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Ausgabe:

1929 Nr. 10

Spalte:

230-232

Autor/Hrsg.:

Heller, Josef

Titel/Untertitel:

Solgers Philosophie der ironischen Dialektik 1929

Rezensent:

Leese, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1929 Nr. 10.

230

Gewissen zu drücken, die polemische Kraft des Christentums
uns gerade dadurch eindringlich zu machen,
daß sie die Gnade der Vergebung als Grund und
Ziel ihrer Darlegungen niemals vergessen. Aber
auch bei dieser Analvse verliert Geismar niemals die
Fragen aus dem Auge, die die Entwicklung von Kierkegaards
Denken zum letzten Kampf hin betreffen: Wie
sind die Gnade und die Strenge in ihrem Verhältnis
von Kierkegaard verstanden? Wie konnte er von seinem
Ja zur Gnade her der unerbittlich strenge Verkünder des
Gerichts werden, als der er sich uns in seinem letzten
Kampfe zeigt?

Der sechste Teil braucht nun — abgesehen von
der mit vielem bei uns in Deutschland schwer zugänglichen
dänischen Material arbeitenden genauen Nachzeichnung
des äußeren und inneren Hergangs, die natürlich
den meisten Raum einnimmt — im Wesentlichen
nur die Folgerungen auszuziehen, die sich aus dem in
den früheren Teilen Gesagten ergeben und bedarf insofern
keines gesonderten Berichts. Der wichtigste Abschnitt
sonst ist wohl der über „Kierkegaard's prophetisches
Bewußtsein". Hier stellt Geismar seine entscheidenden
Fragen an Kierkegaard: 1. „Ist die Einheit
von Reflexion und Offenbarung, um die
sich Kierkegaard's innerste Gedanken gedreht
haben, möglich?" (VI 29). Der Sinn
dieser Frage erhellt aus dem in dem vierten Teil geschilderten
Ringen Kierkegaards, sein eignes Verhältnis
zum Märtyrerpropheten recht zu bestimmen. Nur wenn
in einer wesentlich reflektierenden Dichter- und Denkerexistenz
sich — über die jedem zugängliche, mit der
Unsicherheit durch die Vergebung geeinte religiöse Ursprünglichkeit
hinaus — unmittelbar ihrer selbst gewisse
prophetische Vollmacht gewinnen läßt, nur dann ist
Kierkegaard in seinem letzten Angriff auf die Christenheit
nicht unwahr gegen sich selbst geworden. Und eine
eigne Beleuchtung empfängt die Frage durch die Beobachtung
, daß Kierkegaard seinen prophetischen Angriff
mit den Mitteln polemischer Reflexion und raffinierter
journalistischer Kunst geführt hat, was ein
Widerspruch in sich selber ist. 2. Hat Kierkegaard
nicht in seinem letzten Angriff von dem qualitativen
Gegensatz zwischen Gott und Mensch einen Gebrauch
gemacht, der die Religiosität A, statt sie in ihrem
Spannungsverhältnis zur Religiosität B zu erhalten, vernichtet
? Die Antwort Geismar's auf diese beiden Fragen
gebe ich mit seinen eignen Worten:

a) VI 33: „Es ist nun einmal für uns Menschen nicht möglich,
aus der Bibel eine objektive Lehre zu konstruieren, in welcher wir die
ganze objektive Wahrheit haben, unter die wir uns lediglich in Gehorsam
zu beugen haben. Wir können nämlich es nicht lassen, unmittelbar beim
Verstehen etwas hinzuzufügen, nämlich das Verständnis selbst; und. iu
dem spielen Reflexionen, die von der Religiosität A her den Ausgangspunkt
nehmen, eine bedeutende Rolle. Es ist darum schlechterdings u u m ö g I i c Ii
zu einem andern Verhältnis zwischen Religion Offenbarung und Christentum
zu kommen als dem, das bezeichnet ist durch die Verantwortung
des einzelnen, die innere Ungewißheit und die Vergebung der Sünden."

b) VI 37 f.: „. . . so bleiben nur negative Bestimmungen des Übernatürlichen
übrig. Das geschieht mit einer gewissen logischen Notwendigkeit
und wird auch ausdrücklich von Kierkegaard selbst sanktioniert
, der an einigen höchst auffallenden Stellen der Tagebücher des
letzten Jahrs die äußersten Folgen aus dieser Logik zieht, gemäß denen
nur das Inhaltlose über das Göttliche ausgesagt werden kann. . . Hätte
Kierkegaard nicht dennoch bis zuletzt die Gewißheit der ewigen Liebe
Gottes festgehalten, so wäre er iu den Hafen des Buddhismus eingelaufen
!'

