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Ausgabe:

1929 Nr. 11

Spalte:

260-262

Autor/Hrsg.:

Voigt, Friedr. Adolf

Titel/Untertitel:

Sören Kierkegaard im Kampfe mit der Romantik, der Theologie und der Kirche 1929

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 11.

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einzelnen Gliedern der Reformation sich auf- und angeschlossen, kaum
hundert Jahre später solche Drangsale hätte ertragen können, wie
es sie vielfach gerade um seiner religiösen Stellung willen hat ertragen
müssen, muß uns da zu denken geben. Es lassen aber auch Einzel-
Nachrichten über evangelisches Volks-Bewußtsein in den dreißigjährigen
Kriegsnöten, wie sie z. B. in einem alten Kirchenbuch von
Markoldendorf sich finden (Zeitschr. für niedersächsische Kirchen-
geschichte I 245ff.), sich in größerer Anzahl beibringen, als Einzel-
Nachrichten aus dem 16. Jahrhundert. Ganz abgesehen davon, daß
die um hundert Jahre verminderte zeitliche Entfernung schon etwas
ausmacht, und daß Nachrichten aus der Reformationszeit vielfach im
dreißigjährigen Kriege vernichtet sind, werden derartige Aufzeichnungen
in Verbindung mit Krieg und kriegerischen Unruhen eher
niedergeschrieben, als Nachrichten über Bewegungen vorwiegend geistiger
Art. Möge denn Brennekes bedeutsames Buch, wie es uns ausgezeichnete
Resultate der Forschung vermittelt, zugleich auch zu
neuer Forschung nicht nur im großen, sondern auch im kleinen
und kleinsten anregen. Auch jedes Sternchen hat im Gesamtbau seine
Bedeutung!

Wir lesen die Reformationsgeschichte mit besonderen
Augen. Und deshalb ist es für uns keine lediglich
historische Frage, wie im einzelnen die Ausbreitung der
Reformation sich vollzogen hat. Ist das Volk wirklich
mehr in die Reformation hineingezwungen, so müßte uns
das befürchten lassen, daß es sich auch wieder herauszwingen
lassen könnte. Können uns derartige Gedanken
bei der Darstellung des allgemeinen Ganges der Geschichte
der Reformation im Calenbergschen die Herzen
beschweren, so hat etwas Erhebendes der Blick auf „die
Zentralstelle des Territoriums", bei der, wie Brenneke
II 403 sagt, „die religiöse Idee und der religiöse Eifer
zunächst fast allein gewesen, und die sich lange vergeblich
gemüht hat, dem Lande das Heil auch innerlich
zu geben": der Blick auf die Herzogin Elisabeth von
Münden.

