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Ausgabe:

1929

Spalte:

281

Autor/Hrsg.:

Böhm, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Über die Möglichkeit systematischer Kulturphilosophie 1929

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Seite 1

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282

Sichtspunkt aus eine Utopie einer Gesellschaftsordnung
entwarf, die ihre Konturen und Farben, wie die Arbeit
in ihrem Hauptteil in anschaulicher Ausführlichkeit zeigt,
von der Institution der katholischen Kirche absah. Der
Wert der Arbeit liegt weniger in diesen schon öfter
herausgestellten Ergebnissen, als in der geschickten
Durchführung im einzelnen.
Heidelberg. Robert Wink ler.

Bönni, Wilhelm: Ober die Möglichkeit systematischer Kulturphilosophie
. Hailea. S.: M. Niemever 1927. (11, 62 S.) gr. 8".

RM 2.80.

Die Freiheitsphilosophie, deren Unterscheidung von
der Naturphilosophie Kants weltgeschichtliches Verdienst
i>t, wagt B. gegen Kant selbst richtig zu stellen, indem
er dessen ästhetische Auffassung des Ethischen ebenso
zu verbessern sucht wie die ethische Auffassung des
Ästhetischen. Diese beiden Gebiete haben ihre gemeinsame
Basis im Selbst, indem das erstere die Richtung
aus dem Unendlichen her, das letztere die in das Unendliche
hin zum Ausdruck bringt. Dieses Persönlichkeitsbewußtsein
wird nun auf die Gestaltgebiete angewandt
, und das gibt die Kultur als lebendiges Bezug-
SYStem, das geradeso einen Zusammenhang bildet wie j
die Bestandteile des menschlichen Gehirnes. Eine Reihe
von Mittelgliedern schiebt B. zwischen dem Subjekt,
dem die Freiheit zugehört, und dem Objekt, das als
Natur der Gebundenheit unterliegt, in schwierigen Gedankengängen
ein. Ist das Merkmal der Natur das
Leben, so das der Freiheit das Erlebnis, in dem die !
Freiheit des Ich auf die Gebundenheit des Nichtich be- j
zogen wird. Phantasie und Katalepsie, (Apperzeption)
bedeuten die entgegengesetzten Weisen, den Stoff zu
behandeln: jene wandelt ihn um in Schein, diese zieht
ihn ans Ich heran. So werden Kunst und Wissenschaft
abgeleitet, indem am Material sich der Wille des Sub-
jektes spaltet. Wie die Begriffe Spiel und Ernst, Werk
und Wirkung noch dazutreten, um die Vielheit der Kulturbetätigungen
dialektisch auf einige, in Schemata geordnete
zurückzuführen, kann nur angedeutet werden.
Die Religion kommt auch zu einem gewissen Recht. Sie ;
ist auch eine Art Erlebnisse zu gestalten. Von ihrer
Stellung im Systemganzen ergeben sich viele Fragen
wie etwa die, ob Erlösung und Glaubensgewißheit etwas
spezifisch Religiöses sind, wie sie sich zur Wirtschaft,
zur Medizin verhält. — Dies der Inhalt der eigenartigen
Schrift, nach deren Daseinsberechtigung man fragen
kann.

Marburg. Friedrich NiebergalL

Maeder, Dr. med. A.: Die Richtung im Seelenleben. Zürich :
Rascher & Cie. 1928. (167 S.) 8°. RM 4.60.

Das Buch des Züricher Arztes wendet sich an Seelsorger
, Erzieher und Ärzte, die Anregung zum Verständ-
nis'der ihnen anvertrauten Menschen suchen. Der Verfasser
will auf psychoanalytischem Wege in der Tiefe
der menschlichen Seele einen Richtungssinn oder eine
Richtungskraft des Lebens aufweisen und zeigen, wie
diese bei seelischen Störungen verhüllte energische Richtung
zu beleben ist.

Ein erster Teil gibt einen kurzen Abriß der Geschichte
der Psvchoanalyse. Die beiden Wiener Schulen
(Freud: Psychosexualitä't, Adler: Psychologie des Selbsterhaltungstriebes
) werden als einseitig beurteilt; sie
seien durch die Züricher Richtung (Jung) zu ergänzen
und zu berichtigen, die den Freudschen Begriff der
Psychosexualität durch den der Affektivität überhaupt
ersetzt. Die Anwendung der Psvchoanalyse als Heilungsmethode
(„analytisch - synthetische Kur") wird
durch einen Vergleich mit Dantes Göttlicher Komödie
veranschaulicht. Wie Dante zuerst die Hölle durchsehreitet
, um von Beatrice geleitet zur göttlichen Welt
zu gelangen, so müsse die analytisch-synthetische Kur
zuerst die Hölle in dem Innern des Menschen aufdecken,
um zugleich die Keime verborgener Kräfte zu entdecken,
durch deren Entfaltung ein Aufstieg ermöglicht werde.

