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Ausgabe:

1928 Nr. 18

Spalte:

430-432

Autor/Hrsg.:

Grau, Kurt Joachim

Titel/Untertitel:

Eitelkeit und Schamgefühl. Eine sozial- und charakterpsychologische Studie 1928

Rezensent:

Steinmann, Theophil

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 18.

430

„daß sie an dieser Stelle, wo der Mensch ein neues Wort
vernimmt", das Wort nämlich, das Jesus Christus verkündigt
hat, „erfahrungsbereit sein muß" (31).

So also ist es, daß sich eine Berührung zwischen
der Philosophie und Religion ergibt, wobei eben durch
die volle Entfaltung der Philosophie vermieden wird,
daß diese „mit ihrer Erkenntniswahrheit von vorne
herein mit der Glaubenswahrheit in einen für jene" —
die Erkenntniswahrheit — „notwendigerweise hoffnungslosen
Konflikt" gerät, vielmehr grade die Philosophie
„dem Glauben einen bestimmten Dienst zu leisten
vermag, den Niemand sonst dem Glauben leisten kann"
(70), nämlich eben das Hineinführen in die Situation
des vollen Ernstes wirklicher Frage. Dabei stand von
vorne herein fest, daß „alle Besserungsbedürftigkeit nur
auf Seiten der Philosophie zu finden sein werde" (69).
Denn die Religion spricht „auf Grund einer absoluten
und unbedingten Ermächtigung", im besondern die
christliche — um die alleine es tatsächlich geht — „auf
Grund einer konkreten geschichtlichen Offenbarung, die
ihre Prediger einfach verkünden und die ihre Gläubigen
einfach hören. Diese Verkündigung ist, so wie sie erfolgt
, Autorität, und der Gläubige gehorcht ihr, so wie
er sie vernimmt" „unter Verzicht auf die Geltendmachung
irgendwelcher Ansprüche, die aus der andern,
nämlich philosophischen Stellung und Beurteilung der
Wirklichkeit sich ergeben könnten" (3). Das Wort der
Religion „ist nicht mehr Objekt der philosophischen
Auseinandersetzung", sondern „das Wort Gottes, dem
gegenüber den Menschen keine Möglichkeiten mehr in
die Hand gegeben sind, weder zu erkennen, noch zu
handeln, noch irgend sonst etwas; sondern das die
Menschen mit ihrem Tun in seine Zucht nimmt und den
Gehorsam des Glaubens wirkt oder nicht wirkt" (4):
die „eindeutige Entscheidung", vor die wir uns letztlich
gestellt sehen.

Was aber besagt dieses Wort? „Durch die Anrede
Gottes an den Menschen ist offenbar geworden", „daß
es nicht auf das Ich und die Idee des Menschen, sondern
auf das Ich und den Nächsten ankommt" (33). Die
„große Umwendung, die durch die christliche Verkündigung
sich vollzogen hat," ist, „daß die Geschichte mit
ihren Aufgaben nur das von Gott gesetzte Feld ist, auf
dem Menschen einander sich verantworten sollen" (34).
Das ist die „neue Entscheidung", die, wo das Wort vernommen
wird, „über das wirkliche Leben des Menschen
gekommen ist" (33), die „Achse des geschichtlichen
Lebens", der gegenüber „keine Frage mehr gilt"
(33). Also eine Umzeichnung des Wortes in das Wachrufen
einer tiefer innerlich gefaßten sozialen Verantwortlichkeit
vom konkreten Ich zum konkreten Du?
Wir täten K. wohl Unrecht, wenn wir ihn dahin verstehen
wollten. Sagt er doch selbst: „Das ist nicht der
Inhalt der christlichen Verkündigung selbst, aber es ist
etwas, was da, wo das Wort vernommen ist, sich von
selbst versteht" (33). Oder sollte seine Meinung die
sein, daß dies in jener Verkündigung das eigentliche
Wort sei? Es könnte doch auch sein, daß hiermit
lediglich so etwas wie der Ansatzpunkt des Wortes bezeichnet
werden soll. Jedenfalls bemüht sich der Verf.
nicht in demselben Maße um eine klare und definitive
Herausarbeitung des Wortes, wie er sich um eine Durcharbeitung
der andern Seite bemüht. Er sagt es auch
selbst, daß es ihm vornehmlich darum zu tun sei. Oder
verbietet sich ihm am Ende eine entsprechende Durcharbeitung
des Wortes, sofern dies Wort „nicht mehr
Objekt der philosophischen Auseinandersetzung ist"?
Wie aber, wenn dieses Wort auch darin ein wirklich geschichtliches
wäre, daß alle christliche Verkündigung,
durch die es ergeht, zugleich ein menschlich-geschichtliches
Gepräge trägt? Soweit es diesen Charakter trägt,
bestünde doch auch ihm gegenüber die rechte philosophische
Besinnung zu Recht; sie müßte sogar grade
vom Theologen gefordert werden. Dann aber hätte K.
das lösende Wort über Philosophie und Christentum

nicht gesprochen. Und die lebendige Spannung fort-
j gehender ernstester Entscheidungen träte an die Stelle
der summarischen Lösung, die hier zu geben versucht
wird.