Kürzer als in dem zweiten Worte läßt sich der
Zwiespalt, in den die Auffassung der christlichen Offenbarung
durch den Kirchenstürmer Kierkegaard auseinanderzubrechen
droht, kaum zusammenfassen. Und in
dem ersten Worte (das in seiner besondern Fassung dadurch
bedingt ist, daß Kierkegaard als Prophet „mit
dem neuen Testament in der Hand" aufgetreten ist)
Geismar's tritt anschaulich heraus, daß Kierkegaard,
indem er alle die Sache wie die Person (die Gnade wie
die Vollmacht) betreffenden Bedenken über Bord

warf, um Kirchenstürmer zu werden, in der Tat die
Grenzen seiner eignen Frömmigkeit und Theologie in
einer Rücksicht durchbrochen hat. Beiden Urteilen
stimme ich zu; nur hinsichtlich der Überschreitung
würde ich doch noch eine andere Seite hervorheben, zu
i der in Geismars Darstellung alle Elemente reichlich
! liegen (— der letzte persönliche Durchbruch vom Fe-
[ bruar 1853, den er gegen Heiberg am Ende des vierten
Teils herausarbeitet, bedeutet doch gerade nach ihm das
j Gewinnen der inneren Voraussetzungen für die entscheidende
Tat—), die aber in diesem Zusammenhange von
ihm nicht noch einmal eigens reflektiert wird. In gewisser
Weise ist es auch die Vollendung der Frömmigkeit
1 Kierkegaards, daß er die Tat des Kirchensturms ge-
1 wagt hat. Er hat endlich das getan, wozu ihm in der
' Verlobung und bei allen späteren Gelegenheiten der
Mut gebrach: er hat im Glauben den Freimut zum
Handeln gefunden. Darum hat der Kirchensturm für ihn
auch die Seligkeit der persönlichen Vollendung bringen
können. Dieser Widerspruch, daß die gleiche Tat
Kierkegaards eigner religiöser Grundhaltung und Einsicht
nicht voll gemäß und dennoch die Vollendung
seiner Geschichte mit Gott ist, ist die Grenze aller Analyse
des Lebens und Denkens dieses Mannes, weil es
die Grenze dieses Lebens und Denkens als eines individuellen
selber ist. Der verstorbene Kierkegaardforscher
1 Heiberg brauchte für die Spätentwicklung das Wort
j „Heilungsgeschichte". Der Christ wird auf grund dieser
' Beobachtungen gewiß nicht nein sagen; aber er wird
j finden, daß diese „Heilung" durch Gott ganz unter dem
Worte bleibt: „Meine Kraft ist in der Schwachheit
! mächtig." In dieser wenn man will „labilen", sicherlich
aber zwei entgegengesetzte Urteile innerlich zu vereinen
suchenden letzten Stellung treffe ich mich wieder ganz
mit Geismar. Denn eben daß er ein ganzes großes Werk
über Kierkegaard zu schreiben gewagt hat von einem
Standort aus, der auf eine Schlußformel verzichtet und
die Kraft und die Schwachheit, die Wahrheit und die
Unwahrheit in ihrer untrennlichen Vereinigung zu eine
m Leben, einem Denken herausarbeitet, eben dies
ist das Entscheidende an Geismar's Kierkegaarddeutung.
OÖttitigeil. E. Hirsch.

Heller, Josef: Solgers Philosophie der ironischen Dialektik.

Ein Beitr. z. Geschichte d. romant. D. spekulativ-idealist. Philosophie.
Berlin: Reuther & Reichard 1928. (VIII, 212 S.) gr. 8°. RM 6 .
Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1718 1819) war ein
„Philosoph mit einer ureigenen schöpferischen metaphysischen
Intuition, mit einer tief in seiner Individualttat
wurzelnden lebendigen Beziehung zu der Seinstotalität
und zu den letzten Fragen des Geistes, und aus dieser

' inneren Beziehung erwuchs ihm eine eigentümliche philosophische
Gedankenwelt, die in ihren Hauptmotiven

! von hoher, nicht nur historischer, Bedeutsamkeit ist"

I (S. 3). Von ihm stammen: „Erwin, vier Gespräche
über das Schöne und die Kunst", 1815 (philosophisches
Haupt- und Lieblingswerk); „Philosophische Ge-

1 spräche", 1817; „Nachgelassene Schriften und Brief-

' Wechsel", herausg. von Ludwig Tieck und Friedrich
Raumer, 1826, zwei Bände; „Vorlesungen über Ästhe-

, tik", herausg. von K. W. R. Heyse, 1829. Gleichzeitig
mit Fichte und Hegel, zu dem er die nächsten gedanklichen
Beziehungen hat, dozierte er an der Berliner Uni-

1 versität von 1811 —1819. Auf seine spekulativen Ideen
sind früher eingegangen Carl Ludw. Michelet (1838),
Joh. Ed. Erdmann (1853) und Ed. Zeller (1875).
Neuerdings sind dem von den Philosophiehistorikern
sehr stiefmütterlich behandelten Solger Monographien
gewidmet von Helmut Burgert (Freiburger Diss., 1921),
Karl Eckermann (Kölner Diss., 1923) und Rud. Ode-
brecht (Geisteskultur, 1925). Ref. kennt diese Arbeiten
nicht, merkt aber an, daß Heller sie für unzureichend
bezw. zu einseitig hält. Heller selbst erweckt Zutrauen
durch die Umsicht, Gründlichkeit und Gediegenheit seiner
Darbietungen.