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Ausgabe:

1929 Nr. 17

Spalte:

407-408

Autor/Hrsg.:

Lindsey, Ben B.

Titel/Untertitel:

Die Kameradschaftsehe 1929

Rezensent:

Heckel, Theodor

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Seite 1

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407

Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 17.

408

Als Hauptthese wird präsumiert, daß die Erfüllung
in der Gemeinschaft der Geschlechter nur in der Unbe-
dingtheit ihrer Bindung gefunden werden könne. Dieser
grundlegende Satz der christlichen Sexualethik sei aber
in sich noch nicht einheitlich gestaltet worden. Dies
gibt dem Verf. Anlaß in einer knappen, fast zu kurzen
Skizze die Bewegung und Gegenbewegung des Sexualethos
in der Kirchengeschichte aufzuzeichnen. Das Urchristentum
sieht die Ehe nie nur als Fortpflanzungsgemeinschaft
an, sondern würdigt sie als Bild der
höchsten Gemeinschaft mit Gott. Durch den Gnosti-
zismus und Manichäismus wird Dualismus, was Einheit
war (Geist, Fleisch, Leib; Lust und Erotik). Die Reformation
trägt das mittelalterliche Erbe in sich; führt aber
an allen prinzipiellen Punkten weiter (Innerlichkeit,
Verantwortung des Ethos, Fleisch-Geist etc.). Die nach-
reformatorische Entwicklung schwankt zwischen den
verschiedenen Polen hin und her; die Aufgabe, den Sinn
der Ehe aus dem Geist des ev. Ethos zu begründen,
ist der Gegenwart zugewiesen. Hiefür werden nach der
geschichtlichen Parenthese systematische Richtlinien
ausgesteckt.

Die geschlechtliche Bestimmtheit ist Hinweis auf
einen überindividuellen Zusammenhang. Seine ursprüngliche
Mächtigkeit, die Leib und Seele durchdringt, heißt
mit Recht Sinnlichkeit, worunter nichts Untergeistiges,
Leibkultus etc. zu verstehen ist, sondern die Beziehung
echter Leiblichkeit zu einer höheren Aufgabe angedeutet
wird. Die Zurechtrückung der Begriffe wehrt ebenso
falschem Individualismus wie falscher Askese und läßt
in der Geschlechtsgemeinschaft die Schöpfungsgnade
aufleuchten. Aus Brunstäds Sexualethik werden einige
ausgezeichnete Sätze zitiert, in welchen dieser Titel der
Schöpfungsordnung und -gnade, der über der Ehe steht,
dargetan wird (S. 24). Diese Schöpfungsordnung ist
aber nie kampfloser Besitz, sondern Aufgabe, Opfer,
Ruf zum Dienst. Die Unbedingtheit der Wertanforde-
rung gibt der ehelichen Gemeinschaft Sinn. Ihr Wert
wird durch keine äußere Zwecksetzung berührt. Gegenüber
bevölkerungspolitischer Zweckhaftigkeit sucht Sehr,
zu zeigen, daß Zeugung nicht Zweck der Liebesgemeinschaft
, sondern Ausdrucksmittel und Folge der Ehe
sind. Ebenso aber betont er, daß zur Echtheit der Ehe
die Bereitschaft zum Kinde gehört. „Jede Gestaltung der
Ehe fordert das rechte Verständnis für die untrennbare
Einheit von Sinn und Folge der Geschlechtsgemeinschaft
." Damit wird auch für die positive Einzelgestaltung
der Geschlechtsgemeinschaft die rechte verantwortliche
Haltung gewonnen (Empfängnisverhütung S. 28).
Auf die Erweckung der Verantwortlichkeit vor Gott
kommt es aber gegenüber dem ethischen Humanismus
und dem Eudämonismus an, die heute die Ehereform
betreiben, das wird in einsichtigen Darlegungen bis
zu der letzten Erkenntnis geführt, daß wahre Gemeinschaft
lebt von der Vergebung Gottes. „Echte Ehe ist
Anteil am Geheimnis Gottes."

Abgesehen von der schon berührten Tatsache, daß
die geschichtliche Parenthese über das Urchristentum
und die Reformation ein Wort mehr enthalten dürfte,
und abgesehen von der im Vorwort des Verf.s eingeführten
und von mir bejahten Selbstkritik, daß die Dämonie
der Geschlechtsverbundenheit stärker betont werden
müßte um den Schein zu vermeiden, als ob die
Wirklichkeit des Geschlechtslebens in ihrer ursprünglichen
schöpferischen Reinheit je vorhanden sei, halte
ich die Studie um der Energie willen, mit der sie das
Ethos der Schöpfungsgnade herausarbeitet, für eine der
gehaltvollsten und theologisch fruchtbarsten in dem
großen Schrifttum über die Ehe.

Berlin-Friedenau. Th. Heckel.

Lindsey, Ben B., u. Wainwright Evans: Die Kameradschaftsehe
. Deutsche Übers, v. R. Nutt. 16.- 20. Tsd. Stuttgart: Deutsche
Verlags-Anstalt 1928. (384 S.) 8°. Lwd. RM 8.50.