Herrnhut.__ Th. Steinmann.

Grau, Kurt Joachim: Eitelkeit und Schamgefühl. Eine sozial-
U. charakterpsychologische Studie. Leipzig: F. Meiner 1928. (VIII,
149 S.) gr. 8°. RM 5 -; geb. 7-.

Die vorliegende Studie ist eine vorläufige Sonderveröffentlichung
der beiden am weitest gediehenen Kapitel
einer umfassend angelegten Charakterpsvchologie
[ des Verf.s. Die beiden „ausgesprochen tvpischen Äußerungsweisen
des Selbstgefühls", Eitelkeit und Schamgefühl
, sollen als eigentümliche sozialpsychische Ge-
i bilde in ihrem Typischen klar erfaßt sowie in der ganzen
Mannigfaltigkeit ihrer konkreten Gestaltung entwickelt
, zugleich in ihrer Bedeutung und Wirkung als
charakterbildende Faktoren zur Darstellung gebracht
| werden. Wie sehr es der Gegenstand mit sich bringt,
daß der Verf. immer wieder einmal moralisiert, so beabsichtigt
er doch nicht eine moralphilosophische Untersuchung
, sondern lediglich eine psychologische Klarlegung
seelischer Tatbestände. Ein praktisch-pädagogisches
Ziel scheint ihm seine Arbeit aber doch zu besitzen
, wenn anders „nichts so sehr imstande sein
dürfte, Eitelkeit in der Welt zu vermindern oder doch
wenigstens ihre gröbsten, die Gemeinschaft schädigenden
Auswüchse zu beseitigen wie ein intensives Studium
ihrer psychologischen Grundlagen und Erscheinungsweisen
" (VI). —

Eitelkeit und Schamgefühl stehen beide im
Zusammenhang mit dem menschlichen Eigenwertgefühl
. Der Verf. beginnt darum mit einer Analyse
dieses Gefühls, wie es teils der unmittelbare Reflex un-
j seres Icherlebens ist und so abhängig von dem Wirk-
I lichkeitsbild, das wir von uns selbst haben, oder auch
in seinen Schwankungen von unserem eigenen Wunschbild
unser selbst, teils soziologisch bedingt ist und so
, abhängig von dem Bilde unserer Person, das wir bei
[ anderen vermuten. Es folgt eine Neben- resp. Gegen-
I einanderstellung von vier Haupttypen des Selbstgefühls
— wobei auch allerlei Zwischenformen und Varianten
kurze Erwähnung finden—: Stolz, Größenwahn, Eitelkeit
! und Ehrgeiz. Die ersteren beiden werden geschildert als
differente Formen autonomen Eigenwertgefühls; die Ausführung
geht dabei mehr in die Breite, als die Themaeinstellung
auf die Eitelkeit es erfordert. Es ist mehr
eine Gegenüberstellung dieser beiden Typen gegen einander
als eine deutliche Gegenzeichnung zum Typus der
Eitelkeit, der ihnen dann als „die typische Form hetero-
nornen Eigenwertgefühls" (23) gegenübergestellt wird,
in „extremer Typisierung": „Der Eitle ist in seinen
Augen nur das, was er sich in den Augen der andern
erscheint" (24). Den Schluß dieses Abschnittes bildet
| eine nur kurze begriffliche Gegenüberstellung von Eitelkeit
und Ehrgeiz. Grade hier aber wäre m. E. eine wei-
j tere Ausführung am Platze gewesen. Die begriffliche
j Abhebung dieser beiden Typen gegen einander hätte
für die eigentliche Untersuchung ergiebiger gestaltet
! werden können. Dazu hätte der Begriff der Ehre in die
Untersuchung hineinbezogen werden müssen. Denn um
diese geht es doch dem Ehrgeizigen; nicht dagegen um
den äußeren Erfolg rein als solchen.

Ein weiterer, sehr reichhaltiger phänomenologischer
Abschnitt beschäftigt sich mit den mancherlei Erschei-
j nungsformen der Eitelkeit:

Körpereitelkeit mit ihren mancherlei Spielarten und Auswirkun-
j gen unter besonders ausführlicher Berücksichtigung der Erschei-
| nungsformen der sexuellen und erotischen Eitelkeit; gesellschaftliche
Eitelkeit, Berufseitelkeit (des Sportmanns, des Künstlers, des Gelehrten
), politische Eitelkeit bis zu allerlei „deutlich sichtbaren Ab-
! zeichen an der linken Brustseite oder im Knopfloch" (55); nationale
j Differenzierungen der Eitelkeit; ganz kurz auch ihre zeitgeschichtliche
| Differenzierung: „der Barockmensch, der Rokokomensch, der Bie-
! dermeier stellen in der Geschichte der Kunst, der Kleidung der Le-
j bensführung gradezu den Stil der Eitelkeit dar" (5ö).