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Ausgabe:

1929 Nr. 1

Spalte:

11-12

Autor/Hrsg.:

Michon, Georges

Titel/Untertitel:

Les documents pontificaux sur la démocratie et la Société Moderne 1929

Rezensent:

Koch, Hugo

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 1.

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die letzte im positiven beantwortet. Günther weist nach,
daß die Mitte des vorigen Jahrhunderts insofern einen
Wendepunkt bezeichnet, als die Hauge'sche Erweckung
damals zwar ein mehr evangelisches Gepräge annahm,
gleichzeitig aber, nach Aufhebung des Konventikelver-
botes, eine Tendenz zur Organisation in der Bewegung
aufkam und damit auch das Verhältnis zur Landeskirche
komplizierter wurde. Diese Entwicklung hat der Verf.
mit großer Sachkenntnis in einer sehr lichtvollen Weise
skizziert und die Probleme überaus klar herausgestellt.
Und gerade dieser Abschnitt seines Buches wird nicht
nur für norwegische, sondern auch für deutsche Christen
besonders lehrreich sein. Überhaupt hat er mit seinem
Buch über Hauge ein sehr verdienstliches Werk geliefert
, wofür sowohl Laien als Theologen ihm zum aufrichtigsten
Dank verpflichtet sind.
Oslo. O. Moc

Michon, Dr. Georges: Les documents pontificaux sur la
democratie et la Societe Moderne. Publies avec une intro-
duction et des notes. Paris: F. Rieder 1928. (283 S.) 8°. =f= Les
textes du Christianismc, V.

Michon stellt hier Enzykliken, Breven, Konsistorialansprachen
und andere päpstliche Reden, die sich mit Fragen der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung befassen, teils ganz, teils in Auszügen
mit gcdankenverhindenden Inhaltsangaben, aus französischen
Sammlungen in französischer Sprache zusammen, und zwar von
Pius VI. und seiner Verdammung des französischen Umsturzes und
der von ihm aufgestellten Menschenrechte bis zu den Kundgebungen
des jetzigen Papstes. In einer kurzen Einleitung von 28 Seiten sucht
er mit wenig Strichen die politische Haltung der in Frage kommenden
Päpste, auch ihre Haltung während des Weltkrieges und nacli
dem sog. Versailler Frieden zu kennzeichnen. Er kommt zum Ergebnis
, daß das Papsttum „est restec, avec des modalites differentes,
imposees par la necessite, l'ennemi du regime demoeratique et des
prineipes de liberte et de justice qui sont ä la base du monde moderne
" (S. 21). Wie leicht zu ersehen ist, steht diese Ansieht der
des verstorbenen Domdekans Kicfl wesentlich näher als der des
Münsterer Privatdozenten Tischleder, der seinerseits wieder hohe
französische Geistliche zu seinen Gunsten ins Feld führen kann
(siehe diese Ztg. 1928, Nr. 12, Sp. 2831). Nimmt man dazu, daß
ein hierin so sachkundiger Gelehrter wie der Tübinger katholische
Theologe O. Schilling seinerseits sowohl bei Kiefl wie bei Tischleder
Abstriche und Vorbehalte anbringt (Allg. Rundschau 1928, Nr.
25, S. 3851), so wird man daraus schließen müssen, daß die
Stellung der Kirche zu den einschlägigen Fragen seihst nicht klar und
eindeutig sein kann. In der Tat liebt es das Papsttum in solchen
Dingen, mit der einen Hand etwas zu geben und es mit der andern
wieder halb und halb zurückzuziehen, etwas schroff zurückzuweisen
und dann doch eine kleine Seitenpforte offen zu lassen. Iii den
Schriften des verstorbenen Jenaer Philologen und Historikers Heinrich
Geizer erinnere icli mich irgendwo gelesen zu haben — leider
habe ich die Stelle nicht aufgezeichnet —, daß schon vor Jahrzehnten
ein hoher vatikanischer Würdenträger zu seinem Vater gesagt
habe: allen Anzeichen nach gingen die Zeiten der Fürsten zu Ende
und die Kirche müsse darauf bedacht sein, mit den Völkern selber
ins Benehmen zu kommen — also eine tatsächliche demokratische
Umstellung. Was die Haltung Benedikts XV. im Weltkriege betrifft,
so spricht M. ihm Neutralität zu, was bei einem Franzosen anerkennenswert
ist. Leider haben wir Deutsche nur allzuviel Grund,
sie etwas anders zu beurteilen — nicht zu gedenken der tiefen Verbeugung
, die er nach dem Kriege bei der Heiligsprechung des
Mädchens von Orleans vor der Siegernation machte. Sehr erfreulich
ist M.s Urteil, daß die Anschauung von der Alleinschuld Deutschlands
am Weltkriege heute nicht mehr zu halten ist und man einen
Friedensvertrag nicht als ein Kräutchen Rührmichnichtan befrachten
darf, der den Besiegten ohne jede Erörterung aufgezwungen wurde
und der selber vielfache Keime zu neuen Kriegen in sich trägt
(S. 27). Als Gefahr für den Frieden kommt in den neuesten päpstlichen
Kundgebungen fast nur der Nationalismus der Völker in Betracht
. Da ist es nur merkwürdig, daß dieser Nationalismus bei gewissen
Völkern gerade von kirchlicher Seite immer wieder aufs
eifrigste genährt wird, und zwar gerade bei solchen Völkern, bei
denen er einer weiteren Nahrungszufuhr am wenigsten bedarf, während
anderwärts die einfachste und natürlichste Regung des National-
gcfühls von kirchlichen Stellen sofort als Nationalismus schlimmster
Sorte gebrandmarkt wird. Daß es ferner auch zwischenstaatliche oder
überstaatliche Mächte gibt, die dem Gedeihen und dem Frieden
der Völker noch gefährlicher werden können, darauf scheint der hl.
Geist sein auserwähltes Werkzeug am Tiber noch nicht hingelenkt zu
haben. Oder beginnt es dort doch auch in dieser Hinsicht etwas zu
dämmern? Die Auflösung der „Amici d'lsraeie" und ein Aufsatz über

