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Ausgabe:

1928 Nr. 5

Spalte:

107-108

Autor/Hrsg.:

Vigener, Fritz

Titel/Untertitel:

Drei Gestalten aus dem modernen Katholizismus: Möhler, Diepenbrock, Döllinger 1928

Rezensent:

Krüger, Gerhard

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107

Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 5.

los

legung zum fortwährenden Beziehungspunkt gewählt
hätte. D. h. die Herrn. Schi.'s wurzelt in seinem Begriff
der Religion; dieser wieder ist unlöslich verknüpft mit
den erkenntnistheoretischen Prinzipien. Die Herrn, selbst j
ist Mittelglied in dem Ganzen. Die Entscheidung über j
sie ist also gleichzeitig eine Entscheidung über die beiden
anderen Voraussetzungen. Dieses Ineinanderspiel j
kommt bei der Darstellung des Verfassers nicht in voller I
Wucht heraus. So bald aber dies geschieht, kann an der i
theologischen Frage nicht vorbei gegangen werden. Be- j
deutet die Überordnung der philosophisch begründeten
Herrn, über Philologie und Theologie nicht die unmögliche
Subsumtion der theologischen Exegese unter eine
an sich seiende Logik? Wird diese nicht gestützt durch
eine intuitionistische Erkenntnislehre, deren Ergebnis
Feuerbach zur Genüge ausgerechnet hat? Vor allem —
die Göttlichkeit des Wortes wird dem Wort Gottes
gleichgesetzt, das Verhältnis von Wort und Geist in ein
solches von Geistigkeit und Natur hinübergewandelt —
kurz die Herrn. Schi.'s stellt in engster Beziehung zu
seiner Religionsphilosophie. Dies sollte m. E. schärfer
zum Ausdruck gebracht werden. Das führt zu einer
zweiten Bemerkung weiter: Würde die Dogmengeschichte
, die der Verfasser gibt, nicht von selbst zur
Problemgeschichte, wenn er die reformatorische Auslegungskunst
eindringlicher gewürdigt hätte? Sie verdient
es mindestens in gleichem Grad wie die pietistische.
Die polemische Bemerkung über Karl Holl würde man
gerne entbehren, nicht ebenso aber ein grundlegendes Wort
über die reformatorische Anschauung von Wort und
Geist usf. Eine wirkliche Neubildung der Herrn, wie
ein Urteil über die Dogmengeschichte in der Herrn,
scheint mir in der reformatorischen Erkenntnis allein ,
möglich, wobei ich meinerseits nicht leugnen möchte,
daß der Philosoph neben dem Propheten für die erkenntnismäßige
Ausgestaltung seines Amtes durchaus zu walten
hat. Eins ist dabei klar, die Geisteshaltung Diltheys wird
für das Verhältnis zur Reformation nicht normgebentl
sein können, höchstens in dem einen, der feinen historischen
Analyse, nicht aber in der wissenschaftstheoretischen
Grundlegung.

Wie bei Schi, so würde auch die Darstellung bei
B o e c k h und Humboldt unter den obigen Gesichtspunkten
mehr Relief bekommen. Wir versagen uns an j
dieser Stelle ein breiteres Eingehen auf diese gewiß lehrreichen
weiteren Kapitel. Dem Verfasser gelingt es hier
besonders anschaulich den geistesgeschichtlichen Zusammenhang
der Theorie aufzuzeigen — die verschiedene
philosophische Haltung hier und dort, die Abwandlung
des Humanitätsgedankens, die Bewertung des geschichtlichen
Verstehens, die Hochschätzimg der Individualitätslehre
. Das alles ist für die Verstehenslehre so deutlich j
erhoben wie durchsichtig in die Geisteshaltung eingegliedert
und immer durch die bezugsreichen Anmerkungen
mit unseren gegenwärtigen Fragen verknüpft. Am
Ende des Ganzen sieht sich der Leser vor die doppelte
Frage gestellt: wie läßt sich eine Verstehenslehre gewinnen
, die wissenschaftstheoretisch eine ähnliche Mittelpunktsstellung
einnimmt wie die Schl.'s ohne die Unzulänglichkeit
seiner Grundlegung, wie eine Herrn., die
eine ebenso große Weitschaft besitzt wie die der Boeckh
und Humboldt ohne von dem Humanitätsgedanken beherrscht
zu sein? Wir möchten vorgreifend die umfassende
dogmengeschichtliche Vorarbeit des Verfassers
so verstehen, daß eine neue Verstehenstheorie ihre Grundlegung
nur gewinnen kann in einer Schi, und Dilthcy
überwindenden Religionsphilosophie und in einer neuen
Enzyklopädie der Wissenschaft.

Berlin. Th. Heckel.

Vigener, Fritz: Drei Gestalten aus dem modernen
Katholizismus: Möhler, Diepenbrock, Dölünger. München:
K. Oldenbourg 192o. (VII, 192 S.) gr. 8°. = Beiheft 7 der Historischen
Zeitschrift. RM 8.50.

