte bezogenen Werturteile und der aus dem
Wollen eigener Geschichte gewonnenen reflexiven
Werturteile die Fundamente einer spezifisch ethischen
Lebensauffassung gewinnt im Unterschied zu einer Anschauung
, die dem Ideal lebt, „aus dem Leben ein
Kunstwerk zu machen".

Daß durch dieses Verständnis der Freiheit des
Menschen, die ihm innerhalb seiner Geschichte zu sich
selbst verhilft, der exklusive Gegensatz von Freiheit
und Gebundenheit hinfällt, leuchtet wohl ein. Da der
Wille maßgebend ist für das Werden des Menschen in
seiner geschichtlichen Einmaligkeit, so ist der Gedanke
der Gebundenheit mit dem der Freiheit so innig verschlungen
, daß der eine ohne den anderen garnicht zu
entwickeln ist. „Unfreiheit ist ein Ausdruck für die Ge-
schöpflichkeit des Willens, Freiheit ein Ausdruck für
den Willen des Geschöpfes" (S. 30).

Einige Bedenken wollen indessen nicht verstummen.
[. Kann man Gott und menschliches Du dem umfassenden
Begriff der Gemeinschaft substituieren? Gemeinschaft
zu Gott haben wir zunächst nur in der
Weise des sie-verloren-Habens, soweit wir nämlich von
der Wirklichkeit unseres Seins ausgehen. Es besteht
die Gefahr, daß sich unter dem Wort Gemeinschaft doch
wieder eine Art idealer Norm verbirgt, von der aus wir
unser Sein bewerten.

In dieser Richtung bewegten sich s. Zt. auch Einwendungen H.'s
gegen Stange. Th. L Z. 1928 S. 333. „Wird nicht die Wirklichkeit,
die der Oottesglaube meint, durch eine Metaphysik des Gemeinschaftslebens
gefährdet ? Der Weg vom menschlichen Du zum unbedingten
Du . . . das mich und alle Wirklichkeit setzt, wird zum Problem."
Dali zu derselben Problematik auch Gogartcns theologischer Ansatz führt,
ist wohl deutlich.

II. Muß nicht dann, wenn man die Idee der Gemeinschaft
zum Prinzip erhebt, der Begriff des Ethischen
über den der Wirklichkeit dominieren? Nur wenn
man diese Uberordnung der Ethik zugibt, gelten H.'s
Ausführungen über die innere Unmöglichkeit des Urteils
: Ich bin gut.

H. sagt: „Vom Ich, das sich selber ethische Prädikate zulegt, gilt

grundsätzlich, dalf es böse ist.....Nur auf Gemeinschaftstatbestände,

letzten Endes nur auf das, was wir durch Gemeinschaft mit Gott
geschichtlich geworden sind, pallt der Ausdruck „gut". (S. 33). Dieser
Satz ist mir nur dann verständlich, wenn das Urteil: Ich bin gut bereits
einen Vorstol! gegen die Tatsache meiner Bedingtheit von
Anderswoher enthält und damit die Wirklichkeit meiner selbst Lügen
straft.

III. Auch die Bestimmung der Sünde als „Los-sein-
wollen von der Gemeinschaft mit Gott" ist nicht ganz
eindeutig. Denn faktisch ist es doch so, daß wir die
Gemeinschaft mit Gott im Sinne unserer durchgängigen
Abhängigkeit erst entdecken in der Auflehnung wider
Gott (Ps. 139). Die Gemeinschaft mit Gott ist nicht
das, was wir loswerden wollen, sondern indem wir Gott
zuwider sind, entdecken wir, daß wir vermöge dessen,
daß wir sind, nie ohne ihn sind.

Ich glaube, dal! in dieser Präge des religiösen Apriori Augustin mit
seinem spezifisch personalen Seinsverständnis weiterführt als Schleiermacher
. In seinem „Intus eras et ego foris et ibi tc quaerebam, mecum
eras et tecum non eram (Conf. Lib. X. cap. XXVII Abschu. 38) formuliert
er das Problem der Gemeinschaft und der Sünde unübertrefflich.