L.'s erstes Buch „Die Revolution der modernen
Jugend" zeigte an einer Masse von Tatsachen den Umsturz
des Sexualethos. Die Kraft dieser Zustandsschilde-
rung war der Positivismus sowohl in der ungeschminkten
Enthüllung der wirklichen Verhältnisse als in der
aufrichtigen Darstellung gebotener Hilfe. Das neue Buch
ist in der Art dem ersten gleich; will aber im Wesen
mehr sein. Dem Tatbestand soll die praktische Reform
folgen. Eine neue Form der Ehe ist notwendig und
soll rechtsgiltig werden. Die Absicht des Buches ist
| sozusagen die Motivation für die Gesetzes vor läge zur
Neugestaltung der Ehe. Stichwort hiefür ist „die Kameradschaftsehe
". Sie wird folgendermaßen definiert:
„Unter Kameradschaftsehe ist eine rechtskräftig geschlossene
Ehe zu verstehen mit gesetzlich anerkannter
Geburtenkontrolle und dem Recht für kinderlose Paare,
sich mit beiderseitiger Einwilligung jederzeit scheiden
lassen zu können, ohne daß für gewöhnlich Unterhaltsbeiträge
zu zahlen sind." Die Begründung gibt folgende
Motive an: 1. Die Kameradschaftsehe in dieser
i Form ist im gesellschaftlichen Leben tatsächlich weithin
! vorhanden. Die gesetzliche Festlegung öffnet lediglich
i das Monopol, das jetzt nur für die Kundigen besteht,
I für alle. 2. Die wissenschaftliche Empfängnisverhütung
j ist von ungeheurer Bedeutung (Auslese, Rasse etc.). Sie
: ist „in kluger Weise" zu benutzen. „Dann können aus
' ihr gesellschaftliche und geistige Kräfte erwachsen, die
1 für unsere Nachkommen eine bessere Welt schaffen
! können, als wir selbst ... 3. Leichtere Ehescheidungs-
möglichkeit ist Ausschaltung „des Risikos" beim Ein-
| gehen der Ehe. „Mann und Frau können bei Eingehung
i einer Ehe niemals Gewißheit darüber haben, daß sie
auf die Dauer zusammenpassen und glücklich sein werden
." M. a. W. die rechtliche Fixierung der Kameradschaftsehe
schafft für einen Notstand die ihm gemäße
Rechtsnorm, ist wissenschaftlich modern, ist rational,
befördert die Entwicklung und garantiert das Glück der
Ehe. Ausdrücklich verwahrt sich L. dagegen Propagandist
der freien Liebe oder Vertreter der Probeehe zu
sein. Sein Eheideal ist die Monogamie; die Kamerad-
! schaftsehe soll mit dem Vorsatz zur Einehe geschlossen
werden. Die K. ist Stufe, nicht Ziel. Die rechtliche
Sanktionierung der Kameradschaftsehe wäre demnach
; ein Notstandsgesetz.

Den Ernst, der aus der Feststellung des Tatbe-
Standes spricht, erkenne ich an; dennoch halte ich dieses
Reformbuch B. L. literarisch für erheblich öder als sein
i erstes, sachlich vor allem für eines der dürftigsten in
' der gesamten überreichen Eheliteratur. Die Auffassung
| L.'s ist eine fortgesetzte Halbheit. Er will die Frau
- schützen und entwürdigt sie, indem er die Würde der
Mutterschaft suspendiert; er will das Ideal der mono-
I gamischen Ehe bewahren, erhebt aber die Unnatur zum
i Gesetz; er verheißt eine bessere Zukunft der Menschheit
j und übersieht, daß die Ehe mehr ist als eine Gesellschaftsform
; er will das Ideal der Einehe schützen
i gegen Verkrampfung und Gewissensskrupel und ver-
j kennt, daß Gemeinschaft nicht in der Erotik ihren tra-
I genden Grund haben kann; er kämpft gegen die Pflicht,
I gegen Moses, gegen den Moralismus und nimmt das
I Glück, nimmt Jesus, nimmt das höhere Ethos für sich
in Anspruch und huldigt doch in naiver Weise dem
I Rationalismus und dem Eudämonismus. Verwunderlich,
daß ein Mann, der die Dämonie der Geschlechtlichkeit
täglich sieht, dennoch wie mit leichter Geste die Erbsündenlehre
ausstreicht und gegen die Heuchelei der
Orthodoxie und Kirche losfährt. Ich will nicht so verstanden
werden, als ob die Kirche nicht im Sexualproblem
ernstlich sich zu besinnen hätte, aber dies
allerdings ist auch meine Überzeugung, daß B. L. außer
in dem aufschreckenden Bericht über die Tatsachen ihr
! Ratgeber nicht sein kann.

' Berlin-Friedenau. Th. Heckel.

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 31. August 1929.

Verantwortlich: Prof.D.E. Hirsch in Göttingen, Hainholzweg 62.
Verlag der J. C. Hin rieh s'schen Buchhandlung in Leipzig C 1, Scherlstraße (frühere Blumengasse) 2. — Druckerei Bauer in Marburg.