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Ausgabe:

1928 Nr. 6

Spalte:

136-139

Autor/Hrsg.:

Heiberg, A.

Titel/Untertitel:

Søren Kierkegaards Papirer. 10. Bd., 3. Abt 1928

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 6.

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Gudhbrandur — gehabt, der für Predigt, Jugendunterricht, Hausbesuche
, und strengste — am Anfang fast barbarische — Sittenzucht
sorgte. Aus dieser ganzen Arbeit ist dann im 17. Jahrhundert der
Segen erwachsen. Island erlebte in Geschichtsforschung und Dichtung
eine Hochblüte, die die besten Zeiten des Mittelalters überglänzt.
Die Krone der isländischen religiösen Literatur, und vielleicht der isländischen
Literatur überhaupt, sind dabei die fünfzig Passionslieder
des Hallgrimur Pjetursson (f 1674), eines Geistlichen, der
in seinen späteren Jahren aussätzig wurde und sich mit diesen
Liedern über sein Schicksal tröstete bei Gott. Sie haben dem isländischen
Volk das Evangelium erst ins Herz gesungen und haben mit
ihren Wendungen und Bildern die isländische Sprache stark bestimmt.

Einen Gegensatz zwischen Orthodoxie und Pietismus gibt es
natürlich nicht; nur darin, daß Island am Anfang des 18. Jahrhunderts
in Jon Vidalln, 1697—1720 B. von Skälholt, einen Er-
weckungsprediger, und seinen bedeutendsten Prediger überhaupt gehabt
hat, zeigt sich eine Erinnerung an die pietistischen Bewegungen
andrer Länder; seine Postille, 1718 erschienen, ist lange Zeit das
beliebteste Erbauungsbuch geblieben.

In der ersten Hälfte des 18. Jahrh.s droht dann der isländischen
Kirche die durch äußere Not und Trunksucht verursachte Abgrabung
der Quellen alles höheren Lebens verhängnisvoll zu werden; die
Trunksucht griff z. T. auf den — bei der allgemeinen Verarmung natürlich
durch Dahinschmelzen des kirchlichen Einkommens mit verarmenden
— Pfarrerstand über. In der gleichen Zeit fängt das
Kopenhagener Kirchenregiment an, kräftiger in Island wirksam zu
werden. Es hat 1741—45 durch Ludwig Harboc eine Kirchenvisitation
in Island vornehmen lassen, welche eine erschreckende Notlage der
Kirche besonders im Norden offenbarte — und einige strenge Verordnungen
zeitigte. Zu rühmen ist allein der große Verstand, mit dein
man die besten Männer Islands zu Bischöfen machte, darunter Finnin
Jönsson (Finnus Johannaeus), 1754—89 B. von Skälholt, den gelehrten
Verfasser der Historia Ecclesiastica Isiandlae, in vier Bänden
Havniae 1772—78 erschienen, und Oisli MagnmssOB, 1755—79 B. von
Hölar, der durch große Sammlungen im Norden und persönliche
Opfer an Kraft und Geld das verödende Bistum Hölar und seine
Kirche von neuem aufzubauen unternahm und seinen Bestand für
ein kleines Menschenalter rettete. Die wirtschaftliche Katastrophe ließ
sich doch nicht aufhalten. Hölar wurde 1802 mit dem auf grund legi.
Verordnung von 1785 nach Reykjavik verlegten Skälholter Bistum vereinigt
.

