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Ausgabe:

1928

Spalte:

69-70

Autor/Hrsg.:

Soden, Hans Freiherr von

Titel/Untertitel:

Erlösung ohne Religion - durch Wissenschaft, Kunst und Sozialgestaltung? 1928

Rezensent:

Winkler, Robert

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 3.

70

nen Menschen und der einzelnen Tat (69, 82). Das ist
gewiß berechtigt. Wenn nur die damit geforderte
Psychologie des Bösen nicht ausgerechnet den bösen
Willen forterklärte! Als Gründe, warum man Unrecht
tut, zählt Kap. IX auf: Mangel an Erfahrung,
Unwissenheit, Mangel an Selbstkontrolle, physische und
soziale Bedingungen — das soll die Wahrheit in dem
Gedanken der Erbsünde sein!! (84, 87). Wo bleibt der
böse Wille selber? Er ist garnicht da. Wird hier die
Achtsamkeit auf die physischen und sozialen Bedingungen
nicht heillos teuer bezahlt? Wie seltsam nimmt sich
in diesem Zusammenhange der Hinweis auf Paulus,
Augustinus, Weslev als Zeugen für die menschliche
Sündhaftigkeit aus! Gewiß, der Verf. gibt der christlichen
Predigt mit ihrer Betonung der Sünde recht
(88), er spricht von der Fleischeslust und dem Betrüge
des Reichtums als „wirklichen Hindernissen für ein
christliches Leben" (88) — aber die gottbezogene
Tiefe der Sünde und das uns allen gemeinsame Verhängnis
des servum arbitrium werden nicht erwähnt.
Dann kann man sich nicht wundern, wenn auch die
Lehre von der rettenden Gnade aus dem „Reiche des
Mysteriums" (89) herausgeholt wird: die Erlösung besteht
in ganz konkreter Beseitigung jener vorhin aufgezählten
Ursachen für das Unrechttun der Menschen.
Da diese Ursachen gutenteils in natürlichen und sozialen
Verhältnissen gefunden wurden, so ist die Erlösung ganz
real für diese Verhältnisse zu verkündigen, „als die
frohe Botschaft der Befreiung von sehr realen Übeln
durch sehr bestimmte Mittel der Zueignung der rettenden
Macht Gottes". Damit stehen wir dann bei dem
„gospel of good health", dem „social gospel", der
„Verbreiterung" der Heilsbotschaft zu einem Sinne, daß
sie alle menschlichen Erfahrungen betrifft (189). Wir
achten diese Gedanken nicht gering. Aber ist das alles,
was in der Grundlegung der Ethik von der Erlösung zu
sagen ist? Nichts davon, daß der Christ gerade
von der Vergebung lebt! Wohl weiß der Verf. von
der „sittlichen Macht des christlichen Glaubens" zu reden
. Aber wenn er Luthers Verbindung der Ethik mit
der Rechtfertigung nicht als allgemeingiltig gelten
läßt (94), sondern sie nur als einen neben mehreren
„christlichen Antrieben" zum Guten behandelt, —
ist da das Böse und die Erlösung von ihm wirklich verstanden
? Die Vielheit der angeführten Motive verhüllt,
daß das Christenleben einen einzigen Grund hat: die
Rechtfertigung. Die praktische Psychologie hat die
Theologie verdrängt. Und bedeutete das wirklich, wie
der Verf. meint, daß die Abstraktion durch Konkretheit,
die Spekulation durch Realismus ersetzt wäre? Wir
fürchten, daß dieser Realismus an der echten Wirklichkeit
zwischen Gott und dem Menschen vorbeigeht.
Wenn man schon Psychologie der Sünde und der Erlösung
treiben will, dann muß es in ganz anderer Tiefe
geschehen. Dann müßte der Verfasser vor allem
Luthers Theologie ernstlicher auswerten als er tut.
Erlangen. P. Althaiis.