Wir sind dem Herrn Verfasser ganz besonders dankbar, daß er
sich auch hier nicht mit dem Notwendigsten begnügt und einfach
den Anteil der Herzogin an der Reformation Calenbergs dargestellt
hat, daß er vielmehr fast ihr Leben uns vor Augen führt. Er ist
damit aber auch nicht über seine Aufgabe hinausgegangen. Daß
Elisabeth für die Reformation sich einsetzt, ist nicht in erster Linie
ein politisches, sondern ein rein persönliches Interesse. So gewinnt
der Leser ein Anrecht darauf, diese einzigartige Persönlichkeit über
den Rahmen ihres reformatorischen Wirkens in Calenberg hinaus
kennen zu lernen; nur so vermag er sie voll zu würdigen. Wir sehen
sie zuerst an der Seite ihres ersten Gemahls; dann im Kampf um
dessen Testament darauf auf der Höhe ihres Lebens und ihres Wirkens
als Reformatorin des Landes; endlich wird sie uns aber auch
gezeigt in ihrer zweiten Ehe mit dem Grafen Poppo von Henneberg
und an ihrem Lebensabend. Wir wußten schon, daß Elisabeth schon als
ganz junge Frau — wir vergessen leicht, daß sie bei ihrer Verheiratung
im Jahre 1525 erst fünfzehn Jahre zählte — eine ungewöhnliche
Energie und Selbständigkeit bewies und trotz der altgläubigen
Gesinnung Erichs 1. schon früh sich für den evangelischen Glauben
entschied; wir wußten auch, daß sie dann manche Vergünstigung der
Evangelischen ihrem Gemahl abzwang. Wir wußten aber noch nicht,
daß dabei ein ärgerlicher Ehehandel ihres Gemahls ihr zu Hilfe kam,
der sie tief genug geschmerzt, den sie aber zugleich mit diplomatischem
Geschick auszunutzen wußte. Dabei gewinnt auch Erichs I.
Persönlichkeit manche neue Züge; er galt bisher als müder Greis, dem
für die religiöse Frage sowohl das Interesse wie das Verständnis
fehlte, und der am liebsten die Dinge gehen ließ, wie sie gehen
wollten (vgl. noch Heinemann II 310); er ist aber gar nicht solche
lässige Persönlichkeit gewesen, hat vielmehr innerlich wohl genug
gelitten, nur mußte er vielfach leiden, was er durch mancherlei
Schwäche selbst verschuldet hatte. Die Vormundschaft für ihren
minderjährigen Sohn Erich II. erringt Elisabeth sich im Kampf um
das Testament ihres Eheherrn; ihre Energie und Selbständigkeit
wächst. Die ganze Bedeutung des Testaments Erichs I. hat dabei
Brennekes Buch erst herausgestellt. Und dann Elisabeths reformatorisches
Wirken. Gerade hier war manches schon vorgearbeitet, und
längst trug die Fürstin den Namen der Reformatorin Calenbergs.
Aber welche Schwierigkeiten sie hat überwinden müssen, wie sie
durch die verschlungenen Pfade der Politik sich hat hindurchretten
müssen, wie sie hin- und hergerissen ist zwischen den Listen ihres
Vetters Heinrich von Braunschweig und den nicht immer selbstlosen
Ratschlägen ihres Beraters Philipp von Hessen, das hat erst die
Sprache der von Brenneke neu erschlossenen Akten und Urkunden
offenbart; mit immer wach gehaltener Spannung folgt man den auch
in manchen kleinen und kleinsten Zügen klar gelegten Intriguen und
Verhandlungen. Und so sehen wir zuletzt auch die in ihrer zweiten
Ehe enttäuschte Frau, die um ihre eigene fürstliche Existenz und

| um das Erbe ihrer Töchter ringt und dabei unter schwerer Krankheit
j leidet, und vor allem die ins Herz getroffene Mutter des entarteten
! Sohnes. In sorgfältigster Forschung wird sie uns dargestellt mit
; allen ihren Schwächen: „die Gloriole ist verschwunden" (I, S. XI);
aber aus den entstellenden Schwächen heraus hebt sich immer wieder
das Bild einer edlen und frommen, echt christlichen Persönlichkeit;
und, worauf es hier vor allem uns ankommt, aus allen schädigenden
i Einflüssen politischer und dynastischer Interessen immer wieder der
sichere Eindruck, ja die Gewißheit, daß ihr Erstes und Wichtigstes
der religiöse Gedanke, der Sieg des Evangeliums gewesen ist. In
den letzten Jahrzehnten geschehene Veröffentlichungen, auf die wir
schon hinwiesen: Briefe in der „Zeitschrift für niedersächsische Kirchengeschichte
" X 231 ff. XI 89 ff. u. ö. und Tschackerts Arbeiten
I über Elisabeth (neben seinen Veröffentlichungen zu Corvins 400. Geburtstage
namentlich die 1899 herausgekommene Neuausgabe des
„Unterrichts") haben das Bild der Fürstin immer mehr geklärt; dennoch
sagt Karl Brandi (Die deutsche Reformation, S. 285) im Hinblick
auf unser Buch mit Recht, daß wir Elisabeths „überragende
Persönlichkeit erst neuerdings genauer kennen". Im Vorwort lesen
wir zwischen den Zeilen, daß der Herr Verfasser die mit dem Buche
gegebene Untersuchung zur Beurteilung der edlen Fürstin mit ganz
besonderer Liebe angestellt und mit besonderer Befriedigung durchgeführt
hat; und für alle, die über den nächsten Inhalt des Buches
hinaussehen, sind die Nachrichten über Elisabeth ganz gewiß auch
| dessen schönstes Ergebnis; die ganze evangelische Christenheit muß
für diese wahrheitsgetreue Darstellung dankbar sein, die von der
siegenden Kraft des Evangeliums Zeugnis gibt.