Trotz der Notlage hat Island sich sein geistiges (weniger sein
religiöses) Leben bewahrt und ist am Ende des 18. Jahrh.s auf die
Aufklärungsbewegung in ihrer kirchlich-behutsamen Gestalt gern und
leicht eingegangen. B. Hannes Finnsson v. Skälholt-Revkjavik (1785
—96), der Sohn des Kirchenhistorikers, war Freund und Schwager
von Magnus S/e/änsson (Stephensen), dem ersten Isländer, den die
Dänen zum Stiftsamtmann über Island machten, dem Begründer der
„Isländischen Landesaufklärungsgesellschaft", gest. 1812. Stefänsson
ist der eigentliche Urheber des neuen isländischen Gesangbuchs von
1801 , das nun an die Stelle des Graduale von B. üiidhhrandur
(1594) trat, und mit Anlaß, daß im gleichen Jahre statt
Luther-Pontoppidan des aufgeklärten Dänen Balle Lehrbuch für den
kirchlichen Unterricht gedruckt wurde. Der Einspruch gegen diese
Bücher war erfolglos, da die einzige Druckpresse des Landes in den
offiziell-kirchlichen Händen war. Erst 1871 hat Island ein neues
Gesangbuch, 1876 eine neue Kinderlehre — von Helgi Halfdünnarson
— bekommen. Aber an diesem Einspruch bildete sich ein gewisser
Gegensatz von aufgeklärtem und neupietistischem Christentum aus;
der religiösen Einspruch erhebende Geistliche Jon Jdnsson wurde der
Stifter der mit England in Verbindung stehenden „Isländischen Evangelischen
Traktatgesellschaft" (1816). Im gleichen Jahre wurde, aus
den Anregungen des Engländers E. Hcnderson, auch die Isländische
Bibelgesellschaft, in enger Verbindung mit der britischen stehend, gegründet
; und ihr weigerte auch der aufgeklärte B. Ocir Vidal'm seine
Teilnahme nicht. Eine weitere Verbesserung der isländischen Bildung
brachte dann die — an die Stelle der alten, mit den alten Bistümern
zugleich verfallenen Domschulen tretende — Lateinschule von Bessa-
stadlür (1805 gegr.), mit einer theologischen Selckta, auf Grund
einer königlichen Verordnung von 1841 dann 1846 nach Reykjavik
verlegt, wobei die theologische Selckta abgetrennt und zur eigenen
theologischen Lehranstalt ausgebaut wurde (1847). Erster Vorstand
dieser Lehranstalt ist Pjctur Pjeturson gewesen, der (Havniae 1841)
die Historia Ecclesiastica Islandiae des Johannaeus von 1740 bis 1840
fortgesetzt hatte und 1866—89 zum Bischof aufstieg. 1911, bei der
Errichtung der Universität in Reykjavik, ist diese Lehranstalt zur
theologischen Fakultät geworden.

Im übrigen spiegelt dann die Oeschichte des 19. Jahrh.s die
allgemeinen Tendenzen der Zeit wieder. Zweimal kam es zu neuen
Agenden (1869 u. 1910), zweimal zu neuen Gesangbüchern (1871
und 1886). 1908 lag im Probedruck eine aus dem Grundtext neu
übersetzte Bibel vor; nachdem die Torheit, den Namen Jahwe beizubehalten
, beseitigt war, wurde sie in den kirchlichen Gebrauch
überführt. 1880, 1886 und 1907 sind die grundlegenden Kirchenverfassungsgesetze
ergangen, nach denen nun das Schicksal der
Kirche ganz in den Händen der Gemeinden liegt; auch das dänische
Gesetz über die Aufhebung des Parochialzwanges ist zwischen 1880
l und 1886 nachgeahmt worden, ohne jedoch, bei dem Mangel tief-
I gehender Gegensätze, praktische Bedeutung bekommen zu haben,
i Für die Energie der isländischen Kirche spricht, daß sie ihre Aus-
I wanderer nach Nordamerika nicht vergessen und sie (1885) in einer
„Isländischen Ev.-Luth. Kirchengemeinschaft" gesammelt hat. Die
] Geistlichen werden vom Staat bezahlt; er hat die zureichende Besoldung
(1907 und 1919) durch Zusammenlegung der Pfarreien auf
106 (mit 299 Kirchen) möglich gemacht.

Theologisch haben im Island des 19. Jahrh.s wohl Mynstcr und
I dann vor allem Martensen den stärksten Einfluß gehabt. Für ihren
| bedeutendsten theologischen Lehrer des 19. Jahrh.s halten die Is-
I länder Helgi Halfdünnarson (1867—f 1894 an der theol. Lehranstalt
); von ihm stammt die gegenwärtige Einrichtung des Lehr-
I betriebs; seiner theologischen Haltung nach gehört er zur lutherischen
Orthodoxie. Der erste Mann, der überhaupt ein kirchlich nicht
korrektes Buch (eine Bestreitung der Echtheit des Johannesevangeliums
) auf isländisch hat drucken lassen, ist Magnus Eirikson (f 1881),
ein in Dänemark lebender isländischer Theologe von ziemlich radikaler
I Prägung gewesen.

