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Ausgabe:

1929 Nr. 10

Spalte:

232-234

Autor/Hrsg.:

Rittelmeyer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner 1929

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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231

Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 10.

232

Der „Erste Teil" (S. 5—53) behandelt in 3 Kapiteln
„Solger und den Geist seiner Zeit". Das II. Kapitel
(„Die Romantik und die philosophische Problemlage
") ist besonders lehrreich. Der „Zweite Teil" (S.
54—212) behandelt in 9 Kapiteln „Solgers Philosophie
": Philosophie (Das Wahre), Ethik (Das Gute,
Ästhetik (Das Schöne), Religion (Das Göttliche).

Das Buch Hellers hätte m. Er. an Geschlossenheit
und Eindringlichkeit gewonnen, wenn die Partien von
S. 54—120 über das philosophische Erkennen, das
Naturerkennen und das sittliche Handeln weniger ausführlich
, aber dafür etwas übersichtlicher ausgefallen
wären. Die Häufung von Zitaten erschwert das Verständnis
dieser sehr abstrakten, nicht allzu ergiebigen
Gedankengänge. Dagegen hat es Heller verstanden,
das schlechthin organisierende Prinzip des Solgerschen
Denkens, seine entscheidende und alldurchdringende metaphysische
Intuition der „ironischen Dialek-
t i k" klar und energisch herauszuarbeiten.

Im Zeitalter der „dialektischen Theologie" kann
man bei Solger in hervorragendem Maße lernen, was
eigentlich „Dialektik" ist. „Dialektisch" ist die Einheit,
die nur i m Gegensätzlichen Einheit, und „Dialektisch"
ist das Gegensätzliche, das nur i n der Einheit gegensätzlich
ist. Wo die Ineinsbringung von Einssein
und Gegensätzlichsein fehlt, da ist das Prinzip der
„Dialektik" zerstört. Es ist daher außerordentlich schwer,
wenn nicht unmöglich, das Prinzip der Dialektik begrifflich
auszudrücken. Denn der Begriff fixiert, spaltet
ab, isoliert. Er hat die natürliche Tendenz, das Dialektische
, das immer nur im Vollzug, nie als Vollzogenes
ist, aufzuheben, zu unterbinden. Verwandt mit dem Prinzip
der Dialektik ist die „Antinomie". Die Antinomie ist
dem Begriff zugänglich. Aber ihre Gefahr ist der absolute
Dualismus zweier sich gegenseitig schlechthin aufhebender
Gedankenreihen. Das „dialektische" Denken
ist der immer nur annäherungsweise gelingende Versuch
, den antinomischen Dualismus in einen Vollzug des
Geschehens zu stellen, das einen Einheitspunkt im Gegensätzlichen
ahnen läßt, ohne ihn begrifflich je zu
erreichen. Die „unio mystica" ist der dem Theologen
am ehesten und verständlichsten sich darbietende Einheitspunkt
in einem Vollzug des gott-menschlichen Geschehens
, dessen noch so stark betonte Gegensätzlichkeiten
(Kreatürlichkeit, Sünde) einen letzten Einheitspunkt
(und wenn er auch nur der Mensch ist, so wie
Gott ihn „gewollt"!) nicht zu tilgen vermögen. Ohne
einen solchen Einheitspunkt (der also über die Antinomie
„dialektisch" hinausführt) wären weder Schöpfung
, noch Offenbarung, noch Erlösung überhaupt sinnvolle
Begriffe. Aus dieser einfachen Überlegung erhellt
auch für den Theologen die unabweisbare Pflicht, dem
Problem der Dialektik (über das soeben Arthur Liebert
ein stattliches Werk hat erscheinen lassen) erhöhte
Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich nicht in der trügerischen
Meinung zu wiegen, derlei Dinge gingen nur
den „Philosophen", aber nicht den „Theologen" an.

Wir exemplifizieren an Solger:
„Halten wir uns ... in der Sphäre der Beziehungen oder der
bloßen Existenz, so wird uns diese nie genügen, und wir werden ihr
gegenüber (1) eine Welt der unmittelbaren Wahrheit denken müssen.
Den relativen, unvollständigen, nur durch ihren Zusammenhang untereinander
bestehenden Tatsachen der einen, die sich nur nach allgemeinen
leeren Regeln und Formen denken lassen, wird sich entgegensetzen (!)
eine ewige Wahrheit, die nur als solche ihre eigene Tatsache ist.
Weisheit aber wird es sein zu erkennen, das beide Welten dieselbe
(!) sind" (Nachgel. Schriften II, 110).