Die dritte über die guten Werke handelnde Vorlesung
konfrontiert reformatorische und katholische
Lehre und zeigt, wie ungerecht der Vorwurf des Quietis-
mus ist, der gern im Hinblick auf die sittlichen Forderungen
dem Luthertum gemacht wird. Man kann vielmehr
dem katholischen Werkbegriff einen evangelisch
reformatorischen entgegenstellen und so Werk gegen

I Werk setzen.

Doch muß zuvor eine Vorstellung fallen, die nichts-

i sagend und gerade darum häufig anzutreffen ist, die
Meinung, als seien die guten Werke „ein bloßes Nach-
außen-treten des Glaubens oder sein bloßer Überfluß",

1 als seien dem Glauben die guten Werke „selbstverständlich
". Selbstverständnis der guten Werke bedeutet,
wenn es einen Sinn haben soll, sie zu treiben aus dem
Selbstverständnis, das der Mensch im Evangelium ge-
gewinnt und das „gerecht und Sünder zugleich" lautet.
Folgerichtig gründet H. daher das Tun der guten Werke

( auf die „Krankheit der Sünde", die guten Werke werden
dem unter der Sünde Verzweifelnden zur Gotteshilfe,
mit der Gott „sein Evangelium und sein Wort" umgibt
wie „mit einem schützenden Wall". Sie werden uns angetan
aus der Treue Gottes, die den nicht verläßt, der
an die Verheißung glaubt. Doch das Feld der guten
Werke reicht weiter als das des Glaubens und der Buße,
es ist der Weltplan Gottes selbst, in dem die guten
Werke die von Gott eingesetzte Phalanx sind, die

| Gläubigen zu schützen und den Gottlosen zu steuern.
Damit ist ein Doppeltes gegeben, einmal, daß dem
guten Werk eine gewisse Selbständigkeit eignet. Es ist

i abtrennbar von der Person dessen, der es treibt, denn

' es gehört in Gottes planvolles Wirken in der Welt.

1 „Wir entnehmen ihm die Mahnung, daß in der Theo-

, logie nicht alles kreisen darf um den Menschen und sein

i Heil und daß man auch die lutherische Hechtfertigungslehre
nicht so verstehen darf" (S. 55). Zweitens, daß

! den guten Werken ein eschatologischer Zug eignet. Wir
strecken uns in ihnen der verheißenen Vollendung entgegen
, sie sind unsere Hoffnung, die mit Gottes Wirklichkeit
allem Wirklichen zum Trotz rechnet. H. spricht
darum von den Werken „auf der Suche nach der besseren
Gerechtigkeit" oder direkt von den „suchenden Werken
". Es ist nun nicht schwierig, den Unterschied zwi-

1 sehen den guten Werken im Sinne des Verdienstes und im
Sinne des Suchens nach einer besseren Gerechtigkeit zu
erfassen, er liegt in dem Selbstverständnis des Menschen
gegründet, in dem simul iustus et peccator, und hat dann
auch hier seine weitere, eingehende Behandlung von H.
erfahren (Z. Svst. Theol. 192S S. 278 ff. 498 ff., 1929
S. 125 ff.).

| Königsberg. H.-J. Iwtnd.

Brentano, Franz: Über die Zukunft der Philosophie. Nebst
d. Vorträgen: Über d. Gründe d. Entmutigung auf philos. Gebiet,
Über Scbellings System, u. den 25 Habilitationstliesen. Hrsg., eingel.
u. m. erläut. Anmerkgn. u. Reg. vers. v. Oskar Kraus. Leipzig:
E. Meiner 1929. (XX, 187 S.) 8". = Philosophische Bibliothek,
209. RM 5.50; geb. 6.50.

Die Philosophische Bibliothek führt mit dem vorliegenden Bändchen

ihren Plan einer Gesamtausgabc der Schriften Eranz Brentanos weiter