die Judenfrage im Mailieft der Civiltä Cattolica 1928 könnten als
Anzeichen dafür gedeutet werden. Es berührt eigentümlich, wenn
man in päpstlichen Äußerungen die Klage vernimmt, daß die Neuzeit

i die katholische Religion ,,mct au rang . . . meme de la perfidie
judaique" (S. 60), wenn man von der „Pest des Sozialismus" hört

i (S. 111. 114) und die feierlichen Verdammungen der Freimaurerei
liest (S. 64. 129) und daneben wahrnehmen muß, wie gut man sich

> in katholischen Kreisen mit diesen die Gegenwart beherrschenden
Mächten zu stellen weiß und ihren Einfluß eher fördert als ein-

; dämmt. Hier zwar nicht allein, aber hier deutlicher als in andern
Punkten klaffen im heutigen Katholizismus Lehre und Leben bedenklich
auseinander.

München. Hugo Koch.

Pascher, Studienrat D. Dr. Joseph: Die plastische Kraft im
religiösen Gestaltungsvorgang nach Joseph von Görres.

j Line Studie zur Religionspsychologie. Würzburg; C J. Becker 1928.
(XII, 76 S.) gr. S". Abhandlungen z. Philos. u. Psvchol. d. Religion
, H. 18. RM 2.40.
Die plastische Kraft ist der in jedem echten Organismus
wirkende Zeugungstrieb, der darauf drängt, inne-
j ren geistigen Gehalt in einem sinnerfüllten Äußeren zu
; gestalten (S. 7). Die vorliegende Untersuchung stellt
j sich die Aufgabe, die Bedeutung dieses Begriffes für
die religionspsychologischen Auffassungen Görres' aufzuzeigen
in seineii Ansichten über religiöse Bildungen
im Organismus der Gemeinschaft und des Individuums
(S. 8). Der Verf. kann unter Berufung auf ein umfassendes
Quelleumaterial, das in gediegenster Weise
verwertet wird, zeigen, daß es ein Lieblingsgedanke von
Görres ist, daß die Seele auch dem göttlichen Licht
gegenüber sich nicht rein passiv verhält, sondern bei
seiner Erfassung selbstgestaltend mitwirkt aus „einem
einwohnenden Licht, in eigener Bildungskraft" (S. 48).
Das ist zunächst der Fall bei der Kirche, in deren
Leben Görres gesellscliaftbildende Kräfte tätig sieht,
die in mystischer Einigung mit dem heiligen Geist ihren
Organismus aufbauen. Erlahmen oder Erlöschen dieser
plastischen Kräfte hat Altern oder Sterben kirchlicher
Formen zur Folge (S. 14 f.). Man ist schon überrascht,
diesen evangelisch anmutenden Kirchenbegriff bei Görres
herausgestellt zu sehen, aber dann kommt die alles
wieder zurücknehmende Einschränkung, daß die wesentliche
Grundstruktur der Kirche unsterblich sei, und daß
zu ihr auch die Wesenszüge der äußeren Verfassung gehören
(S. 16).

Die Gemeinschaft wird durch die ihr einwohnenden
plastischen Kräfte auch dazu getrieben, in ihr vorhandene
religiöse Ideen in äußeren symbolischen Formen
(Mythus,'Bilder) zu gestalten (S. "19ff.). In der Bild-
haftigkeit religiöser Rede verleibt sich innerer seelischer
Gehalt. Die psychologische Fundierung des Symbol-
gedankens sehließt jedoch im Sinne von Görres seine
metaphysische Bedeutung, gemäß der er aufgrund der
analogia entis objektiven Erkenntniswert hat, nicht aus.
Trotzdem wird dieser Betrachtungsweise die christliche
Lehrbildung entzogen. Sie beruhe nicht auf dem Wirken
solcher plastischen Kräfte, sondern gehe auf die
geschichtlich erfolgte Offenbarung zurück, zwei Dinge,
die sich ja nur nach der katholischen Auffassung auszuschließen
brauchen (S. 29).

Im 2. Hauptteil wird auf das Wirken der plastischen
Kraft in der Einzelseele, und zwar des Mystikers,
auf den sich hier Görres beschränkt, eingegangen. Ist
der Seele irgendwie ein Geistiges zugekommen, so tritt
die plastische Kraft naturnotwendig in Tätigkeit und gestaltet
es in Visionen aus (S. 53), deren höchste Stufe
die intellektuale Vision ist, für die das begleitende Bild
nur Adiaphoron ist (S. 46ff.). Das Entscheidende ist
bei der Vision überhaupt nicht das Bild, sondern der
Sinn, der sich im Bild, durch die plastische Kraft gestaltet
, ausdrückt. Daß Görres von seinen Voraussetzungen
aus kein Mittel weiß, um den übernatürlichen
Charakter einer Vision festzustellen, ist wiederum nur
ein Anzeichen dafür, daß der Gedanke der plastischen
Kraft seinen katholischen Rahmen sprengt.