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Ausgabe:

1928 Nr. 22

Spalte:

512-516

Autor/Hrsg.:

Lohmeyer, Ernst

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Philipper, erklärt 1928

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 22.

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bisher immer falsch gedeutet worden. Will man sie ver- i Michael is, Priv.-Doz. Lic. W ilhelm: Täufer, Jesus, Urgemelnde.
stehen dann darf man nicht voreingenommen sein und ' Die Predigt vom Reiche Gottes vor und nach Pfingsten. Gütersloh:
muß sich an die richtigen Quellen halten. Zu diesen ge- C Bertelsmann 1028. (142 s.) gr. 8». = Neutestamentliche For-
hört das N.T. nicht, denn seine Autoren sind den Phari- scl,"nce"; "< >■ , 4-50'
säern abgeneigt. Jedoch auch aus Josephus und über- ! Die Arbeit von Michaelis will an dem Begriff des
haupt den jüdisch-griechischen Schriften jener Zeit ist I Reiches Gottes die geschichtliche Stellung und sachliche
wenig zu lernen. Wirklich brauchbaren Aufschluß gibt ! Bedeutung der im Titel vereinten drei Größen klären,
uns lediglich die rabbinische Literatur; denn nur hier I Sie 1S* sich vielleicht nicht ganz bewußt, mit solcher
blicken wir dem Pharisäismus ins Herz. Wer sie um ! Fragestellung an letzte historische und sachliche ProAuskunft
ersucht, wird erfahren, daß die Pharisäer bleme der Theologie zu rühren; aber auch sie will doch
nichts anderes wollten, als völlig im Dienste Gottes i eine „historische Gesamtkonstruktion" versuchen. Die
aufgehen. Sie waren keine apokalyptischen Schwärmer ' Arbeit weiß sich als „Skizze und Entwurf",
noch blutgierige Eiferer. Sie lehnten den Krieg ab, j Dem Taufer gilt ihr erster Abschnitt (S. 9—47).
und waren nicht Schuld an Jesu Tod, der vielmehr den Seine Predigt und seine Taufe begründen sich in der
Sadduzäern zur Last fällt (S. 253). Die Christen, die eschatologischen Nahe des Endgerichtes, seine Sen-
bei der Beurteilung der Pharisäer nicht darüber hinweg- ! dun8 dem Bewußtsein, „messianischer Vorläufer" zu
kommen, daß diese den Herrn gekreuzigt haben, sind sein- Diesem immerhin bekannten und wirklich skizzen-
von vornherein falsch eingestellt. Aber auch die christ- : naften Ergebnis fugt ein umständlicher Beweis eine
liehen Forscher, die wie Wellhausen, Schürer, Bousset, neue Note ein, daß das Wort von der Feuer- und
statt gründlich den Talmud zu studieren, es vorziehen, , Geisttaufe „echt" sei; er mundet in den etwas übersieh
an die ihnen leichter zugänglichen griechischen raschenden Schluß, es sei sowohl als Täufer- wie als
Schriften zu halten, können keinen Erfolg haben. J. Z. ' Jesuswort „echt".

Lauterbach, Montefiore und Abelson, werden ihnen mit i Jesu Predigt ruht auf der „des Täufers"; davon

ihren „ausgezeichneten", „wunderbaren" und „meister- i spricht der mittlere und größere Teil (S. 48—112). Sie

haften" Veröffentlichungen stets den Rang ablaufen, i ist auch eschatologisch, und das bedeutet dem Verfasser

Das Mißverständnis des Pharisäertums ist so alt j immer, daß man nicht von einer Gegenwärtigkeit, son-
wie das Christentum selbst. Schon Jesus war mit der dem nur von einer nahen Zukünftigkeit des Reiches
halachischen Tradition, die er angriff, gar nicht ver- Gottes reden darf. Wie aber ist nun das „Sendungstraut
(S. 247). Und der Renegat Paulus hat sie ein- bewußtsein" Jesu begründet.'' Es ist „primär" als Pa-
fach nicht mehr in ihrem Wert anerkennen wollen. rusiegewißheit zu bestimmen, sekundär als Todesge-
Immer sehen die Christen auch in der Folgezeit nur die wißheit. Und das tertiäre Moment der Auferstehungs-
Außenseite. Niemand aber achtet auf das letzte Motiv. ! gewißheit ist wohl mit dem sekundären gesetzt, aber
Damit ist jede Möglichkeit eines wirklichen Verständ- wiederum nur als ein Teil der primären Bedeutung der
nisses ausgeschlossen. Parusiegewißheit. Nur sie reicht über den Tod Jesu hin-