v. Soden, prof. d. Frhr.: Erlösung ohne Religion — durch
Wissenschaft, Kunst und Sozialgestaltung? Detmold: Naturwissenschaftlicher
Verlag. (32 S.) kl. 8". RM -45.
Das unter den Auspizien des Keplerbundes erschienene Büchlein
ist die gekürzte Wiedergabe eines Vortrags, der in gutem Sinn populär
die Spannungen zwischen Religion einerseits, Wissenschaft, Kunst
und Recht (Soz.ialgcstaltung) andererseits erörtert. Es gipfelt in dem
Aufweis, daß das in Wissenschaft, Kunst und Recht sich auswirkende
Vollendungsstreben des Menschen sein Ziel nicht erreicht. Alles
Wissen bleibt relativ und gibt gerade auf Fragen wie sie „der von
Dunkel und Not bedrückte Mensch" stellt, keine befriedigende Antwort
, alle Kunst ist ein an der Wirklichkeit vorbeisehendes Spiel und
wirft den Menschen auf sich selbst zurück anstatt ihn von sich zu
befreien, in allem Recht ist infolge der ihm notwendig eignenden
schematischen Verallgemeinerung ein Bodensatz von Unrecht und sein
Zwangscharakter läßt ein Befreiungsgefühl nicht aufkommen. „So
stehen wir denn mit unserer gesamten Kultur, wie sie sich als Wissenschaft
, Kunst und Recht der Natur entgegensetzt, dem eigentlichen
Übel, von dem wir Erlösung suchen, machtlos gegenüber" (S. 23).

Erlösung bringt nur Oott, der sich weder durchschauen (Wissenschaft
) noch nachbilden (Kunst) noch in Regeln binden läßt (Recht).
Das Erlösungsstreben des Menschen aus dem Eigenen, wie es sich
in Wissenschaft, Kunst und Sozialgestaltung entfaltet, muß zerbrechen
, wenn er wirkliche Erlösung finden will.

Heidelberg. Robert Win kl er.

Das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten. E. Einderholm:

Neues Evangelienbuch, deutsch von Th. Reissinger, in 2. Aufl.
venn. u. Überarb. mit W. Knevels u. G. Mensching von
Rudolf Otto. Martin Rade gewidmet zum 70. Geburtstag. Gotha:
L. Klotz 1927. (XXVI, 377 S.) 8". geb. RM 10-.

Unter der Hand D. Rudolf Ottos und seiner Mitarbeiter
Reissinger, Mensching und Knevels, ist aus dem kleinen
L i n d e rh o 1 m sehen Neuen Evangelienbuch ein stattlicher Band geworden
: fast alle Lesungen sind ausgedruckt und, wie auch die Gebete
, außerordentlich vermehrt, eine ganze Reihe neuer Entwürfe ist
hinzugekommen, eine Fülle neuer Gedanken berücksichtigt. „Die
Grundzüge des L.schen Entwurfes sind festgehalten, aber ergänzt und
in eine Form eingeordnet, die sich enger an unsre eigenen Gewohnheiten
anschließt und zugleich versucht, die einzelnen Abschnitte der
Kirchenzeit plastischer und bildhafter zu gestalten." Die Vielseitigkeit
und der innere Reichtum christlichen und kirchlichen Glaubens
und Lebens kommen unvergleichlich umfassender zur Geltung (zumal
die etwas einseitig intellektuelle und „liberale" Einstellung L.'s
überboten ist). Die unerschöpfliche Bibel hat eine überraschende
Zahl neuer, oft höchst eindrucksvoller, unter glückliche Stichworte
gestellter Lesungen hergegeben. Eine große Zahl Gebete, gerade unter
den kurzen Kollekten, sind in Form und Ton rechte und zugleich
schöne Gebete. Auch wer Ottos — übrigens gegen die 1. A. ziemlich
zurückgestellte — Reformgedanken nicht teilt (wie den Wechsel
zwischen „Prediger" und „Helfer" bei Lesungen und Gebeten, das
Chorbeten), wird in dem Buch sehr viel Anregung und willkommenen
Stoff finden und es ohne viel Schwierigkeit benutzen können.