Der zweite Teil behandelt das Gewissen und die Richtung
. Die Hauptfaktoren seelischer „Selbststeuerung",
der sogenannten Regulation, sieht der Verfasser im Gewissen
vorgebildet. Denn Erkenntnis der Sünde, Sehnsucht
nach Wiedergutmachung und Hoffnung auf Vergebung
seien die Momente, die dem Seelenleben eine
neue Richtung geben. Auch die körperliche Heilung bedürfe
eines EinStellungswechsels im Sinne der religiösen
Metanoia. Es müsse gesehen werden, daß der Mensch in
seiner Endlichkeit auf einen Gegenpol bezogen ist, deiche
Attribute der Absolutheit, der Unendlichkeit und der
Ewigkeit besitzt.

Der dritte Teil bringt kurze Ausführungen über
die „Richtung in der Erziehung". Hier tritt M. den F reiheitsfanatikern
unter den modernen Pädagogen mit
großer Entschiedenheit entgegen. Zur freien Entwicklung
des Kindes gehöre gerade die Berücksichtigung
seines Führungsbedürfnisses.

Die auch für den Theologen lehrreiche Schrift bezeichnet
ihr Verfasser selbst als ein Bekenntnis zu eine:
„religiös-gläubigen" Haltung, wie es bei Medizinern
noch wenig üblich sei. Diese neue Einstellung ärztlicher
Kreise ist gewiß überaus erfreulich und dankenswert.
Freilich darf nicht übersehen werden, daß dadurch auch
eine neue Problematik des Verhältnisses /wischen medizinischer
Theorie und Praxis einerseits, der religiös-
gläubigen Haltung andrerseits entsteht.
Döttingen. <-,. Wobberntin.

Reiner, Maus: Freiheit, Wollen und Aktivität. Phänomenologische
Untersuchungen in Richtung auf das Problem der Willensfreiheit.
Halle a. S.: M. Niemeyer 1927. (VI, 172 S.) gr. 8°. RM 6-!
Was der Titel anzeigt, bekräftigt der Verfasser im
Vorwort. Er will rein phänomenologisch, d. h. durch
eine jede vorgefaßte Definition vermeidende Beschreibung
„das viel umstrittene Problem der Willensfreiheit
seiner Lösung ein Stück näher bringen". Im Bewußtsein
und im Interesse dieser seiner „eigenartigen Fragestellung
" verzichtet er darauf, andere Untersuchungen
über diese Fragen zu berücksichtigen, vollzieht vielmehr
in steter Anlehnung und Berufung auf Husserls Forschungen
, besonders nach der in den „Ideen" niedergelegten
Fassung, eine eindringende Analvse dessen,
„was unter Freiheit überhaupt verstanden wird". Dabei
ist er bemüht, immer wieder das „Wesensgesetz der
Freiheit" sichtbar zu machen, „daß keine Aktivität ohne
vorhergehende, sie motivierende Passivität auftreten
kann" daß, wie es an einer anderen Stelle heißt, „das
konkrete Bewußtsein des: »Ich kann stets durch Passivität
gegeben werden muß". Dieses Grundmotiv gibt
den Analysen der vielfältigen Phänomene von Aktivität,
die der Verfasser untersucht — der Handlung, des
reinen Tuns, der vorfreien Tätigkeit, des ideellen Be-
ziehens, um nur einige zu nennen — ihre durchgehende
systematische Struktur. Zum Schlüsse wendet er sein
Ergebnis auf eine theologische Fragestellung an. Er
glaubt nämlich damit das Verhältnis von Freiheit und
Gnade prinzipiell bestimmen zu können. Und zwar
stellt er fest, daß „die Passivität eine der phänomenologischen
Hauptgrundlagen der üotteserfahrung ist", ein
Gedanke, dem Schleiermacher freilich eine etwas genauere
Bestimmung zu verleihen vermochte. Wenn er
ater dann damit schließt, daß es „keine Freiheit ohne
Gnade gibt", daß aber auch umgekehrt die Freiheit
durch die Gnade nicht vernichtet, sondern im Gegenteil
erst in ihr möglich wird, so entläßt er seinen Leser mit
einer zwar einfachen, aber aus dem Verlauf der Untersuchung
keineswegs verständlichen Formel. Denn von
der Passivität, die am schlechthin Gegebenen haftet, zur
Gnade ist noch ein weiter Weg, aber von der Freiheit,
die der christliche Glaube mit der (inade verbunden
weiß, zu dem, was der Verfasser unter Freiheit versteht,
nämlich „die wählende (Wert)richtung des eigenen
Wollens" gibt es gar keinen Weg mehr. So wird dieser
Punkt schwerlich eine Diskussionsbasis über die voroe-