Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1929 Nr. 1

Spalte:

370-372

Autor/Hrsg.:

Lieb, Fritz

Titel/Untertitel:

Das westeuropäische Geistesleben im Urteile russischer Religionsphilosophie 1929

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

369

Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 15/16.

370

gänzenden Beispiel veranschaulicht. Wer Paul Gerhardts
„O Tod o Tod du greulichs Bild" (Ausg.
1898 Ebeling Nr. 122) zuerst liest, empfängt den Eindruck
eines leicht Fremdartigen. Es paßt nicht ganz
zu der bei P. Gerhardt gewöhnlichen Empfindung des
Todes als Heimgang, als Erlösung (vgl. Ebeling Nr.
111 Vers 15 „Er 4, der Tod] ist das güldne Himmelstor"
und Vers 16 "[an den Tod:] „O süße Lust, o edle Ruh,
o frommer Seelen Freude"). Die Erklärung liegt dann,
daß dies Lied Nr. 122 eine (ziemlich verballhornende) Bearbeitung
des Lieds eines anderen, um 20 Jahre älteren,
des Paul Röber ist (O Tod, o Tod, schreckliches Bild,
o ungeheure Larve), das nach Stil und Inhalt noch ganz
zu der vorhergegangenen Epoche des Kirchenliedes gehört
. Natürlich sucht nun R. weiter den so wahrgenommenen
Stimmungsunterschied (er wird mir dies ab-
schwächende Wort verzeihen) geistesgeschichtlich zu
interpretieren. Er übersieht dabei den dreißigjährigen
Krieo- nicht. Die eigentliche Wurzel des Wandels aber
liegHhm darin, daß' der Mensch im 17. Jahrh. anfangt,
subjektiv und individuell zu empfinden, sich vom Boden
der erschütterten kirchlichen Objektivität auf seine
eigne autonom erlebte Innerlichkeit" (Dilthey) zurückzuziehen
; dabei fällt dann auch das Stichwort „Mystik
" im Gegensatz zur „Reformation" (gerade z. B.
bei Gerhardt). Das ist die Anwendung eines uns ge-
läufigen Satzes auf die Geschichte des Todesgedankens.
Wo aber kommt die Stimmung des 16. Jahrhunderts
her- Von Luther. Jene Verfratzung und Verteufelung
des Todes mitsamt den hinter ihr liegenden tieferen
ethisch-religiösen Einsichten ist reformatorisch. Damit
bin ich nun auf die Interpretation Luthers durch R. zurückgeworfen
und stutze schon beim ersten Schritt.
Dann müßte Luther ja zu den Menschen gehören, die
das Todesgefühl dem Lebensgefühl unterordnen, hier in
«ine Linie mit dem Ackermann aus Böhmen und mit
der Renaissance gehören? Und gibt das ein richtiges
Lutherbild? Ich denke z. B. an Luthers Tauf lehre, wie
sie im Sermon von 1519 (W. A. II 727 ff.) entwickelt
ist. „Wer getauft wird, der wird zum Tod verurteilt"
(a. O. 728); der Mensch begehrt durch den Glauben
der Sünde und der Natur zu sterben, und Gott nimmt
das auf und fängt in Gnaden an, Natur und Sünde zu
töten und uns so zum Sterben und Auferstehen zu be- l
reiten (a. O. 730). Der Tod ist also bei Luther opus 1
dei. wenn auch gewiß opus dei attenum; nur indem man
ihn gern und freudig als eine verborgene Gnade erfährt,
überwindet man ihn. Gewiß, es bleibt darum auch wahr,
daß er mit dem Teufel zusammensteht als der Feind.
Aber das ist nicht (wie es bei R. erscheint) eine un- ]
dialektisch aufzufassende simple Wahrheit, sondern ist
in die ganze Dialektik Luthers von Zorn und Gnade,
fremderTund eignem Werk Gottes hineinzustellen. Demgemäß
ist auch das Leben, das man durch das Teilbekommen
an Christi Todesüberwindung gewinnt, nicht
einfach Leben; es ist das dies Leben sprengende wahre
Leben, das Leben als transitus von der Zeit in die
Ewigkeit, das Leben im Sterben. Damit erweist sich das 1
von R. dem 16. Jahrhundert vorangestellte Lutherbild
als verzeichnet. Von dieser Einzelbeobachtung her muß
nun aber wieder das ganze Bild des Zeitalters neu aufgebaut
werden. Die Verfratzung und Verteufelung des
Todes kann nur als einseitige Brechung eines aus Luther
aufgenommenen Motivs gelten; und ist die Einseitigkeit
wirklich so groß, daß die Dialektik im Lebensbegriffe
vergessen wäre? Ferner scheint mir das Nachwirken
vorlutherischer Motive von R. zu gering veranschlagt.
Und weiter muß auch das Verhältnis des 17. Jahrhunderts
zu Luther anders sich brechen: P. Gerhardt
ist gewiß in dem, was er aus eignem Empfinden über
den Tod sagt, einseitig, gemüt-lich in jedem Sinne gegenüber
Luther: aber er sagt nichts Luther Fremdes, er
baut nur die eine Seite an der reformatorischen Stellung
zum Tode aus.

