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Ausgabe:

1929

Spalte:

428-429

Autor/Hrsg.:

Frick, Heinrich

Titel/Untertitel:

Romantik und Realismus im Kirchenbegriff 1929

Rezensent:

Althaus, Paul

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 1&.

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der Probleme des Schöpfungsglaubens ausgewichen sei
und sie „einer von der Idee der Freiheit, der Persönlichkeit
trunkenen Philosophie überlassen" habe und daß
sich dieser Theologie darum der Erlösungsglaube in
die privatisierte Gläubigkeit verwandelt habe (27)? Gegenüber
der Erlanger lutherischen Ethik (Harleß, Hof-
inann, Frank) oder, um aus der Gegenwart nur diesen
einen zu nennen, gegenüber Schlatter ist das ein schweres
Unrecht. Gerade bei Schlatter ist das, worum es
Gogarten geht, sehr lebendig und kraftvoll da. Die
summarischen Verdikte über die Theologie des 19. Jahrhunderts
sind heute beliebt. Sie haben den Vorzug, dem
Leser das beglückende Gefühl einer theologischen Zeitwende
, aus Versagen und Verworrenheit zu erstmaliger
Klarheit, zu vermitteln. Mit der geschichtlichen Wirklichkeit
freilich haben sie nicht viel zu tun.

Das gilt gutenteils auch von Gogartens Behandlung
der idealistischen Philosophie. Das staatsphilosophische
Denken der deutschen Philosophen seit der
französischen Revolution läßt sich doch nicht mit dem
Satze erledigen: sie verstehen „die Lebensordnungen als
Ausdruck des schöpferischen Ich, das in diesen Lebensordnungen
den Reichtum seines inneren Wesens, seiner
Individualität, wie Schleiermacher sagen würde, entfalten
soll" (18). Es ist bezeichnend, daß Gogarten
zum Beweise nur den romantischen Schleiermacher der
Monologen und den „aristokratischen Ästheten" (S.A.
Kahler) W. von Humboldt zitiert. Wir lassen es dahingestellt
, ob Humboldt in den Äußerungen aus seinen
Wanderjahren, die G. anführt, wirklich „prototypisch"
ist „für den geistigen Menschen des 19. Jahrhunderts".
Aber in keinem Falle geht es an, mit der Wiedergabe
von Humboldts Schilderung des „innerlichen Menschen"
(„dessen ganzes Streben nur dahin geht, die Welt in
ihren mannigfaltigsten Gestalten in seine Einsamkeit zu
verwandeln") die ganze idealistische Philosophie, ins-
bes. ihre Lehre von den Lebensordnungen zu charakterisieren
. G. zitiert den Schleiermacher der „Monologen"

— warum nicht auch den reifen Schleiermacher der
philosophischen Ethik oder der vaterländischen Predig-
ten? Da würde das Bild freilich nicht ganz so einfach.
Noch weniger geht Hegel in das Schema ein. Gegen
seine Staatslehre ist gerade im Namen des Evangeliums
vieles einzuwenden — aber läßt sich dieser antikisierende
Staatshegriff, überhaupt die Lehre vom objektiven Geiste !
einfach auf Gogartens Generalnenner für die idealistische
Philosophie bringen: daß hier die Ordnungen des
Lebens „von der Idee des freien Ich her" verstanden
werden? Es ist wahr, die idealistische Philosophie hat
das Wesen der Gemeinschaft nicht verstanden, aber an
die Stelle der Gemeinschaft tritt doch nicht einfach die
freie Persönlichkeit, sondern die übergreifende und bestimmende
Lebenseinheit. Das Geschichtsbild hätte hier

— auch in einem Vortrage — viel differenzierter sein
müssen. Die Auseinandersetzung mit dem Idealismus
ist erst dann lohnend, wenn man ihn nicht vereinfacht
und etwa seine Grenzen zur individualistischen
Romantik hin verschwimmen läßt.

Diese Bedenken gelten dem Geschichtsbilde Gogartens
. Aber auch zu seinen eigenen Gedanken muß
ich noch zwei kritische Bemerkungen machen. G. setzt,
wie der Sache nach auch schon in früheren Schriften,
das Geschaffensein und das in-einem-Stande-sein des
Menschen so ausschließend gleich, daß er Pflicht und
Sünde nur im Stande, in der Verantwortung gegen den
Nächsten kennt (31). Das ist eine Enge in der Auf-
fassung des Gebotes Gottes, die sich weder mit dem
biblischen noch mit dem reformatorischen Denken verträgt
. Der Mensch ist nicht nur auf seinen Nächsten,
sondern auch auf sein Schicksal bezogen. Er hat nicht
nur seinem Nächsten zu dienen, sondern er hat auch ein
persönliches Schicksal zu tragen, zu leiden und zu sterben
. Auch seine Verpflichtung gegenüber der Natur und
gegenüber den großen sachlichen Kulturaufgaben („machet
euch die Erde Untertan") ist durchaus nicht der