In diesen Äußerungen, bemerkt Heller, ist „bereits
in nuce das Hauptmotiv der Solgerschen Philosophie
und ihrer Dialektik ausgesprochen" (S. 67). Es kommt
nun überhaupt im Grunde nur darauf an, wie die Einheit
und Gegensätzlichkeit von Gott (ewige Wahrheit, Idee)
und Welt (Existenz, Dasein) zu verstehen ist. Sie ist
„ironisch" zu verstehen. Und das meint Solger nicht
in dem Sinn, in dem wir das Wort „ironisch" (mit dem
starken Beisatz des Spöttischen, ja Verächtlichen) gebrauchen
. Ironisch ist für ihn vielmehr gleichbedeutend
mit „tragisch" (S. 134 f. 170f. 173 f.). Tragisch
| aber ist das dem Untergang Geweihte, wobei der Nachdruck
sowohl auf ,Untergang' wie auf ,Geweiht' liegt.
Geweiht ist das Untergehende deswegen, weil es im Untergehen
nicht der Sinnlosigkeit oder absoluten Aus-
i löschung verfällt. Geweiht ist es, weil es von Gott her
i (vermittels seiner Offenbarung) existent wurde (wenn
[ es auch nicht existent bleibt); und geweiht bleibt es,
j weil es nur durch die Vernichtung seiner Existenz als
j eines Existierenden (durch Negation seines realen Nicht-
: Gott-Seins, d. h. Nichtseins) in Gott zurückgeht, theologisch
gesprochen: Gott die Ehre gibt. Daß Gott geehrt
wird durch die Setzung der Existenz, die in ihrem
; von Ihm Gesetztsein unter der Gnade steht; und
| daß Gott geehrt wird durch die Vernichtung der Existenz
, die durch ihr von Ihm Aufgehobensein unter
dem Gericht steht, — dieses unter der Gnade- und
j unter dem Gericht-, dieses unter dem Ja- und unter dem
Neinstehen ist das schlechthin Tragische, d. h. Ironi-
, sehe der Existenz.

Ich habe versucht, die Sprache Solgers und Hellers
(„daß die Idee erst dann im höchsten Sinne wirklich
wird, wenn ihre Unendlichkeit ihre eigene Zeitwirklich-
I keit vernichtet und verschlingt", S. 134f.) in eine dem
, Theologen geläufigere zu übertragen, damit der alles
j bewegende Grundgedanke klar werde. Man wird auch
i nunmehr ohne weiteres innewerden, wo die Schwäche
j der „ironischen Dialektik" Solgers liegt. Sie unterschlägt
, keineswegs die Erhabenheit Gottes. Sie unterschlägt
| auch keineswegs die Zweideutigkeit der untergangbedrohten
und selbst in ihrer Herrlichkeit überaus frag-
I würdigen „Existenz". Nicht nur Kierkegaard war „exi-
stentieller Denker" (wenn er es überhaupt gewesen
ist). Solger war es auch, und daß es Hegel nicht ge-
I wesen sei, ist gedankenlose Nachrede. Aber jene „iro-
' nische Dialektik" — und das ist unsere systematische
' Einrede — ist ein absolutes Fatum, ist eine absolute
i Notwendigkeit, ist ein unentrinnbares „Muß" für Gott
! und den Menschen. Sie ist ein schicksalhaft abrollender
j Prozeß. Sie läßt weder der Freiheit Gottes noch der
Freiheit des Menschen Raum. Nicht in der Existenz
j schlechthin, sondern in der Freiheit Gottes und des
existierenden Menschen liegt jenes Problem beschlossen,
das der „Spätidealismus" (der ältere Schelling, [. H.
Fichte, Chr. Herrn. Weisse) in bewußter Gegenwendung
gegen den Idealismus Hegels (und Solgers) zum
Zentralproblem einer neuen Epoche des philosophischen
und theologischen Denkens erhoben hat.

Von hohem Reiz ist es, wie Heller es versteht,
! Solgers Prinzip der „ironischen Dialektik" von der
| „Ironie" Friedrich Schlegels abzugrenzen (S. 48 ff. 173)
j und die charakteristischen Differenzen zwischen Solger
und Hegel (die einander sehr hochschätzten) herauszu-
I arbeiten (S. 197 ff. 210 f.). Auch was Solger über das
I „Symbol" (S. 141 ff.) und über das „Böse" (S. 184 ff.)
| sagt, ist beachtenswert. Doch können die Stellen hier
, nur angemerkt werden.

Hamburg. Kurt Leese.

R ittel mey er, Friedrich: Meine Lebensbegegnung mit Rudolf
Steiner. Stuttgart: Verlag der Christengemeinschaft 1928. (159 S.
m. e. Titelbild.) 8°. RM 5-,

Es wird kaum Leser geben, die dies Bekenntnisbuch
nicht ergriffen und nachdenklich aus der Hand legten.

Prüft man es mit kritischen Blicken, was gewiß im
Sinne R.s selbst ist, wird man zwar zunächst bedauern,
' daß den Schilderungen und Gesprächswiedergaben keine
gleichzeitigen Tagebucheintragungen zu Grunde liegen
(S. 5 f.), aber nichts destoweniger geneigt sein, dem Verf.
nicht nur volle subjektive, sondern auch in allen wesentlichen
Punkten objektive Glaubwürdigkeit zuzubilligen,
zumal es sich hier nicht um eine Wiedergabe Steiner-
i scher Lehren, sondern um eine Darstellung all dessen
| handelt, was R. an St. und unter seiner geistigen Füh-