Dies Beispiel mag zeigen, wie mir die Diskussion

mit R. meistens verlaufen würde. Es ergäbe sich mir
überall ein reicheres und gebrocheneres Bild der Zeitalter,
überall auch eine andre innere Bestimmung des Verhältnisses
zur Reformation. Such ich mich nun aber
auf den Punkt zu besinnen, an dem die Verschiedenheit
der Sicht entsteht, so ist es — abgesehn von meiner
altmodischen Aufmerksamkeit auf die individuelle Gestalt
des Gedankens — wohl der, daß ich die Sinn-
haftigkeit und Tiefe der im kirchlich gebundnen Christentum
gegebnen Stellung zum Tode gegenüber der der
vom Kirchlichen sich lösenden freien Geistigkeit viel
höher einschätze; die letzte scheint mir viel mehr aus
dem Christentum zu leben, als es bei R. sichtbar wird.
Daß sich ihm das verdunkelt hat, liegt aber an der
m. E. methodisch unmöglichen Ausscheidung der Frage
nach Unsterblichkeit und ewigem Leben, die R. bewußt
vorgenommen hat: denn damit wird der sich wandelnde Gehalt
des Lebensbegriffes verdunkelt. Seine Aussagen sind darum
da am sichersten, wo er dieser Ausscheidung zum Trotz
doch auf diesen Fragenkreis irgendwie eingeht.

Daß R. uns aber ein Buch gegeben hat mit vielen
eigentümlichen und zum Nachdenken anreizenden Beobachtungen
, das habe ich durch die Art meines Gesprächs
ausgedrückt. So brauche ich es zum Schluß
eigentlich kaum noch einmal zu sagen. Bei rechtem
kritischen Gebrauch wird sein Buch dem Leser auf jeden
Fall zur Förderung seiner Erkenntnis gedeihen.
Göttinnen. e. Hirsch.

Lieb, Privatdoz. Fritz: Das westeuropäische Geistesleben im
Urteile russischer Religionsphilosophie. Tübingen: J. C B.
Mohr 1929. (39 S.) gr. 8". *= Sammlung gemeinverständl. Vortr. u.
Schriften a. d. Gebiet d. Theologie U. Rel.-Gesch., 136.

RM 1.80: in Subskr. 1.50.
Die Literatur über Rußland wächst ins Unge-
messene, ganz heimisch in ihr ist kaum jemand. Das
bolschewistische neueste Rußland ist noch immer sehr
undurchsichtig, man weiß nie recht, wieweit die Berichte
, die man liest, glaubhaft sind: auch wenn man den
Eindruck gewinnt, daß sie nicht mit Bewußtsein „gefärbt
" sind, bleibt man meist zweifelhaft, wie weit sie
vollständig sind, ob die Quellen genügen. Sehr viel
sicherer ist unsere Kenntnis des letzten zaristischen Jahrhunderts
. Ja, da ist einem, der der Literatur auch nur
etwa der letzten dreißig Jahre gefolgt ist, kaum noch erheblich
Neues zu sagen. Vollends kann einer sich schon
nach den Quellen, da die meisten wichtigen Werke
russischer „Führer" ins Deutsche (oder auch Französische
) übersetzt sind, hier selbständig ein Urteil bilden.
In gewissem Maße ein Standard work ist das von Th. G.
M a s a r y k (dem ehemaligen Professor in Prag, jetzigen
Staatspräsidenten der Tschecho-Slow akei), 1913;
in zwei Bänden (von 388, bzw. 533 Seiten) bietet es
den gesamten politischen und philosophischen Stoff,
freilich nach der spezifisch religiösen Seite insofern
doch eine Lücke zeigend, als es den russischen Dichtern
(die vielfach auch, die großen eigentlich alle, zu
den russischen „Denkern" gehören) mindestens nicht
ausreichend gerecht wird (z. B. ist Tolstoi übergangen).
Ich habe von dem inhaltvollen, in der Form etwas zerflossenen
Werke einen Bericht, der die Grundzüge der
Entwicklung des russischen („soziologischen", wie Ma-
saryk es nennt — das „kirchliche" fällt ihm mit
darunter, nur eben nicht das spezifisch „theologische"
[dogmatische]) Strebens deutlich macht, in dieser
Zeitschrift (1915, Nr. 20 21, Sp. 442—449) geboten
Das wertvolle Werk „Östliches Christentum. Dokumente
, I Politik, II Philosophie", herausgegeben von
N. v. Bubnoff und Th. Ehrenberg, o J ist von
mir hier (1924, Nr. 11 und 1926, Nr. 8) ebenfalls <re-
nauer beleuchtet worden. Eine Reihe spezieller Schriften
über das geistige Rußland, die ich hier angezeigt habe
(Nötzel etc.), lasse ich für jetzt auf sich beruhen

Der Vortrag von Fritz Lieb, Privatdozent in
Basel (wie ich höre, ist er Deutschrusse), hat seinen
Wert daran, daß er in straffer Linienziehung und an-