Es sind gerade hundert Jahre, daß Johann Karl
Fürchtegott Schlegels „Kirchen- und Reformationsge-
schichte von Norddeutschland und den Hannoverschen
Staaten" ausging, der erste Versuch einer Gesamt-Dar-
stellung hannoverscher Reformations- und Kirchengeschichte
; rund ein halbes Jahrhundert ist es, daß Uhlhorn
seine „Hannoversche Kirchengeschichte" in ihrem
ersten Entwurf in der 1. Auflage der Real-Encyklopädie
j veröffentlichte. So bedeutet Brennekes ausgezeichnetes
. Buch auch gerade eine Jubiläumsgabe in der hannoverschen
Kirchengeschichtsschreibung. Möge es ihr neue
I Freunde gewinnen und zu neuer Forschung anregen,
möge es vor allen Dingen gerade in dieser ernsten Zeit
das evangelische Bewußtsein stärken! Der nächste
Zweck des Buches, der es hat entstehen lassen, wird
darüber nicht zu kurz kommen.

Ilfeld a. Harz. Ferdinand Gohrs.

1. Schrempf, Christoph: SöTen Kierkegaard. Eine Biographie.
Bd. 2. (1. u, 2. Tsd.) Jena: E. Diederichs 1928. (III, 344 S.) gr. 8°.

RM 7.50; geb. 10-.

2. Voigt, Friedr. Adolf: Sören Kierkegaard im Kampfe mit
der Romantik, der Theologie und der Kirche. Zur Selbst-
prüfung unserer Gegenwart empfohlen. Berlin: Furche-Verlag 1928.
(426 S.) gr. 8°. RM 10—; Lwd. 12—.

1. Die Art von Schrempf s Biographie habe ich Th.
L. Z. 1927 Sp. 548 f. (Nr. 23), so gut ichs vermochte,
gekennzeichnet, als ich den ersten Band besprach. Der
zweite Band trägt ganz das Bild des ersten, und ich
j könnte mich nur wiederholen. Daß dieser Prozeß gegen
Kierkegaard von Schrempf auf grund genauer Kennt-
I nis der Akten geführt wird, wird niemand leugnen;
! ebensowenig, daß Schrempf so wie sich's gebührt seine
j eigne Person ganz einsetzt. Aber bei der Verschiedenheit
der Lebensbewegungen beider Männer und der
Verschiedenheit der Art und Weise, in der sie subjek-
j tive Denker sind (siehe über beides die frühere Be-
j sprechung), kann eben auch im zweiten Bande, beim
! letzten entscheidenden Worte, nichts herauskommen, als
I daß beide einander mißbilligen und jeder ihren Weg
gehen müssen. Das unglaublich Schiefe der Lage, in
die sich Schrempf hineinmanövriert hat, besteht dabei
darin, daß er je länger er redet desto deutlicher verrät,
daß er dem Manne und der Sache, über die er redet
j und denen gegenüber er namens des gesunden Men-
I schenverstandes einen Sieg nach dem andern zu er-
i ringen glaubt, einfach nicht gewachsen ist.

Warum ist er ihnen nicht gewachsen? Weil er nicht
I nur christlich, sondern auch religiös den Bankrott anzu-
| melden gezwungen ist und weil er aus seiner früheren
i besseren Zeit nicht genug Erinnerungen mehr hat, um