Freilich darf der aufrichtige Dank für das hier Gebotene eine
Reihe mehr oder weniger ernstlicher Bedenken nicht zurückhalten.
So ist der (jetzt erfreulicherweise deutsche) Druck noch immer
wesentlich Colonel (das zuerst stärker einsetzende Corpus hört nach
dem 1. Drittel fast ganz auf): viel zu klein für dämmrige Räume;
freilich würde Corpus mehrere Bände erfordern. In der Ausführung
hat eine neue Auflage nicht wenige Flüchtigkeiten zu beseitigen.
Sie muß auch dafür sorgen, daß die Lesungen nicht einfach aus dem
biblischen Zusammenhang ohne jede Zubereitung herausgeschnitten
und daß sie, zumal die Anfänge, richtig vermittelt werden, daß bei
Zusammenstellung verschiedener Redestücke auch der Redende und
der Angeredete jeweils kenntlich wird usw. Sie muß vor allem das
Deutsch der Gebete nach Sprache und Stil weithin einer ernstlichen
Prüfung unterziehen. Ich habe in meiner Besprechung der 1. A. in
Smends Monatsschrift (1924, 68—74) ausführlich davon gehandelt
Leider bietet auch das neue Buch nur zu zahlreiche (vielfach dieselben
) Proben davon, wie seit dem Krieg der Sinn abgestumpft
ist für das, was unsre Sprache erlaubt und was sie ablehnt. Ein
Buch für den Gottesdienst aber hat in diesen Dingen höchste Zucht
und peinlichste Sorgfalt zu üben. Dabei ist die Sprache der Gebete
manchmal akademisch-abstrakt, auch wieder trivial. Der Satzbau
weist nicht selten ein Monstrum von Abhängigkeiten auf, der „Rhythmus
" ist vielfach nur durch künstliche Wortbildung und -Stellung erzwungen
, kein sprachgemäß natürlich fließender, wie bei Luther.
Die zahlreichen Sätze, die mit „und" anfangen, verraten modern-
journalistischen Einfluß. Inhaltlich überwiegt in vielen Gebeten die
Reflexion, das andächtige Räsonnement: es wird Gott allerlei über ihn
und über uns vorgetragen, das sich oft seltsam anhört, ja das so verabscheute
Moralisieren und Rationalisieren blüht nur zu reich. Auf
die sachlichen Bedenken gegen viele Bitten, die ich schon a.a.O.
geäußert, gehe ich hier nicht mehr ein. Wohl sind die Gebete von
mancherlei Unvollkommenheiten und Anstößen entlastet, auch z. T.
umgearbeitet und verkürzt, aber die genannten Anstände bestehen
weiter. Was die Lesungen angeht, so werden, so geistvoll gerade die
neuen ausgewählt sind, viele nicht nur dem schlichten Hörer unverständlich
bleiben, wenn nicht die ausdrückliche Deutung hinzugefügt
wird, die Otto doch sehr zurückgestellt wünscht. Sie sind oft geistreiche
Predigttexte, keine Lesungen. Überhaupt stehen neben prächtig
ausgestalteten Themen (das christliche Haus u. a.) andre, die so
theologisch, ja rcligionswisscnschaftlich zugespitzt sind, daß man sich
fragt: geht es um Gemeiudegottesdienst oder um Vortrag vor Gebildeten
oder gar wissenschaftliche Belehrung? So 23. n. Trin.:
von der geheimnisvollen Uberwelt und vom überweltlichen Geheimnis;
Offcnb. 12, 7 ff: der Mythus als notwendiger Ausdruck eines unauflöslichen
Mysteriums; der Judasbrief als Beispiel für jüdische Volksreligion
und Volkslegende im Dienste geistiger Ideen. Wo bleibt da
die Dorf- und die übliche Stadtgemeinde? Endlich noch eine Bemerkung
zu der antiphonischen Gliederung: mit Recht hat sie
Stumpf in seinem Büchlein: Liturgische Wechselgespräche (Göttingen,
Vandcnhoeck & Ruprecht) als rein mechanisch kritisiert und für den