Verantwortung gegenüber dem Nächsten einzuordnen.
Unser Beruf greift über den Anspruch des Nächsten
hinaus. Die Alternative von individualistischer Persönlichkeitsethik
und Ethik der Bindung an den Nächsten
ist abzulehnen. Es gibt eine Unmittelbarkeit unseres
Handelns zu Gott (z. B. im freudigen Erleiden des
Schicksals, im willigen Sterben), die nichts mit dem
von Gogarten abgelehnten „Sich-als-Einzelner-verste-
hen" zu tun hat. Auch hier muß der Ansatz differenzierter
, breiter sein, wenn er der Wirklichkeit gerecht
werden will. Unter diese Kritik fällt auch Gogartens
Lehre vom Worte Gottes (Zw. d. Z. 1927,
S. 310ff.).

Schließlich: Gogarten betont, wie auch früher
schon, daß „der Christ, der erlöste Mensch die Werke
seines Berufes, seines Standes auf keine andere Weise
tun könne, ja tun dürfe, als der Nichtchrist sie tut" und
beruft sich dafür auf Luther (S. 38, vergl. 13). Man
müßte, wenn man Luther vollständig wiedergeben will,
wohl hinzufügen, daß nur der, dem Christus das Herz,
rein macht, ganz sachlich in den geschichtlichen Lebensordnungen
handeln kann, ohne die Ordnung Gottes zu
mißbrauchen, ohne der Versuchlichkeit der Ämter zu
erliegen (s. z. B. W. A. 32, 393). Der Christ wird also
gewiß dasselbe tun, was jeder Vernünftige tun muß, aber
er wird vielfach etwas anderes tun als was der uner-
löste Mensch tut. Im Übrigen fangen ja nun — was
ich Gogarten nicht zu sagen brauche — bei dem Hinweise
auf die „Ordnungen der Welt in ihrer einfachen,
natürlichen Gegebenheit" die Schwierigkeiten erst an.
Was heißt: „Gegebenheit"? So wie wir über die aller -
einfachsten Erkenntnisse des Geschlechterverhältnisses
oder des Staatslebens hinaus weiter fragen, melden sich
die schweren Fragen nach dem, was als Ordnung gegeben
ist. „Gegeben" ist auch die Un-Ordnung. Sie
bar, wie z. B. die Auflösung der Ehe und Familie in
der Großstadt, nicht nur geistige, sondern auch biologische
, z. B. wirtschaftliche Gründe. Hat man das einmal
eingesehen, dann wird man zur Verkündigung der
Schöpfungsordnungen Gottes doch vielleicht auch konkrete
soziale Forderung und Arbeit der Kirche mit hinzurechnen
. Ob man das dann „christlich-sozial" nennt
oder nicht, ist eine Frage für sich. Aber die Verkündigung
der Ehe als Schöpfungsordnung legt der Kirche
z. B. die Pflicht auf, wenn Staat und Stadt versagen,
selber den Bau von Wohnungen nach ihren Kräften in
die Hand zu nehmen. Die theologische Aufgabe der
Kirche und ihre „christlich-soziale" Tat lassen sich
keinesfalls gegeneinander ausspielen.
Erlangen- p, Althaus.

Frick, Prof. D. Dr. Heinrich: Romantik und Realismus im

Kirchenbegriff. Eine theolog. Auseinandersetzg. m. O. Dibelius,
E. Stange u. E. Peterson. Tübingen: J.C.B. Mohr 1929. (47 S.)
gr. 8". = Sammig. gemeinverständl. Vortr. u. Schriften a. d. Gebiet
d. Theol. u. Rel.-Gesch., 137. RM 1.80; in Snbskr. 1.50.

Frick greift in die Kirchendebatte der Gegenwart
in der Weise ein, daß er in einem umgearbeiteten Pfarr-
konferenzvortrage sich mit den Kirchengedanken von
Otto Dibelius (Das Jahrhundert der Kirche), Erich
Stange (Die kommende Kirche), Erik Peterson (Die
Kirche) auseinandersetzt. Man kann diese Auswahl und
Zusammenstellung im ersten Augenblicke zufällig finden
. Aber Frick wird recht haben, wenn er sagt: „Es
scheint mir, als ob die hier besprochenen Beispiele gerade
für den Pfarrer im Amt etwas besonders Verlockendes
, wenn man will Verführerisches haben" (3).
Das Verlockende ist in jedem der drei Entwürfe wieder
ein anderes und doch in allen dreien zuletzt ein Gemeinsames
. Als dieses Gemeinsame sucht Fr. bei den
drei genannten Autoren einen „romantischen Realismus"
herauszustellen, der „den Blick für die Wirklichkeit der
Kirche Christi eigentümlich getrübt hat". In einem
ersten Teile zeigt er die Kombination von Romantik und
Realismus in allen drei Fällen auf (unter „Romantik"
versteht er Verkennung der Wirklichkeit, die in illu-