Dieses Buch kann man nur mit schmerzlichen Empfindungen
aus der Hand legen. Es ist das Vermächtnis

eines Mannes, der uns noch viel zu sagen hatte. In seinem
tiefschürfenden Buch über Ketteier (vgl. diese
Zeitung 1924, Sp. 353) hatte Vigener das Muster
einer Biographie großen Stils geboten. Wie weit ihn
dabei seine Studien über den Gegenstand hinaus in die
Welt des wiedererwachenden Katholizismus hineingeführt
hatten, das konnte der Leser des schönen Buches
zwar aus dieser oder jener feinen Bemerkung oder
kurzen Abschweifung entnehmen, aber selbst die dem
Verfasser näher Stehenden werden, wenn sie die „drei
Gestalten aus dem modernen Katholizismus: Möhler,
Diepenbrock, Döllinger" in Vigeners Zeichnung vor
sich entstehen sehen, erstaunt sein, mit welch reifer
Kraft der Schwerleidende den in Jahren gesammelten
Stoff zu gestalten vermocht hat, bis ihm der Tod die
Feder aus der Hand nahm. Der Döllinger ist nicht
vollendet worden. — Bei der entscheidenden Krisis bricht
die Darstellung ab und ist doch kein Torso im gewöhnlichen
Sinn geblieben. Denn das herauszuarbeiten, woran
dem Verfasser vornehmlich gelegen war, „das Bodenständige
und massive Kirchlich-Katholische in dem früheren
Döllinger", dazu bot eben die Zeit bis 1871 die
Unterlage, sofern „die Betrachtung seines Lebens nicht
einfach unter die Gesichtspunkte gestellt werden darf,
die sich aus seinem Bruche mit der römisch-katholischen
Kirche ergeben".

Diese kirchlich-katholische Bodenständigkeit an seinen
„Gestalten"' herauszustellen, erscheint auch sonst
als das eigentliche Anliegen Vi gen ers, und ich meine,
daß er ihnen gerade damit gerechter geworden
ist, als wenn er den Finger ausschließlich auf die
Charakterzüge gelegt hätte, durch die sie sich alle, jeder
in seiner Weise, von denjenigen ihrer Genossen unterscheiden
, die wir als Ultramontane zu bezeichnen pflegen
, denn schließlich war ja Möhler nicht umsonst der
Lieblingsschüler Sailers, Diepenbrock der Vertraute
Friedrich Wilhelms und der junge Döllinger der Freund
Platens. Auf dem Hintergrund von Vigeners Zeichnung
erscheint der Geist von Möhlers Symbolik. Immer
wieder kehrt er zu diesem Buche zurück, das er gründlicher
studiert hat als die meisten, die darüber geredet
oder geschrieben haben, und dessen kontroversiale
Bedeutung ihm stärker und vielseitiger aufgegangen
ist als so manchem protestantischen Theologen. Von
gleich tiefem Eindringen zeugt die vorzügliche Charakteristik
der Reformationsgeschichte Döllingers, auch
eines Buches, von dem man mehr spricht, als daß man
es liest. Ich bin übrigens, um auch etwas zur Kritik
zu sagen, nicht sicher, ob nicht Vigener in dem gewiß
löblichen Bestreben, Döllinger nicht zu früh von der
„Gemeinschaft der theologischen Verteidiger der römisch
-katholischen Kirche und Weltanschauung" loszulösen
, die eine oder andere relativ frühe Äußerung
beginnenden Umschwungs unterschätzt. So gedenkt er
z. B. nicht der m. M. n. als symptomatisch besonders
beachtenswerten Rede Döllingers in der Versammlung
des katholischen Vereins zu Linz 1850 (kleinere Schriften
105—116), in der man die in der berühmten Abhandlung
über die Speiersche Seminarfrage von 1865 dargelegte
Auffassung des Ultramontanismus schon deutlich vorklingen
hört. Sicher ist mir dennoch, daß Vigeners
Bild vom frühen Döllinger in seiner eindrucksvollen
Schärfe eine willkommene Ergänzung zu Friedrichs breiter
, aber nicht so deutlich umrissener, wohl auch zu sehr
vom Standpunkt des Altkatholiken entworfener Schilderung
bleiben wird. Es war eine glückliche Fügung, die
es ihm gestattete, seine Arbeit bis an die Zeit heranzuführen
, über die Neues zu sagen vielleicht auch ihm nicht
beschieden gewesen wäre. Fehlt hier — wohl auch in der
Form — die letzte Rundung, so sind wir doch mit der
um die Herausgabe treu besorgten Gattin dem Verleger
dankbar, daß er uns mit den beiden anderen auch dies
dritte Kabinetstück historiographischer Einfühlungskunst
nicht vorenthalten hat.

Gießen. _________ O. Krüger.