Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1928 Nr. 26

Spalte:

613-615

Autor/Hrsg.:

Pauck, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Reich Gottes auf Erden. Utopie und Wirklichkeit. Eine Untersuchung zu Butzers “De Regno Christi” u. zur engl. Staatskirche d. 16. Jahrh 1928

Rezensent:

Wolf, Ernst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

613

Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 26.

614

gehende Vorschriften. Auch über die persönlichen
Schicksale der mit Namen angeführten Pfarrer werden
wir gelegentlich unterrichtet; wir erfahren, wo sie studiert
haben, auch daß dieser oder jener die Konkordien-
formel noch nicht unterschrieben hätte, es aber in Kürze
tun wollte. Die ins Einzelne gehenden Angaben über
die Einnahmen gestatten uns interessante Einblicke in
das wirtschaftliche Leben jener Zeit und der dortigen
Gegend. Dann kann das Heft geradezu eine Fundgrube
für den Familienforscher sein; denn alle diejenigen, die
zu irgendwelchen Leistungen an die Kirche verpflichtet
waren, sind namentlich aufgeführt, und manch ein
Stammbaum wird sich auf diese Weise vervollkommnen
lassen. Auch für den Sprachforscher wird diese Veröffentlichung
nicht ohne Wert sein; die Berichte sind
übrigens in hochdeutscher Sprache abgefaßt; das in der
dortigen Gegend gesprochene Niederdeutsche macht sich
kaum bemerkbar; nur bei den Personennamen (Korte-
becke, Ridder, Kock, Schulte, Schmedt u. a.); dann
Klocken, und auch sonst gelegentlich. — Alles in allem
wird nicht nur die Heimatgeschichte wertvolles Material
in dem vorliegenden Hefte finden, auch der Kirchenhistoriker
, der Kulturhistoriker, Familienforscher und
andere werden bei eingehenden Forschungen an dieser
Veröffentlichung nicht vorübergehen können, so daß
diese anscheinend zunächst doch rein lokalgeschichtliche
Veröffentlichung auch für die allgemeine deutsche Geschichte
von großer Bedeutung sein dufte.

Bern bürg. H. Peper.

Pauck, Prof. Lic. theol. Wilhelm: Das Reich Gottes auf Erden.

Utopie und Wirklichkeit. Eine Uiitersuchg. zu Butzers ,,De Regno
Christi" u. zur engl. Staatskirche d. 10. Jahrh. Berlin: W. deGruyter
& Co. 1928. (III, 208 S.) gr. S". Arbeiten zur Kirchengesch., 10.

RM 10—.

Utopie, das ist die Absicht auf ein irdisches Reich
Gottes, vergegenwärtigt durch die zielsetzenden Gedanken
Bucers über das regntnn Christi — und Wirklichkeit
, das meint zuletzt den angelsächsischen Imperialismus
: um diese beiden Größen geht es in der gehaltvollen
und in gewissem Sinne durch ihren Gegenstand
unsere Zeit ganz unmittelbar berührenden Untersuchung,
die mit der allgemeinen Einsicht endigt: „Auf Erden
kann das Reich Gottes nicht verwirklicht weiden", denn
„ein diesseitiger Reichs-üottes-Begriff will ... mehr die
Verherrlichung des Menschen als die Gottes" (204).
Die Gegenüberstellung bedingt den Aufbau des Buches
— die Gedanken Bucers (I. II) und Religion und Politik
im elisabethanischen England —, wendet der Wirklichkeit
, also dem zweiten Teil, das Hauptaugenmerk zu
und mag ebendadurch auch erklären, daß bei der (übrigens
nicht immer restlos klaren) Darstellung von Bucers
Staatsideal die unbeschadet der großen Selbständigkeit
Bucers doch zu erhebende Frage nach der Herkunft
einzelner Anschauungen grundsätzlicher Art fast gänzlich
unterblieben ist. Zumindest hätte ein Vergleich mit
scholastisch-aristotelischen Konstruktionen, etwa dem einem
einstigen Dominikaner naheliegenden klassischen
Werk (De reginüne prineipum) des Thomas, noch manchen
brauchbaren Gesichtspunkt erbracht.