Ich kann H. hier Zugeständnisse machen. Hüte ich aus. mchts weiter, kein letztes Mahl, keine Stiftung von
mich doch schon lange davor, die Pharisäer nur mit Gemeinde und Sakrament, keine Verheißung von Erden
Augen Jesu und des Paulus zu betrachten. Um so , scheinungen und Geistverleihung. Aber wie kam es dann
mehr wundert mich aber gerade deshalb eine Haltung, nach dem Tode Jesu zur Entstehung der Urgemeinde?
die der Selbstbeurteilung der Pharisäer kritiklos zu- ! Die Antwort gibt der dritte Teil ebenso kurz wie
stimmt. Sind sie denn in dieser Sache nicht Partei? i überraschend (S. 113—140): Gott gab statt der cr-
Und das N.T. wie Josephus haben vor der Masse der warteten Parusie die Erscheinungen des Auferstandenen,
rabbinischen Literatur jedenfalls das voraus, daß ihre i er äderte die „Situation". „Die Einheitlichkeit der es-
hierhergehörigen Aussagen der Entstehungszeit des ! chatologischen Haltung Jesu ward aufgehoben und
Pharisäertums näher liegen. Ich vermag auch nicht zu- : durchbrochen"; eine Spannung entstand zwischen „Reich
zugeben, daß die von H. herangezogenen rabbinischen und Oeist", „soziologische Formen" konnten sich bil-
Bekundungen den Nachteil größerer Jugend durch sach- ; de", die Nachfolge Jesu zur Gemeinschaft mit dem erließe
Vorzüge wettmachen. Was S. 32 ff. über die Ent- ' höhten Herrn „organisch sich entwickeln". Das alles
stehung des Namens der Pharisäer und über den Ur- I 1S* „von Gott gewollt und gefordert", weshalb es un-
sprung und Sinn ihres Gegensatzes zu den Sadduzäern i möglich ist, den Ubergang zum Chnstuskult zu rekon-
verlautet, ist wahrhaftig weder quellenmäßig sicherer struieren: hier ist „Mysterium".

unterbaut noch inhaltlich wahrscheinlicher als die klassi- I Niemand wird solcher Losung etwas erwidern
sehen Ausführungen Wellhausens vom Jahre 1874. wollen, wenn sie nichts anderes geben will als die
Wer die geschichtlichen Erscheinungen auf letzte j gmubige Betrachtung einer andächtigen Evangelien-
Wurzeln zurückführt, kann schließlich jede Form reli- 'ekture; hier aber soll sie das Ziel und Ende einer
giösen Lebens rechtfertigen. Denn das Verlangen, Gott „historischen Gesamtkonstruktion" sein. Die Tendenz
zu gefallen, wird doch wohl irgendwie überall im ! auf solchen Gesamtentwurf hat sich leider gerächt
Hintergrund stehen. Mir scheint, daß ungemein viel auf ! und nur eine bedruckende Unklarheit über methodische
die Art und Weise ankommt, in der sich der Drang nach | und sachliche Grundfragen enthüllt. Kennt der Begriff
Gott äußert. Um sie in die Höhe zu treiben, darf man ! der Eschatologie nur die Alternative künftig oder
aber nicht auswählend verfahren. H. stellt gar nicht '< gegenwartig? Sind Erscheinungen des Auferstandenen
das gesamte Pharisäertum dar. Indem er den zelotischen Geschehnisse nach Art eines Gewitters? Aus welchen
Flügel abtrennt, alle ihm nicht genehmen apokalvp- i methodischen Gründen wird es gefordert, die „Situ-
tischen Strebungen tilgt, über die Kleinlichkeit der ge- i atlün nach Ostern und Pfingsten" von der „vor
setzlichen Tüftelei hinwegsieht und von den Versuchen, Ostern" grundsätzlich zu unterscheiden? An der UnGottes
Forderungen mit menschlicher Schwäche in Einklang
zu bringen, wie über noch manches andere,
schweigt, gewinnt er ein Idealbild, entfernt sich aber
eben dadurch von der Wirklichkeit. Wir erhalten nicht
eine Darstellung des Werdens und Wachsens des Pharisäismus
, welche die Aussagen der Quellen in ihrer
zeitlichen, örtlichen und sonstigen Bedingtheit würdigt
und kritisch verwertet, sondern wir müssen ein Bekenntnis
entgegennehmen, das uns für das, was uns vorenthalten
bleibt, nicht entschädigt.
Göttinnen. Waller Bauer.

klarheit über solche und andere Fragen scheitert auch
der Versuch, diesen Entwurf einer Gesamtkonstruktion
historisch-kritisch zu diskutieren.

Breslau. Ernst I.ohmeyer.

Lohmeyer, Ernst: Der Brief an die Philipper, erklärt.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1928. (192 S.) gr. 8°. —
Kritisch-exeget. Kommentar über das N.T., 9. Abtig., 1. Hälfte,
8. Aufl. RM 9-.

Die Erneuerung des Haupt'schen Kommentars zu
den Gefangenschaftsbriefen (1902), wohl des wertvollsten
Kommentars der älteren Reihe des Meyer'schen