So ist nun auch für Island die kritische Obergangszeil von einer
kirchlich gebundenen zu einer wesentlich weltlichen Kultur gekommen
; die Schwäche der Kirche liegt im Fehlen lebendiger Gemeinden
. Von Missionsunternehmungen und Diakonissenwesen ist
I nichts berichtet. Kirchliche Jugendvereine werden als eben erst im
j Werden bezeichnet. Seit 1910 gibt es zur Vermeidung der Notwen-
, digkeit, daß der neue Bischof die Ordination aus Dänemark sich hole,
I zwei Ordinationsbischöfe (Geistliche mit bischöflicher Ordination
ohne bischöfliches Amt), — höchst wunderlich, da ja eine apostolische
Sukzession nicht besteht.

Seit 1849 besteht in Island Religionsfreiheit; seit 1859 gibts
eine katholische Mission. Heute besitzt die katholische Kirche eine
Kapelle in Reykjavik und zählt — etwa 50 Seelen (hei einer Gesamt-
hcvölkerung von rund 95 000).

Göttingen. E. Hirsch.

Soren Kierkegaards Papirer. Udgivne af P. A. Heiberg, V. Kühr
j og E. Torsting. Bd. X, 3: Journaloptegnelser Gruppe A: 1850,
18. IV. 1851, 22. I. Kopenhagen : Gvldendalske Boghandel Nordisk
Forlag 1927. (XXXV11I. 562 S.) gr. 8°.

Der neue Band der Ausgabe von Kierkegaards Tage-
| büchern beginnt mit einem Gedenkwort von V. Kühr an
den bisherigen Herausgeber, P. A. Helberg, der in-
j zwischen durch den Tod abgerufen worden ist. Man er-
i fährt daraus, daß die Hauptlast der ganzen Ausgabe auf
Heiberg's Schultern gelegen hat, daß aber die Beendigung
des Werks in seinem Sinne gesichert ist, da das
| Druckmanuskript zu sämtlichen noch fehlenden Bänden

— ich schätze, daß es ihrer noch mindestens fünf sind

— sich in seinem Nachlaß gefunden hat.

Uber die Art der Ausgabe habe ich in meiner Besprechung
ThLZ. 1926 Nr. 12 Sp. 313 ff. das Nötigste
gesagt. Es versteht sich von selbst, daß der neue Band
auf der Höhe der bisherigen steht. Nachzutragen ist
| vielleicht ein Wort über das Verhältnis zu den ent-
j sprechenden von H. Gottsched herausgegebenen Bänden
der Efterladte Papirer. Was die neue Ausgabe — auch
j abgesehen von der archivalischen Genauigkeit — mehr
bietet, ist doch recht erheblich. Gottsched hat nicht nur
j in der Mitteilung von Urteilen über andre Rücksichten
üben müssen, die heut nicht mehr bestehen. Er hat auch
l eine größere Anzahl von Aufzeichnungen, vor allem
solche, die wesentlich Lesefrüchte bieten oder anderweit
besser Gesagtes bloß wiederholen, weggelassen, auch
innerhalb der gebrachten Aufzeichnungen aber manches
aus diesen Rücksichten gestrichen (dies allerdings, soweit
meine Proben zeigen, nie, ohne die Lücken deutlich
zu markieren). So schonsam und gewissenhaft nun seine
Arbeit auch gewesen ist (das allgemeine Zeugnis, das
j der Vergleich mit der neuen Ausgabe dem einstigen
I deutschen Herausgeber gibt, ist glänzend), man kann
| doch das neu Gebotene für eine wissenschaftliche Analyse
Kierkegaards nicht entbehren. Man muß sich ja,
nach der in Heiberg's letztem Buche über Kierkegaard
eingeführten Methode, nun ganz genau klar machen,
j worum in den einzelnen Jahren Kierkegaards Gedanken
j immer wieder gekreist sind, und was er für sich selber
gelesen hat.