Pauck beginnt also mit einer Darstellung der in De
regne Christi und in anderen Schriften uns vorliegenden,
durch die Richtpunkte Geist und Zucht (auf dem Untergrund
des Prädestinationsgedankens) und einen weiten,
patristisch-humanistischen Biblizismus bestimmten Anschauungen
vom Reich Gottes, von Kirche und Staat bei
Bucer (Vf. zieht mit Unrecht die Namenschreibung
Butzer vor). Das deutlich gegen Rom gewendete Ideal
Bucers ist der sittlich gegründete, verchristlichte (vita |
deiformis; Obrigkeit als „Götter und Christi vor allen
anderen Menschen") und eben darum mächtige Wohlfahrtsstaat
, der die salus, d. h. sowohl das jenseitige
Heil als auch das irdische Wohlergehen (bene beateque)
seiner Bürger zur Aufgabe hat und sich durch die religiöse
Zielsetzung und die Vorordnung der Kirche unterscheidet
von dem in vielen Einzelheiten ähnlichen Ideal
der auch Bucer wahrscheinlich bekannten Utopia des
Th. More. In auffallendem Maße entsprechen die Ein-
zclforderungen Bucers dabei den wirklichen Verhältnissen
und politischen Zielen des damaligen England.
Derartige Einzelheiten und vor allem die Billigung der
schon vorhandenen Verknüpfung von Staat und Kirche

— Bucer hat als erster „dem englischen Supremat eine
protestantische Theorie geschaffen" — werden wirksam,
während die eigentlich christliche Politik, für die Bucer
wirbt, die Herstellung der christlichen Liebesgemein-
schaft in einem wirklichen Staat, abgesehen von den
auch hier anknüpfenden späteren Bestrebungen der Puritaner
ohne Erfolg bleibt. Sie ist in ihrer Kraft schon
dadurch gebrochen, daß sie von Anfang an zum rein
Religiösen doch auch das Rational-Utilitaristische gesetzt
hatte. Zudem hat Bucer das nationale Volks- und
Staatsbewußtsein außer Acht gelassen.

Wie das Rational-Utilitaristische und das Nationale
allein die Führung an die Wirklichkeit übernehmen,
das Religiöse aber teils als Verbrämung, teils als zuweilen
erforderliche Sinndeutung und treibende Ideologie
in Dienst genominen wird, zeigt die Behandlung des
Verhältnisses von Politik und Religion im elisabethanischen
England. Eine Linie führt von der Staatskirchengründung
Heinrich VI IL, dessen „Reformation"

— durch rein persönliche Motive veranlaßt — selbst als
Schlußstein der nationalen Unabhängigkeitsbewegung
des englischen Volkes und der Krone beurteilt wird,
über Eduard, bei dem echt religiöse Antriebe, etwa unter
dem Einfluß Bucers sich kaum feststellen lassen, zu
Elisabeth. Die Staatskirche, in der jetzt politisch (Spanien
!) gebotenen Lehrform des Protestantismus bleibt
das politische Werkzeug, das sie von Anfang an war,
ein wirkungskräftiges Mittel zum Aufbau des Staates,
zur Stützung des Absolutismus und zur Ausgestaltung
der tragenden nationalen Einheit; Katholizismus und
Puritanertum müssen daher gleicherweise bekämpft werden
. Die Formel to seak God's honour and glory zur
Umschreibung der ersten Aufgabe der Königin deutet
dabei auf jenen religiösen Rest in der Politik. Die
Theologen der ecclesia anglicana, J e w e 1 (Tradition
und Antiquität der engl. Staatskirche), Whitgift (Einschränkung
der Schriftautorität zu gunsten des law of
nature in der Kirchenverfassung, Preisgabe der Kirche
an den Staat) und Hook er (ausgebildete Theorie der
englischen Nationalkirche, restlose Herrschaft des Gesetz
es, Gesellschaftsvertrag) passen sich mehr oder minder
leicht der staatlichen Kirchenpolitik an und lassen
nichts von einem Fortwirken des Bucerschen ideals erkennen
, trotz mancher Berufung auf ihn. Das erscheint
fast selbstverständlich, da, was Pauck hätte stärker
hervorheben können, der durchaus katholische Grundzug
der Verfassung der Ecclesia anglicana sich von vornherein
auch gegen Bucers, von den puritanischen immerhin
noch entfernten Forderungen sträubt.

Der Schlußabschnitt sucht die Ausbildung des religiös
-nationalen Selbstbewußtseins in England aufzuzeigen
, die Ausgestaltung eines eigentümlichen anspruchsvollen
(The lvuing God is only the Englysh
God, John Lyly, Umdeutung des AT. auf das englische
Volk) Erwählungsglaubens und des dazu gehörigen Sen-
dungsbewußtseins, und zwar schon in der elisabethanischen
Staatskirche. Das Ergebnis ist
bemerkenswert: Die Wurzeln des religiösen
britischen Imperialismus liegen in der
Staatskirche der elisabethanischen Zeit;
die wirtschaftliche Eigenart dieses Imperialismus allerdings
bildet dann auf der Grundlage des durch die
Staatskirche mit geschaffenen starken Nationalgefühls
der Puritanismus aus, der viele Gedanken Bucers verwirklicht
.

Die vorliegende Arbeit erweist sich also zugleich
auch gegenüber den nicht immer mit der Zurückhaltung
eines M. Weber aufgeführten Konstruktionen einer ein-